Deutsche Elektronische Musik 4 – Experimental German Rock and Electronic Music 1971-83 (SoulJazz)
Als das Aufbegehren gegen den bürgerlich-faschistoiden Muff in den Nachkriegsjahren seine Blütephase erreichte, entstanden in hunderten deutscher Projekte Unmengen experimenteller Klänge, die bis heute unter Kosmische Musik, Progressive Elektronik oder letztlich auch dem leicht chauvinistischen Krautrock-Begriff subsumiert werden. Den großen Namen dieser Ära, deren Schaffen in den USA und im übrigen Europa oft nachhaltiger verehrt wurde als hierzulande, lässt sich heute kaum noch das Geheimtipp-Etikett aufkleben: Amon Düül II, Ash Ra Tempel, Can, Cluster, Kraftwerk, Faust, Neu!, Popol Vuh, Tangerine Dream – spätestens ab der Wende und den neuen Möglichkeiten schaltkreis-basierter Klang-Genese wurden die entgrenzten Visionen damaliger Projekte immer wieder als bahnbrechend zelebriert, irgendwann auch in den Feuilletons des Mainstreams. Dass aus den effekt-verhangenen Untiefen der Vor-WWW-Zeit eher lokal organisierten Band-Szenen aber nach wie vor echte Perlen zu heben sind, die selbst ausdauernden Flohmarkt-Diggern bis heute verborgen blieben, zeigt die bei SoulJazz veröffentlichte Reihe Deutsche Elektronische Musik: Experimental German Rock And Electronic Music 1971-1983 mit dem vierten Streich abermals in beeindruckendem Umfang. Sicher, ein paar der altbekannten Namen sind auch mit Material vertreten, etwa Cans „I’m So Green“, 1971 auf Ege Bamyasi erschienen, oder „Ballet Statique“ von Conrad Schnitzlers Klassiker Con. Doch schon allein wegen Kalacakras „Nearby Shiras“, dem verführerischen „Tanz in den Himmel“ von Elektronische Musik aus Köln und Gunter Schickerts Delay-Hymne „Suleika“, lohnt sich das Reinhören in diese rund 100 Minuten elektrisierender Musik aus einigen der kreativsten Jahre, die dieses Land je gesehen hat – sowohl für fachkundige Nerds als auch Neufaszinierte. Bislang immer noch nicht vertreten sind trotz allem solch geniale Kleinode wie GÄAs „Auf der Bahn zum Uranus“ oder die Alben von The Cosmic Jokers oder das betäubende „Sylph Ballet“ von Sand oder Rufus Zuphalls „Phallobst“ oder „Monotonprodukt“ von Monoton oder Gulââbs „Ritt durch den Hades“ oder die Untergrundklassiker von German Oak – oder, oder, oder … Fortsetzung folgt also hoffentlich bald. Nils Schlechtriemen
Female – Pleasures That Kill (Hospital Productions)
Als Mitgründer von Downwards war Peter Sutton bereits Anfang der 90er stets engagiert vor Ort, wenn aus Birmingham mal wieder Bretter im Rohschnitt exportiert wurden. Immerhin sägte er oft genug selbst mit, ob nun unter dem Female-Alias oder als Teil diverser Projekte wie Diversion Group, Hostage, Reality Or Nothing und schließlich bei Sandwell District, das Supergroup und Label in einem wurde. Nicht selten an seiner Seite: Freund und Kollege Karl O’Connor, der als Regis britischen Techno ähnlich ausdauernd und ähnlich früh prägte. Zusammen brachten sie etwas auf den Weg, was sich in manchen Kreisen als Birmingham Sound einen Ruf ziemlicher Kompromisslosigkeit erarbeiten sollte, wobei Sutton nach wie vor zu selten die ihm gebührende Anerkennung dafür bekommt. Solche Rückblicke auf die Anfänge von Female sind hilfreich, um Pleasures That Kill in all seiner Skrupellosigkeit richtig einordnen zu können, beginnt die Schweißspur doch schon bei den sexuell aufgeladenen Kirre-Tracks