1-800 Girls – Slipping (Lost Palms)
Dass der Brite Jake Stewart, der hinter dem Projekt 1-800 Girls steckt, eine große Affinität zur Rave-Szene seiner Heimatinsel hat, lässt sich schon nach wenigen Takten beim Hören seiner neuen EP auf Lost Palms erahnen. Der Titeltrack ist eine technoide Breakbeat-Hymne mit sanften, aber erbarmungslos eindringlichen Synthie-Akkorden und sehnsuchtsgetränkten Harmoniewechseln und diese wenigen, aber höchst effektiven Elemente atmen trotz ihrer tiefen Verwurzelung in den Neunzigern eine berührende Frische und Unbekümmertheit, die sofort alle Partygene antriggern. Auch „Corners” und „Getting Back To You” wecken ohne großes Tamtam mit ähnlichen Stilmitteln (hier eine Portion Disco-Arpeggios, da eine solide Acid-Line) sofort mittelgroße Gefühlswallungen und unbezwingbaren Bewegungsdrang – der unumwundenen Direktheit sogenannter hyperrealistischer Malerei nicht unähnlich. Im zweiten Track namens „I Can’t Keep My Head (He’s Mine)” geht Stewart allerdings ein Quäntchen zu weit in Sachen Plakativität – das hier eingesetzte ikonische Seetaucher-Sample, das in 808 States „Pacific State” als perfekte Hookline funktionierte, weckt hier nur genau diese Erinnerung und überschattet alle anderen Elemente des Tracks zu stark. Sei’s drum, bei drei tollen Stücken ist das leicht zu verschmerzen – mal abgesehen davon, dass der Track beim nächsten Rave der Hit der Nacht werden kann. Mathias Schaffhäuser
Al Wootton – Snake Dance EP (Livity Sound)
Die Snake Dance EP von Al Wootton auf Livity Sound liefert Future Bass ohne Kitsch – düster, bedrückend und mit kristallklarem Sounddesign. Der Brite legt dabei einen erwartbaren Start hin: Knackiger 2-Step inklusive Beton-Snare inmitten der unverkennbaren Livity-Sound-Atmo: Mystische Synth-Flächen über drückenden Sub-Bässen („Ender”). Der düstere Sound der Platte erinnert an Label-Konsorten wie Peverelist oder Simo Cell. Jedoch bricht Al Wootton die bekannte Ästhetik mit Percussion-lastigen 2-Steps, die mit holprigen Basslines, House-Vocal-Cuts und (ja, wirklich!) einer reduzierten Melodie durchaus tanzbar werden können („Revin”). Im Titelstück („Snake Dance”) wechselt das sterile und kühle Flair ins Organische: Die Drums knistern, Bongos zischen mit viel Reverb, doch es bleibt spooky und bedrückend – so stellt man sich einen Snake Dance vor. Shahin Essam
Johannes Volk – Extra Dimensions (Running Back)
Mehr als 30 EPs hat Johannes Volk veröffentlicht, seit er 2006 auf dem Axis-Sublabel 6277 seinen Einstand gab. Unter anderem auf Sistrum, Cocoon, Token und seinem eigenen Imprint Exploration. Auch auf seinem Running-Back-Debüt verleugnet der im Umfeld der Frankfurter Techno-Szene sozialisierte Producer seine Vorliebe für Detroit Techno Jeff Mills’scher Prägung nicht, was sich insbesondere an der konzeptionellen Haltung sowie der metallischen Härte der Percussion-Elemente festmachen lässt. Dennoch geht Volk über diese Setzung hier weit hinaus, auf jedem der sechs Tracks in eine andere Richtung. Lotet das Titelstück noch die Schnittmenge von Techno und Moroder-Disco aus, fächern die folgenden beiden Nummern unterschiedliche Facetten im Werk von Kevin Saunderson auf: Während die gärende Bassline unter „Reload Love” Anklänge an manche E-Dancer-Produktionen evoziert, darf „An Old Android On A Broken Piano” wohl getrost als Verbeugung vor den House-Projekten des Belleville-Three-Pioniers aufgefasst werden. Italo Disco ist das Thema der B-Seite: „Hypno Hypno” weckt ganz bewusst und systematisch Erinnerungen an Who’s Whos „Hypnodance”, „Rainbow Rockets” an Charlies „Spacer Woman”. Trotz ihrer Referenzialität wirken die Tracks jedoch nicht epigonal – stets gelingt Volk eine zugleich höchst kreative und kohärente Umsetzung der historischen Ideen in eine eigene Formensprache. Wie es Gerd Janson bewerkstelligt, jenseits aller Genre-Schubladen ein makelloses Labelprofil zu modellieren, ohne je auch nur für einen kurze Moment einen Qualitätseinbruch zu erleiden, wird allerdings von Release zu Release rätselhafter. Harry Schmidt
