Krust – The Edge of Everything (Crosstown Rebels)
Krust auf Crosstown Rebels? Was erst mal überraschend und ein wenig schräg wirkt, ist am Ende gar nicht so merkwürdig, denn Damian Lazarus war vor langer Zeit mal Teil des Drum‘n’Bass-Duos PM Scientists. Beinahe ewig ist es inzwischen auch her, dass Krust zuletzt ein Album veröffentlicht hat. Das war 2006. Zwei Jahre später zog sich der Produzent aus Bristol für etliche Jahre ganz aus dem Drum‘n’Bass-Geschäft zurück, um eine Ausbildung in neurolinguistischem Programmieren zu machen und sein Geld mit Coaching zu verdienen. Zuletzt gründete er eine CBD-Öl-Firma und brachte dann und wann mal wieder einen neuen Track heraus. Der 52-jährige Engländer ist inzwischen also völlig raus aus dem aktuellen Geschehen mit seiner Drop-Routine – ein Umstand, den er zu genießen scheint. The Edge of Everything pfeift auf alle Konventionen und ist trotz irgendwie typischer Krust-Beats, die so radikal wie tight sind, eine irre sperrige Angelegenheit. Das Album ist ein SciFi-Epos, wobei der Weltraum hier nichts euphorisierend Weites hat, sondern ein Ort voller Weltraumschrott ist, in dem ungeheure Kräfte wirken. Wenn man als Referenz einen Krust-Klassiker aus den Neunzigerjahren heranziehen will, dann landet man eher bei „Warhead” denn bei „Jazz Note”. Doch letztlich mag sich The Edge of Everything so gar nicht in Drum‘n’Bass-Konventionen einpassen. Die Beats erinnern stellenweise eher an Oneohtrix denn an klassische Muster des Genres. Immer wieder folgt auf beinahe infernalische Lautstärke urplötzlich Stille, aus der dystopische Industrial-Ambient-Sounds emporsteigen, so zum Beispiel auf „Constructive Ambiguity”. Der Opener „Hegel Dialect” wartet gar mit einer furchteinflößenden Kirchenorgel auf. Ein solcher Tracktitel verrät es schon: Mit der Entertainmentbranche will Krust nicht wirklich etwas zu tun haben. Dystopie kommt hier gerne mal Pathos-beladen daher, das trifft sowohl auf die endzeitlichen Basslines zu wie auch auf die Benennung der Tracks oder die ausschweifenden Spoken-Word-Passagen von „Constructive Ambiguity”. Hier kommt der US-Filmregisseur Michael Williams ausgiebig und mit Nachdruck zu Wort. „7 Truths” beginnt als bedrohlich blubbernder Ambient-Mahlstrom, aus dem sich erst ansatzweise housige Beats herausschälen, bis aberwitzig ratternde Hochgeschwindigkeits-Beats das Kommando übernehmen. Am Ende rechnet Krust auf diesem Track mit dem Kolonialismus seines Heimatlandes ab. Doch keine Sorge, ein Stück wie „Keter the Heavenly” sorgt zwischendrin auch mal für Entspannung, bis Krust mit „Space Oddity” und dem Ambient-Trip „Only God Can Tell” zum ganz großen kosmischen Schlag ausholt. The Edge of Everything is eine Platte, die man mit einiger Wahrscheinlichkeit zunächst als unzumutbar empfinden mag. Und wenn man schließlich seine ganz großen Lieblingssounds auf dieser Platte gefunden und ins Herz geschlossen hat, wird sie immer noch Passagen enthalten, die man mit großer Leidenschaft hasst. Alleine deshalb ist das neue Album dieses 52-jährigen Drum’n’Bass-Pioniers aus Bristol ein großer Wurf. Holger Klein
Lindstrøm & Prins Thomas – III (Smalltown Supersound)
Stellt sie euch vor, die beiden, mit Ausblick über den Sund, im Liegestuhl schwitzend, denn mit plus fünf Grad Celsius sind die Temperaturen zu mild für die Jahreszeit. Der eine mag den Eiswürfel seines Tequila Sunrise zerkauen, dem anderen apportiert zum Beispiel ab und zu der Hund ein Stöckchen. Am Ende des Tages schauen Lindstrøm und Prins Thomas nach, was die Maschinen drinnen im Haus so geliefert haben. Bisschen loopen, bisschen feinjustieren, elegant editieren. Wenn die Tracklist steht, stellen sie als letzten großen Akt das eigentlich als „Grand Finale” angelegte Stück an den Anfang. Fertig. Schönes Stück Balearic Prog. Christoph Braun