der ersten EPs Pelotone, Red Light District und Human Remains Human, die in der saccharin-geschwängerten Atmosphäre der frühen 90er so unverblümt brutal wie äthiopische Stabkämpfe wirken mussten. Ostafrikanisch anmutende Drum-Patterns werden da unter Hochdruck zu Cuts wie „Back Lash“, „In-Tbilisi“ oder „Seconds Of Joy“ gepresst, derbe tribal konnotiert und doch völlig durchmechanisiert, kurzum: Ein Sound, der fickt, in dieser unbehandelten Form aber trotzdem fast ausgestorben scheint. Höchstens die Rotterdamer von Mord Records oder Berlins Ostgut Ton könnten legitime Erbansprüche stellen. Auch die einzigen Female-Alben Into The Exotic und Angel Plague gehorchen dem nur subtil variierten Dampfhammer-Motiv, das Synthesizern lediglich die Rolle weiterer Rhythmuseinheiten zuspricht, nicht mehr als zischende Shots im Strobonebel. Highlights der fünf CDs umfassenden Chose sind die beiden Tracks der „Serverlan“-EP und zweifellos das bislang unveröffentlichte Live-Material von Female plus Regis, aufgenommen für HR-XXL Nightgroove während der Againstnature-Phase im Sommer 2000. Geschliffen durch das feine Öhrchen des musikalisch ebenfalls früh in Birmingham sozialisierten Justin Broadrick, liegt diese Werkschau nun zur Gänze als würdiger Remaster vor und pumpt nonstop puristischen Techno, der einem alle Kräfte rauben kann – und das wohl auch soll. Nils Schlechtriemen
IDMEMO: Future Of Nostalgia compiled by Vladimir Ivkovic and Ivan Smagghe (Above Board Projects)
Keinen repräsentativen Abriss der IDM-geschichtlichen Neunziger versprechen DJs und Neo-Kuratoren Vladimir Ivkovic und Ivan Smagghe mit ihrem „Anti-Archiv“ getauften Abriss über die IDM-geschichtlichen Neunziger. IDMEMO: Future of Nostalgia geizt zwar nicht mit kulturtheoretischem Bullshitbingo im Titel, liefert aber eine Fundgrube an elektronischen Raritäten aus einer Zeit, in der Aphex Twin noch mit geiler Mukke und weniger mit peinlichen Interviews aufgefallen ist. Riecht zunächst nach „Hach, weißte noch, damals?“-Momenten für Menschen, die mit Mitte 50 immer vom Punk-Spirit im 90s-Techno schwafeln, während sie mit Warp-T-Shirts bei Finissagen rumlaufen, mittlerweile aber Management-Positionen in DAX-Unternehmen besetzen und sich am Wochenende drei Flaschen Schampus in die Birne knallen, um sich den 80-Stunden-Burnout in der agilen Matrix schönzusaufen. Ivkovic und Smagghe haben damit aber nichts zu tun. Sie zerreißen die IDM-Fibeln und verlieren sich in der Discogs-Zone, um einen „Snapshot“ ihrer Karriere hinter den Decks auf zwei CDs bei Above Board Projects zu brennen. Wo läuft schon der Spiritualized-Remix „Anyway That You Want Me“ neben dem 16-Minuten-Monster „Alpha Phase FM“ von Chapterhouse und Marco Passaranis Detroit-verhuschtem Breakbeat-Trip „Ixora“. Und wo buddelt man sonst noch Perlen wie Zugzwangs „Euphonic“ aus? Eben. IDMEMO zerschießt uns garantiert den YouTube-Algorithmus – danke dafür! Christoph Benkeser
Late Night Tales: Hot Chip (LateNightTales)
