Auch in Zeiten des Coronavirus erscheinen Alben am laufenden Band. Da die Übersicht behalten zu wollen und die passenden Langspieler für die Isolation zu küren, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im zweiten Teil des April-Rückblicks mit Laurel Halo, Lorenzo Senni, Nathan Fake und drei weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
Laurel Halo – Possessed OST (The Vinyl Factory)
Laurel Halo hat einen Soundtrack komponiert und ihre Klasse als Techno- und Pop-Ambient-Produzentin etwas beiseite geschoben. Die Musik wurde für den Film Possessed des niederländischen Designstudios Metahaven und des Regisseurs Rob Schröder eingespielt und editiert. Dieser analysiert essayistisch-soziologisch das menschliche Zusammensein im Zeitalter der Sozialen Medien. Mit dramatischer Note und Hilfe des Cellisten Oliver Coates und der Violinenspielerin Galya Bisengalieva erzeugt Halo eine durchgehend düster-entspannte Atmosphäre, lässt ihre zwölf meist kurzen Arrangements stilistisch zwischen Ambient, Drone und minimaler Neo-Klassik tanzen. Die Wahlberlinerin nutzt dafür auch weitere Instrumente wie das Piano, allerdings wird keines ungewöhnlich eingesetzt. Eher verbreiten die traditionellen Instrumente eine althergebrachte Klassik-Stimmung, die an bekannte Hörgewohnheiten anschließt. Dies mag sicherlich daran liegen, dass sich Filmmusik kompositorisch immer zuerst an den Bildern orientiert, um diese emotional zu erweitern. Trotzdem gelingt es Künstler*innen wie beispielsweise der britischen Musikerin Mica Levi, eigenwillige zeitgenössische Soundtracks zu kreieren, die auch ohne 24 Bilder pro Sekunde unverwechselbar bleiben. Dies ist bei Possessed nicht der Fall. Die rein elektronischen Drone- und Ambient-Kompositionen sind dank ihrer knisternden dystopischen Klangfarbe zwar interessant und modern, aber nicht fesselnd. Und die Stücke, in denen Cello und Violine im Vordergrund stehen, verbreiten nur eine nette Kammermusik-Stimmung ohne Schärfe. Ein Soundtrack als perfekte Hintergrundmusik mit Klassik-Momenten, der unbemerkt durchläuft, ohne die Gefühle des Hörers eruptiv zu beanspruchen. Mit laufenden Bildern dürfte dies sicherlich anders sein, schließlich hat Laurel Halo mit drei Alben und diversen EPs schon oft unterstrichen, dass sie zu den bemerkenswertesten aktuellen Produzent*innen zählt. Michael Leuffen
LF58 – Alterazione (Astral Industries)
Kein Genre der elektronischen Musik konnte in den vergangenen fünf Jahren seine Reichweite mehr vergrößern als das der Ambient Music. Wer hätte, sagen wir zur Jahrtausendwende, darauf gewettet, dass Brian Enos Idee nach über 30 Jahren einen derart ausgeprägten zweiten Frühling erlebt – und das im Fahrwasser des Techno-Booms? Bereits vor zwei Jahren erschien auf James Clements’ Auxiliary-Label ein erstes Lebenszeichen des Producer-Duos LF58. Mit ihrem Debütalbum auf Ario Farahanis Imprint Astral Industries gehen Giuseppe Tillieci alias Neel und Filippo Scorcucchi einen Schritt weiter: Der Ambient-Entwurf von Alterazione bezieht sich auf das Konzept der sinfonischen Musik. Vier Sätze – je einer auf jeder Seite des Doppelvinyls – schließen sich, zwar unterschiedliche, auch kontrastierende Formen wie Einleitung („Iniziazione”), Manifestation („Rituale”) und Durchführung („Metamorfosi”) annehmend, aber mittels weit ausgreifender Spannungsbögen doch verbunden, zu einem Gesamtwerk zusammen. Am deutlichsten wird die Parallele zur Sonatenhauptsatzform in den ausladenden Ecksätzen. Faszinierend und spezifisch ist die sorgfältig austarierte Balance dieser Musik zwischen ihrer zuweilen auch bewusst ausgestellten Künstlichkeit und dann wieder organisch wirkenden Klangereignissen auf der anderen Seite. Harry Schmidt
