Chrissy – New Atlantis EP (17 Steps)
Chrissy, das menschgewordene Tanzmusik-Lexikon, veröffentlicht auf Duskys 17 Steps seine neue EP und vermittelt weiterhin seinen grundpositiven und optimistisch ausstrahlenden Zugang zur elektronischen House-Musik. Dabei wird seine Liebe zum mittlerweile in die Jahre gekommenen Chicago-Sound in fast jedem Track deutlich und gipfelt mit „New Atlantis” in einer Art Genre-Musterbeispiel. Das mit etwas knackigeren Bässen untermalte „New Instruments” und der Disco- Remix von Loods zu „In Paradise” geben dem Ganzen dann noch eine minimale Spur von Rohheit hinzu, um eine Platte zu vollenden, die Entspannung verschafft und trotzdem einen Drive bekommt, der nicht nur auf dem Dancefloor gute Laune macht. Lucas Hösel
Diverse – Refraction Vol. 4 (Residual)
Lange Zeit war davon auszugehen, dass Residual den Betrieb eingestellt hat. Doch 2016 tauchte das von Titonton Duvanté gegründete Label aus Ohio wieder auf. Gerade die Refraction-EP-Serie gab seitdem immer wieder Anlass, genauer hinzuhören. Und so verhält es sich auch mit dieser vierten Folge. Wieder bietet Titonton Duvanté weithin unbekannten oder gar noch völlig unbeschriebenen Talenten eine Plattform. Unfassbar gut ist gleich zum Auftakt „Stellar Radiation”, produziert von Rukka. Deeper Space Techno trifft hier auf so agile wie elegante Jazz Funk-Elemente. Was für eine tolle Bassline diesen Track doch antreibt! Ein mit Wucht rollendes Bassdrum-Pattern und eine ganze Rasselbande anderer hyperaktiver Schlagzeugsounds stehen im Zentrum von Peakups „Believe”, dazu gesellt sich ein verfremdetes Vocal-Sample. Erinnert irgendwie an diese zappeligen House-Platten aus den Nullerjahren und kommt doch recht frisch daher. „Exit Your Body” ist ein bemerkenswerter Electro-Track im Red Planet-Sinne, dazu gibt’s eine grummelige Reese-Bassline. Auch das letzte Stück fällt nicht ab. „So Far So Good” von Pressure Point fügt sich gut ein in die Residual-Label-Historie, die im Jahr 1998 begann. Solch deepe Techno-Tracks mit Hang zu musikalischer Verspieltheit wurden damals mit dem Schlagwort Techno Soul versehen. Holger Klein
New Frames – RNF2 (R – Label Group)
Zufällig in den Feed reingeslidet oder Wecker gestellt – wer sich die Halbzeit-Bespaßung beim Superbowl reingezogen hat, dürfte nach einer Viertelstunde Reizgeballer zu Waka-Waka-Beats allein vor dem Bildschirm gesessen sein und gespürt haben, wie sich eine seltsame Leere ausbreitet, während man den Kopf in Gedanken gegen die Wand hämmert und nur ausgeklopften Matsch überlässt. Von allem und der Welt überfordert, fügt man sich und lässt den YouTube-Algorithmus walten, um – rumms –; da wird sich doch nicht jemand den makabren Scherz erlaubt haben, Bomben aus Bass über den Atlantik zu pfeffern. New Frames, die beiden Techno-Bombastiker Mathis Mootz und David Frisch, schmieren auf Kobosils R-Label Group die Scharniere, krächzen als Industrial-Boyband ein paar catchy Vocals aus den gesammelten Werken von Rilke ins Metall und sorgen für akuten Flatulenz-Alarm am Dancefloor. Scheiße ja, so klingt ADHS bei Raverinnen und Ravern, die mit Atonal-T-Shirt im Baudrillard-Seminar sitzen und am Wochenende eine LKW-Ladung an Pillen runterwürgen – weil’s erst dann so richtig knallt. Eh klar. Also rauf auf den Rollercoaster, anschnallen und mit vier instagrammisierten Stompern die Aufmerksamkeits-Economy überaffektieren. Für irgendwas muss diese Leere ja gut sein. Christoph Benkeser
Pleaxure – No Such (NiCE1)
Eine Platte wie eine gute Radiosendung, respektive: ein cooler Podcast-Mix. No Such kommt als Six-Tracker auf Vinyl und in der Download-Version plus zweier weiterer Tracks fast schon auf Albumlänge. Stilistisch bietet Pleaxure ebenfalls Vielfalt in positivem Sinn, also keinen beliebigen Genremix oder Gehversuche im weiten Feld der Beats, wie man sie seit geraumer Zeit oft geboten bekommt und was meist eher nach DAW-Workshop denn nach künstlerischer Aussage klingt. Der Produzent, den das Label zwischen Baltimore und Brooklyn verortet, baut seine Tracks über 4-to-the-floor- und Breakbeats, zusammengehalten von einer klaren und Pop-beeinflussten Klangsprache, die nicht in Richtung einer vermeintlichen Authentizität schielt oder gar vintage klingen will. Vermutlich sind 80er-Größen wie Scritti Politti und Yellow Magic Orchestra für Pleaxure genauso wichtig wie die aktuellen Highlights der Charts, trotzdem gehören alle Stücke auf No Such eindeutig in den Club – erst recht die Remixe von Anthony Naples, MoMa Ready und Bergsonist, die sich aber ebenfalls nicht dem Pop-Appeal der Originale verweigern. Vor allem deren prägende Flächensounds integrieren Naples und MoMa Ready interessant-modifiziert in ihre Mixe. Mathias Schaffhäuser
Tryphème – Aluminia (Central Processing Unit)
Sonore Narrative: Wenn sich Tiphaine Belin alias Tryphème an ihr Musik-Gear setzt, klingen die Ergebnisse wie intime Dialoge zwischen ihr und den Synths. Lebendigkeit und emotionale Versatzstücke haben vor gut drei Jahren bereits ihr Debüt Online Dating – ebenfalls auf CPU herausgekommen – gekennzeichnet. Während sich ihr Debüt noch mehr der ravigen Seite des Synth Waves und poppigem IDMs versprach, bietet die neueste EP Alumnia Einblicke in komplexere, harmonische Klangexperimente. Die melodischen Klangsynthesen, die die französische Produzentin sorgfältig und gleichzeitig spielerisch gestaltet, lassen uns an ihrer Gefühlswelt teilhaben, sie wollen uns Geschichten erzählen, deren Ausgänge wir nur erahnen können. Jeder Track hat eine besondere Dramaturgie, die melancholische Soundarrangements prägen, und von der Stärke und dem Facettenreichtum des vorigen profitieren. Die subjektiven Nuancen, die in jeder der sechs Synth-Montagen mitschwingen, sind vielleicht als Tiphaines eigener Künstlerinnenstempel zu verstehen, als Rebellion gegen die Objektifizierung die sie in der Vergangenheit als Produzentin im Musikbusiness ertragen musste. Ein Stempel, den wir in Zukunft hoffentlich noch öfter aufgedrückt bekommen werden. Franziska Finkenstein