Map.ache – What Does That Mean (Giegling)
Als Labelbetreiber von Kann Records, Mitglied der Giegling-Crew und Teil des Duos Manamana leistet Jan Barich alias Map.ache viele wertvolle Beiträge im Kosmos der elektronischen Musik. Mit What Does That Mean präsentiert der Leipziger sein insgesamt drittes Album und sein zweites auf Giegling. In 54 Minuten und zwölf Tracks nimmt Map.ache die Hörer*innen mit auf eine wohl geplante Tour durch die Ambient-Musik, mit rhythmischen Ausschlägen hier und da, aber im Ganzen weit weg vom Dancefloor. Die A-Seite beginnt sphärisch, lange Pads dominieren über kaum spürbarer Perkussion. Erst mit dem dritten Track „Ealth” wird es rhythmischer. Dumpfe Gitarren zupfen, weiche Kickdrums drücken, gesampelte Vocals rattern. Die B-Seite zeigt sich am beatlastigsten. Kantige Rhythmen und tropfenartige Melodien verschmelzen zu einer gewissen Tragik. Auf den Seiten C und D verschwindet die Rhythmik dann fast komplett. Viel Reverb und schweifende Töne schaffen atmende Ambient-Balladen. Naturbelassene Geräusche wie Vogelgezwitscher und das Zirpen von Grashüpfern schweben über weichen Sound-Flächen, eine warme, leicht melancholische aber dennoch schöne Stimmung entsteht. Im starken Kontrast dazu steht der Abschlusstrack „Portes” und bildet damit das überraschendste Kapitel des Albums. Wellen, die am Ufer brechen, leiten zu einer nach einem E-Bass klingenden Bassline. Elemente aus vorherigen Tracks wie schwingende Streicher erzeugen ein Gefühl von Leichtigkeit. Darüber legt sich nach ungefähr zwei Minuten ein Beat aus hallenden Hi-Hats und Snaredrums, der eine an den Psychedelic-Rock der 1960er Jahren erinnernde Klangkonstellation kreiert. So erleben wir mit What Does That Mean zwar eine schlüssige, aber auch sehr verhaltene Entwicklung. Das Album lädt mehr zum Ausruhen, Entspannen und Augen schließen ein als zum Tanzen. Jan Goldmann
Monolake – Archaeopteryx (Imbalance Computer Music)
Als Co-Entwickler der wahrscheinlich meistbenutzten Digital Audio Workstation, von Ableton Live, und als Minimal-Dubtechno-Legende Monolake braucht Robert Henke keine Vorstellung. Seine Alben erwecken eine klassische, düstere Techno-Vision zum Leben, in ihrer Komposition und Klanggestaltung definieren sie bis heute den state of the art der elektronischen Musik. Archaeopteryx begibt sich per MAX/MSP-Programm und analogen Synthesizern deep und klangsynthetisch brilliant wie immer auf eine Reise in das transponierte Sounddesign düsterer und unheilvoller Weltraum- oder Endzeit-Filme. Das Coverbild zeigt das verpixelte Berliner Exemplar des taubengroßen Archaeopteryx-Fossils. „Triode Univec” jackt minimal-frivol mit geradem Beat in die unheimliche Begegnung der dritten Art. Bevor „Dirac Onyx” zwischen einer Thom-Willems-Komposition der späten 1980er Jahre, Blade Runner 2049 und Electronic-Disco-Bässen, die von Harold Faltermeyer stammen könnten, den Suspense-Trick ausspielt. Der Track „Clockwerk Fatigue” überrascht in seiner überdrehten Boshaftigkeit zwar wie der Film Clockwork Orange, lässt die*den Hörer*in aber in klangästhetischer Hinsicht gut gelaunt im Marschrhythmus einer alten Standuhr herumtaumeln. Die Zeit läuft mit „Espace Fourier” im Paul-Hardcastle-Mike-Oldfield-French-Space-Disco-Gewand langsam ab. Der Physiker und Mathematiker Joseph Fourier hat nicht nur die additive Synthese entdeckt, sondern 1824 als erster Mensch den Treibhauseffekt nachgewiesen. Als Gesamtkunstwerk zeichnet das Album zwischen Sounddesign, Tracktiteln und popkulturellen Referenzen ein ambivalentes Bild: Die unscharf-polymorphen Interpretationsmöglichkeiten können für Gesellschaftskritik oder auch die totale Affirmation der Zustände stehen. Mirko Hecktor
Morganistic – Fluids Amniotic (Mote Evolver)