Lorenzo Senni – Scacco Matto (Warp)
„Scacco-Matto“, also Schachmatt, heißt Lorenzo Sennis erstes Album auf Warp. Ein wirklicher Neuzugang ist der 37-jährige Senni für das Label dennoch nicht. Neben seiner EP Persona (2016) verbindet den Milanesen sein eigenes Warp-Sublabel Presto!? mit den Jungs und Mädels aus Sheffield. Dort kuratiert er Größen der Deconstructed- und Post-Club-Szene wie Mechatok und Gabber Eleganza, selbst Detroit-Electro-Legende DJ Stingray zählt zum Portfolio von Presto!?-Records. Ganz nebenbei stiftete Senni mit „The Shape of Trance to Come” den Soundtrack zu einer 80s-Nostalgia-Folge der Netflix-Kult-Serie Black Mirror. Auf seiner fünften LP dekonstruiert Senni einmal mehr Trance-, Rave-, und Pop-Rythmen in gewohnt pointillistischem Stil. Wer angesichts dieser drei Genres unweigerlich an EDM denken muss, liegt nicht komplett falsch. Im Gegensatz zum Sound von Tomorrowland, Guetta und Co. ist Scacco Matto zwar nur schwer tanzbar. Dafür konzentriert sich Senni in seiner Musik auf das, was den Trance erst zum EDM macht – die Build-Ups. So klingt die erste Singleauskopplung, „Discipline of Enthusiasm”, wie die paar Takte vor einem Drop, die einem im Club unweigerlich den Puls in die Höhe treiben – und das satte viereinhalb Minuten lang. Patrick Wagner
Man Power – Economy (Me Me Me)
Ein Kollege lobte Geoff Kirkwoods Sound mal als intergalactic house music. Sein neues Album Economy erinnert akustisch vor allem an die Sequencer-Midi-Verkabelungen der psychedelisch-elektronischen Tanzmusik auf europäischen Chillout-Floors der 1990er Jahre. So flackert das trancige Geblubber von „A Day Seems Wasted When We Don’t Meet” über eine extrem runde TR-808-Kick, bevor klassisch gehäkelte Hi-Hat-Cymbals, dystopische Moll-Flächen und verhallte Cluster dem derzeitigen weltweiten Lockdown schmeicheln. Wegen der Krise erscheint das Album vorerst auch nur als Bandcamp-Download. Schade, denn die biologisch abbaubare Plastik-Tüte, die die Doppel-12″ umhüllt hätte, wäre im Plattenschrank ein echter Hingucker mit amerikanischem 80er-Jahre-Industriedesign gewesen. Stilsicher passt dieser Look auch zur Arpeggio-Industrial-Soundästhetik des Albums („Tygers”/ „Immortal and Lifesize”). Das retrofuturistische Detroit-Pathos jackt auch bei „Sekhmet Shuffle” in Form eines mythisch schleichenden Asteroiden-Grooves in die Live-Stream-Kammern derzeitiger Facebook-Watchpartys. Kommen wir also zum „Boneyard”; die düstere Klanglandschaft aus dem letzten Viertel des Hollywood-Jahrhunderts erscheint in ihrer Sci-Fi-Romantik mit der geraden Kickdrum etwas zu einfach. Doch weit entfernt im Terminator-Grid flimmert bereits am Horizont die Superheldin („The Air Burns Around Her”) in Form einer Tangerine-Dream-Brian-Eno- Reverb-Gitarren-Tabla-Harmonie. Es blitzen Bilder der Ölkrise und der autofreien Sonntage aus den späten Siebzigern in unsere Home-Office-Screens. Und ein Hauch von Kapitalismuskritik verirrt sich durch hochfrequente Satelliten-Lichtfaserkabel-G5-Verbindungen in der nächtlichen, postindustriell menschenleeren Stadtkulisse. Economy wird auf Kirkwoods Label Me Me Me – je nach Entwicklung der drohenden Weltwirtschaftskrise – auf Vinyl möglicherweise im Herbst 2020 veröffentlicht. Mirko Hecktor
Marco Faraone – NoFilter (Rekids)