Seit 2001 gibt es die LateNightTales-Compilation-Reihe schon, und es ist fast ein Wunder, dass Hot Chip erst jetzt einen Beitrag dazu liefern. Prominente Vorgänger waren Air, Four Tet, The Flaming Lips, Lindstrøm, Sly & Robbie, Trentemøller und Röyksopp – um nur einige zu nennen. Wie die meisten Ausgaben der Serie setzt sich auch die der britischen Art-Pop-Band aus Stücken verschiedenster Künstler und aus Eigenproduktionen zusammen. Dem Wesen der Compilation-Reihe entsprechend sind die Exklusivbeiträge Hot Chips keine Dancefloor-Kracher, sondern allesamt Balladen. Dabei ragt „Worlds Within Worlds“ heraus, ein wundervoll verspielter, besinnlicher Track, in dem sich Joe Goddard und Alexis Taylor den Leadgesang teilen. Mut beweisen die Briten dann bei der für die Serie fast schon obligatorischen Coverversion von Velvet Undergrounds „Candy Says“ – nicht durch die Art der Interpretation, sondern dadurch, diesen häufig schon gecoverten ‘Groß-Titel’ überhaupt noch einmal zu bearbeiten. Hätte bei zu viel elegischem Gestus und Andacht schief gehen können, aber wenn beim finalen ‘Dou-dou-Wah’ der Vocoder zum Einsatz kommt, entsteht das perfekte Quentchen Distanz zu den verehrten Superhelden und spätestens dadurch der für jede Coverversion notwendige Relevanzfaktor. Stilistisch spannen die fünfzehn Stücke anderer Interpret*innen einen Bogen von Ambient (Christina Vantzou) und Balladen (Daniel Blumberg) über avancierten Pop (Pale Blue, Suzanne Kraft, Fever Ray) bis hin zu experimentelleren Tracks (Kaitlyn Aurelia Smith, About Group). Vor allem die letzten Beiden stechen qualitativ hervor, Smith durch ein narratives Experimental-Stück mit schicken Analogsynthie-Sounds und sympathisch-augenzwinkerndem Humor, Alexis Taylors About Group durch ihre spacige Entspanntheit – ein Gemütszustand, der im experimentellen Umfeld zu oft fehlt. Warum muss anspruchsvolle Musik meist ernst und anstrengend sein? Muss sie nicht, wie die beiden Tracks wunderbar beweisen. Ähnliches vollbringt Charlotte Adigery mit „1,618“ aus der Perspektive von Pop: Hier wird Anspruch ebenfalls nicht durch Tamtam oder vermeintlich verehrungswürdige Virtuosität erzeugt, sondern völlig unaufgeregt durch gutes Songwriting jenseits des Pop-Einmaleins’. Und ein Stück für die Ewigkeit haben Hot Chip für ihre Compilation auch noch ausgewählt: „King In My Empire“ im Burial Mix von Rhythm & Sound mit der Stimme von Cornell Campbell. Mathias Schaffhäuser
Lifesaver Compilation 4 – Dedicated to Andrew Weatherall
(Live At Robert Johnson)
Umfangreicher denn je, erscheint die vierte Lifesaver-Compilation zur Feier des 21-jährigen Bestehens der Offenbacher Club-Institution Robert Johnson. Gleichzeitig möchte Live At Robert Johnson mit den 21 Tracks auf der Lifesaver Compilation 4 des im Februar verstorbenen britischen Produzenten Andrew Weatherall gedenken, der als DJ zu den Residents des Clubs am Mainufer gehörte. Und dieser Umstand dürfte dafür verantwortlich sein, dass dies eine der Anthologien geworden ist, die den Spirit einer kompletten Epoche erfassen, um sie gleichzeitig zu überdauern: eine Compilation, die man noch Jahrzehnte später hören wird. Im Bewusstsein, hier einen der großen Freigeister der Clubkultur zu würdigen, ist niemand auf die Idee verfallen, Festplattenausschuss zu sichten. Im Gegenteil darf vermutet werden, dass nicht wenige der Tracks ganz gezielt für diesen Anlass entstanden sind, sich die Producer im Lockdown in Klausur begeben haben, um das Andenken Weatheralls zu ehren. Allein die ersten drei Nummern würden ausreichen, dieser Compilation einen Platz im Olymp derartiger Zusammenstellung zu sichern: Perels Italo-Freestyle-Hymne „Feuer + Wasser“ klingt, als hätte Tony Garcia einen Track von Newcleus produziert, Benjamin Fröhlichs „The Road Leads Back To You“ ist ein stilistisch ähnlich veranlagter Hit mit Evergreen-Funk-Imprägnierung, Panthera Krauses „Strings of Plagwitz“ entdeckt Leipzig als „Funky Town“. Weitere Sternstunden: Gerd Jansons „Ramona Remix“ von Portables „Unity“, Johannes Alberts Yello-meets-Klein-&-MBO-artiges „Shattered Dreams“, Kogas minimal-bleep-funkiges „Enter The Tekn“, Roman Flügels kontemplatives, „Flat Beat“-inspiriertes „Another Day“. Viele greifen spezifische Aspekte von Weatheralls Soundästhetik auf: Davis’ „Mil Reais“ verknüpft UK-Breakbeat mit Acid, TCB elegischen Dub mit Sakralcharakter, Alex Boman selbigen mit surrealistischem Touch, das Duo Red Axis sowie Chinaski psychedelische und ravige Elemente, Form Tribales mit Sphärischem, Cédric Dekowski Dub Techno und Minimal House. Damiano von Erckert, Llewellyn sowie Secretsundaze adressieren Balearic Beats, in je unterschiedlicher Ausprägung, Black Spuma Cosmic Disco. Besonders anrührend: Massimiliano Pagliaras zärtlicher Nachruf „Before I Let You Go“. Der hohe Anspruch, der im Namen dieser Reihe steckt, wird mit der Lifesaver Compilation 4, physikalisch auch als limitiertes Fünffach-Vinyl-Box-Set erhältlich, vollständig eingelöst: Unverzichtbar, lebensrettend, unvergesslich ist nahezu jeder Track hier. Aber auch als Lebenszeichen eines der weltweit wichtigsten und sympathischsten Club von unschätzbarem Wert. Wie gesagt: Weitaus mehr als die Compilation des Jahres. Harry Schmidt
Space Invaders 4 (Blaq Numbers)
Der Nordthüringer Matthias Fiedler gegründete Blaq Numbers im Jahr 2015 als Deephouse-Label. Und wie das mit der House-, Techno-, Disco-, HipHop-Redundanz nun einmal so ist, wird Disco von HipHop von House von Techno seit 40 Jahren immer wieder neu abgelöst. Und seit den 1990er-Jahren auch in x-beliebiger Reihenfolge miteinander verschränkt. Deshalb verwundert die Space-Invaders-Compilation – die Fiedler wieder als charmante Kassetten-Veröffentlichungen herausbringt – in ihrer discoiden Britfunk- und Italo-Nähe nicht. In einigen Tracks der Compilation sind die hölzernen Beatpatterns der Roland TR-707 klar erkenntlich („Polar”/ „Cluster of Islands”/ „Distant Planes”). Ob diese digital simuliert werden oder die echte Plastik-707 herum eiert, ist völlig gleich, schließlich ist die 707 sample-basiert. Außerdem variieren die Beats zwischen Westlondoner Brokenbeats („Little Girl”/ „Robot Jesus”/ “1 Choise”), Tribal-Acid („Episode One”/ „Episode One”/ „Who Want To”), Discohouse („I Feel You”) bis hin zum Breakbeat („From Here To Eternity”). Dieser Titel ist wohl als Anspielung auf den Electronic-Disco-Erfinder Giorgio Moroder gedacht. Grundsätzlich erinnert die Ansammlung schöner und spaciger Tracks entfernt an die Basscheck!-Compilation von Slope aus dem Jahr 2005. Und hätten wir noch das Jahr 1999, könnte diese Playlist sicherlich zur Secret-DJ-Weapon werden. Im Jahr 2020 muss man leider die schlicke und abgecheckte Business-Überschwemmung von Daten-Musik mitdenken. Die Unmenge netter Tracks, die gleichzeitig punkig als Tape-Veröffentlichung und digital-neoliberal vertrieben werden. Möglicherweise um einerseits den alten Aberglaube der Realness mitzuliefern und um gleichzeitig die größte User-Playlist auf Spotify zu erreichen. Und auf eine seltsame Art und Weise verändert diese Verständnis leider auch den tatsächlichen Wert der Musik. Mirko Hecktor