Wäre das hier der Hardwax Online Store, würde Luke Slaters Release aus dem Jahr 1994 ungefähr so beschrieben werden: Hard hitting, crucial techno weapons. Natürlich aufzufinden bei den Essentials. Denn essentiell ist diese Veröffentlichung allemal. Und wenn sich Musik so lange in den Köpfen und Herzen so vieler Künstler*Innen, DJs und Clubgänger*innen hält und es schafft, den Zeitgeist des Neunziger-Undergrounds zu transportieren, ist ein Re-Issue immer herzlich willkommen. Morganistics Fluids Amniotic folgte damals zwei Jahre nach In The Shadow auf Irdial Discs, das ohne Übertreibung zu den besten Platten der legendären Aqua-Regia-Brutstätte gehört. Das mitreißende Zusammenspiel von harten Drums und sphärischem Ambient sorgt auch knapp 30 Jahre später noch für pure Gänsehaut auf jedem Dancefloor. Auf Fluids Amniotic diente dieser Sound dann zwar als Basis, wurde jedoch distinktiv weiterentwickelt und radikalisiert. Führende mono- und polyphone Synth-Patterns, die ein gutes Jahrzehnt später von Ben Klock und Marcel Dettmann als führendes Stilmittel aufgegriffen werden und zur unumgänglichen Explosion des Berghain-Hypes führen sollten, kurze Breaks und umwerfende 808- und 909-Drum-Patterns sowie die erstmalige Gewissheit, dass Techno auch im Album-Format funktionieren kann, sind die Charakteristika, die Morganistic wohl unsterblich machen. Andreas Cevatli
Neuzeitliche Bodenbeläge – Der große Preis (Bureau B)
Hätten sich D.A.F., das Ströer Duo, Alexander Robotnick, Morton Subotnick, Mort Garson, Novalis, Falco und Liaisons Dangereuses jemals nach übermäßigem Bachblütentropfenverzehr für eine 48-stündige Jam-Session im Studio eingeschlossen, sie hätten die Ergebnisse gleich unter Verschluss und Neuzeitliche Bodenbeläge die Sache überlassen können. Joshua Gottmanns und Niklas Wandt haben unter anderem schon bei Oracles zusammen Musik gemacht, stecken aktuell und dauerhaft eigentlich bis über beide Ohren in noch ganz anderen Projekten drin – Gottmanns spielt bei Transport, Wandt regelmäßig gemeinsam mit Jan Schulte alias Wolf Müller und als Kurt Prödel das Twitter-Game durch – und haben’s trotzdem geschafft, auf einer Single sowie der EP Leben die zugleich merk- und liebenswürdigsten Siebziger- und Achtziger-Hommagen zu schreiben. Der große Preis ist ihr Debütalbum für Bureau B und erscheint also zwischen Harald-Grosskopf-Reissues und der Musik von Die Wilde Jagd – will heißen genau dort, wo es hingehört. Zugegeben: Die doppelt-dreifach-vierfach-Ironie der Stream-of-Consciousness-Lyrics, mit welchen das Titelstück die LP eröffnet, riecht schon nach arg angegammeltem kosmischen Käse, aber schon die Sam-Irl-Kollaboration „Gelb’s Groove” macht das mit dezentem Funk und toller Hook wett. „Auch wenn die Welt aus der Achse kracht / heut’ Nacht ist unser Spiel gemacht”, heißt es darin nicht umsonst. Spielerisch schließlich geht es weiter durch kratzige Big-Beat-Stücke, spooky Slo-Mo-Italo und retrofuturistische Balearen-Vibes. Die hörspielhaften Vocals braucht es da tatsächlich nicht, allemal schon deswegen, weil sich deren Witz und Verve nach ein paar Durchläufen abschleift. Am schönsten ist Der große Preis, wenn Gottmanns und Wandt ihren Blödeleien mit Bierernstigkeit nachgeben – in der Musik. Kristoffer Cornils
Off The Meds – Off The Meds (Studio Barnhus)
Off The Meds – runter von den Medikamenten. Oh Gott, I wish. 2020 wurde der Name des Stockholmer Quartetts zum Menetekel. Vielleicht hat es deswegen so lange zwischen Ankündigung im Februar und heute gedauert. Für Fans der Gruppe um Adrian Lux, Carli Löf, Måns Glaeser und den singenden Fotografen Kamohelo Khoaripe war das eine lange Wartezeit. Hat es sich gelohnt? Durchaus, durchaus. Das selbstbetitelte Album löst sogar ganz sicher ein, was man sich von den ersten Lebenszeichen erwartet hatte: Die Band um die drei Schweden Lux, Löf und Glaeser spielt einen Sound, der mal dreckig, dann wieder echt anschmiegsam