Die Welt ungefiltert und vorurteilsfrei sehen zu können – ein unglaubliches Geschenk, das man erst zu schätzen lernt, wenn es einem selbst abhanden gekommen ist – verlernt nahezujede*r von uns früher oder später. Mit No Filter versucht Marco Faraone also nicht nur, ein gelungenes Album zu releasen, sondern arbeitet sich an der Entwicklung des modernen Menschen ab. Genau deshalb musste er zwangsläufig scheitern. Aber auch eine Niederlage ist nicht nur schlecht. So hört man sehr wohl, dass der Italiener mit seinen Tracks versucht, für ihn neue Pfade zu erkunden und offenzulegen, wer er eigentlich ist und was ihn bewegt. Die erste Hälfte der LP ist ein introvertierter und reduzierter Ritt durch Faraones Welt. „Night Ride” und „Time Equals Eternity” schaffen es nämlich ausgezeichnet, ihren Namen gerecht zu werden. Repetitiv, düster und minimalistisch gehalten, rennt man erst mit Faraone durch eine alles in sich verschluckende Nacht, und tanzt dann zu spooky Synth-Bässen und pushendem Beat. Auch die zweite Albumhälfte hat ihre Lichtblicke. Die für ein Tech-House-Album fast schon obligatorische 303-Exkursion „Trust Me” oder das bleepige „No Drama” beispielsweise, das mit durchaus schönen Pads unterlegt wird. Aber um dem (viel zu) hoch gegriffenem Albumtitel und der selbst auserkorenen Mission gerecht zu werden, die Scheuklappen abzunehmen, und Dinge eben nicht so uninspiriert zu sehen wie unzählige Big-Room-Producer vor ihm, dazu reicht es leider nicht. Auf Loops basierender Ableton-Techno kann eben auch einfach nicht mehr sein, als er tatsächlich ist: Sich als Underground ausgebende Unterhaltungsmusik. Andreas Cevatli
Nathan Fake – Blizzards (Cambria Instruments)
Wer es in der Intelligent Dance Music zu etwas bringen will, muss einen ausgeprägten Sinn für Balance nicht nur entwickeln, sondern immer wieder neu anwenden können: Zwischen experimenteller Rhythmik und einer gewissen harmonischen Eingängigkeit, aber auch zwischen den erprobten Formeln des Genres und ungenutzten Erweiterungen. Meistens mangelt es entweder an einer der Zutaten, oder aber sie ist im Übermaß vorhanden. Providence, das letzte Album Nathan Fakes, versuchte sich bei diesem kreativen Drahtseilakt wohl nicht zu Unrecht an neuen Techniken inmitten üppigster Texturen, hatte Fake doch kurz zuvor eine jahrelange kreative Blockade überwunden und die angestaute Schaffenslust anschließend in wenigen Monaten pressfertig gemacht. Selbst ein Feature mit Dominick Fernow am Mikrofon („DEGREELESSNESS”) wurde dabei noch bravourös gestemmt. Für „Blizzards“ dampft der Brite sein Instrumentarium nun auf wenige Werkzeuge runter und spielt mit dem, was er auch live am Pult zur Hand hat. Kein Zerdenken mehr von Ideen, überzogene Selbstkritik ist passé. Stattdessen prägen Spontaneität und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten das mit über einer Stunde Laufzeit bisher längste Album des begabten Eklektikers. Doch tritt Fake gerade durch diese Herangehensweise zumindest teilweise wieder unbeabsichtigt in den langen Schatten, den Kollegen wie Michael Sandison, Marcus Eoin oder Richard D. James über die britische IDM-Landschaft werfen. Wonky Techno verkantet sich hier zwar mit krossen Breakbeats und Sinuskurven progressiver Elektronik, die ein Daniel Lopatin kaum besser aufs Millimeterpapier zieht. Kaum, denn an auditivem Schneid mangelt es dann doch regelmäßig. Zaghafte Begeisterung stellt sich nur in wenigen Tracks wirklich ein, etwa beim schrill funkelnden „Tbilisi” oder dem eben sehr an Oneohtrix Point Never gemahnenden „Firmament” mit seiner tollen flächigen Produktion. Öfters glaubt man deshalb, die Nachwehen von Fakes Blockade blöderweise erneut wahrnehmen zu können, wenn in den direkt aufeinanderfolgenden „Ezekiel” und „North Brink” die Klangfarben-Palette der Boards Of Canada doch klar durchschimmert oder das finale „Vitesse” eine Abwärtsspirale in körnigem Raunen vertont, wie sie jedes Drone-Kopfkino früher oder später mal zeigt. Stellenweise ist das ja gut gemacht, aber da geht auch bei Fake mehr. Das hat er vor drei Jahren schon mal gezeigt. Nils Schlechtriemen