Pessimist – Atyeo (Ilian Tape)
Pessimisten wollen einem doch immer wieder erzählen, dass Drum’n’Bass tot sei. Amen-Break? Gähn. Und was ist mit dem ganzen atmospheric shit? Hört halt keiner mehr. Was sich schon auf den ersten Blick als Tinnef identifizieren lässt, mutet schnell wie blanke Blasphemie an, wenn Kristian Jabs’ heiß gepresste Atyeo EP auf dem Teller rotiert. Einmal auf max bitte, ja? Kommt sofort. Mit fast schon puristischer Konsequenz knüppelt sich der Bristoler unter seinem Pessimist-Alias hier viermal durch den affentittengeilsten D’n’B seit, na ja, seiner letzten Veröffentlichung eben. Erst vergangenen Oktober gab’s mit der rauschverklatschten Burundanga EP via UVB-76 doch schon den definitiven Score für Körperkontrollverlust am Rande des Verantwortbaren. Der Kurs wird hier nun glücklicherweise nicht verlassen, eher im Gegenteil. Weil die Zenker-Brüder mittlerweile Wind von dem Mann bekommen haben, erscheint Atyeo tatsächlich bei Ilian Tape. Passt aber. Bretter von der Masse eines „Love In The Jungle” oder das industriell amplifizierte „No Fxxxing Soul” drückt sich nämlich derzeit kaum jemand (wer denn bitte?) aus der Fontanelle, und bei Ilian wirkte sich eine gewisse Eigenständigkeit schon immer positiv auf den Einstieg aus. Doch was zum Teufel geht bitte in „Ridge Racer Revolution”? Wer sich bei diesen toxisch schnalzenden Snares, dem Bellen der Voice-Samples und den Infarkt-Breaks nicht mit Teilen plus Paste verzögerungsfrei die Schleimhäute torpediert, hat den Drop verpasst oder diese Musik nie gemocht. Klar war aber ja schon mit dem eponymischen Debüt Pessimist vor ziemlich genau drei Jahren: Wenn irgendjemand zwischen Bristol und Berlin das Genre nach den 2010ern vor Beliebigkeit und Vergreisung bewahrt, dann verdammt nochmal dieser Typ. Nils Schlechtriemen
Ricardo Villalobos – AsloHop EP (Rawax)
Und schon wieder was Neues von Ricardo Villalobos. Diesmal auf Rawax, bei alten Freunden aus Frankfurt. Wie immer Qualitätsware, singulär und – bei entsprechendem Klangvolumen – völlig überwältigend. Und wie immer hat alles zwei klassische Ricardo-Seiten. Eine mit zackigem Feuer für die Tanzfläche, eine im Sinne von Journey Music, allerdings in der für ihn typischen rhizomatischen Art, in der es keine Sound-Hierarchien gibt und alle Rhythmen und Klänge gleichberechtigt die Atome tanzen lassen. Die A-Seite „AsloHop” hat den Villa-Funk: Humpelnder Bass, nervöse Hi-Hat-Hexerei, das Knurren der Synths – alles minimal auf maximal geschneidert, ohne auch nur eine Sekunde nach 08/15-Minimal-Ware zu klingen. Zudem der Humor, nicht nur im Titel, auch in den Melodien, selbst wenn bei Villalobos nicht von Melodien im klassischen Sinne gesprochen werden kann. Das Tempo zieht mit viel Suspense zuweilen an, Claps schieben es perkussiv in Richtung kurzweilige Ewigkeit. Auf der B-Seite dann „Detrand”, eine Reise in die Psyche der Villalobos-Maschinen. Mit sattem, traurigem Bass startend, von einer langsam aufsteigenden, monotonen Signature-Synthline und vielen kleinen weiteren Klangverflechtungen getragen hinein in eine glückliche Melancholie, in der verworrene afrikanische Gesangs- und Gitarren-Schnipsel, Comic-hafte Zirp-Sounds und das Brummen der Modularsysteme gleichberechtigt nebeneinander Lustwandeln. Ab der Mitte, wenn der Villa-Funk anklopft, zieht das Tempo des 20-minütigen Tunes an und er beginnt federleicht, aber bestimmt auf die Tanzfläche zu schielen, an deren Rand er dann leicht bekifft einlullt. Zweimal epische Minimalkunst voller packender Groove- und Sound-Geschichten, die in ihrem emanzipierten Zusammensein jene Magie ergeben, die so nur einer hext! Michael Leuffen