daherkommt, Khoaripe singt und rappt dazu.Was Off The Meds aber so interessant gemacht hatte, war nicht mit der bloßen Aufstellung der Band zu erklären. Den besonderen Flavour gibt erstmal der janusköpfige Gesang: Wie kann etwas so neutral und zeitgleich so mitreißend-eindringlich sein? Khoaripe schafft es sowohl auf Englisch als auch auf Zulu so glänzend in die Mikrofonmembran zu flüstern und reinzusprechen, dass man meint, jedes einzelne Wort wäre nicht nur so gemeint, sondern auch an einen selbst gerichtet. Dazu gesellt sich halt dieser Hip-House-Sound, den wir auch bei Galcher Lustwerk alle so lieben. Je stärker der Hip-Anteil betont wird, desto mehr meint man sich in einem verloren geglaubten The-Streets-Mixtape wiederzufinden. Aber damals, als Mike Skinner noch cool war – das waren noch Zeiten, nicht? Lars Fleischmann
Orbe – Psy Visionary (Orbe Records)
Mitten im Lockdown kocht Produzent Orbe mit seinem gleichnamigen Label schon mal fürs kommende Jahr vor, wenn es dann überhaupt noch so etwas wie gelebte Kultur im ach so kultivierten Westen geben kann. Schon seit 2014 erschienen auf Orbe Records vereinzelt EPs, die das Level von Semantica erreichten und Madrid endgültig als ernstzunehmenden Hub auf dem Techno-Sektor etablierten. Unter anderem sind Untergrundgrößen wie Steve Stoll oder Eduardo De La Calle mit Material vertreten, während Orbe selbst erst 2017 hausintern das 3LP-Trumm Interplant veröffentlichte. Jetzt gibt’s mit Psy Visionary nochmal eine Scheibe oben drauf und das Ganze im Kärcher-Modus durchs Trommelfell gedrückt. Über rund 145 Minuten und vier LPs hinweg zieht diese Box einen hypnotisch sequenzierten Parforceritt abgespaceter Vierviertler hoch, deren Stärke vor allem beim Timing und einer exzellenten Auswahl futuristischer Samples zu finden ist. Das Rezept erinnert an die ebenso minimalistischen wie wirkmächtigen Loop-Variationen Marke Plastikman, mit einer Tonalität à la Anthony Linell und Nuancen von Jeff Mills circa 2005 – nur noch eine Stufe beklemmender. Einzelne Tracks stechen zwar kaum hervor, sieht man mal vom paranoiden „Gratitude For The Sky” oder dem warpenden Rausschmeißer „Solar Plexus” ab. Doch das ist hier ausnahmsweise mal kein Minuspunkt: Alle 16 Tracks operieren auf einem konstant überzeugenden Niveau. Zumindest wenn unverdünnter aber dennoch zeitgemäßer Techno der Anspruch ist. Nils Schlechtriemen
Ploy – Unlit Signals (LIES)
Abenteuerliches Debütalbum des britischen Produzenten Sam Smith alias Ploy auf L.I.E.S. Wie immer schön kompromisslos und herausfordernd für das Label von Ron Morelli. Und doch, diesmal ist einiges anders. Das Techno-, Industrial-, UK-Bass- und Breakbeat-Feuerwerk des Londoners ist tatsächlich absolut futuristisch. Kein Retro-Feeling. Frische, zeitgenössische Wut aus dem Vereinigten Königreich, gepaart mit einem Schuss Melancholie und dystopischer Paranoia. Unlit Signals verbreitet aber auch die wärmenden Dimensionen der vielseitigen britischen Soundsystemkultur, gefiltert durch eine nervöse emotionale Architektur. In Puncto Drumming geht der Brite, der bereits seit 2016 mit ungewöhnlichen Veröffentlichungen auf Labels wie Hessle Audio, Hemlock oder Timedance aus Bristol packende Rhythmus-Signale verbreitet, weiter als viele seiner Zeitgenoss*innen. In Tracks wie dem faszinierenden „Pax Cultura” lässt er ein 3D-Broken-Beat-Motiv mit organischem Jazzdrumming und brasilianisch anmutender Rhythmik tanzen. Und ein Tune wie „Molotov” stellt Comic-hafte Sample-Sounds angedeuteten Junglegrooves entgegen und schielt durchgedreht in Richtung Dancehall. Dass Ploy auch Ambient kann, aber anders, zeigt „Throb”, der traurige, geniale Abschluss eines bemerkenswert frischen Albums, das sich auch durch seine düstere sexiness von der gewohnt maskulinen Härte anderer L.I.E.S.-Veröffentlichungen abhebt. Michael Leuffen