Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im zweiten Teil des Januar-Rückblicks mit Mr. G, Phase Fatale, Legowelt und vier weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge. Hier geht’s zum ersten Teil unter anderem mit Aril Brikha, Legowelt und Men With Secrets.
Mim Suleiman – Si Bure (Running Back)
Jede Wahrheit braucht wohl einen Mutigen, der sie ausspricht: Ich befürchte, dass der große Hype um global-synthetische Tanzmusik auf den Dancefloors hierzulande abgeflacht ist. Oder wie es mir letztens jemand mit hopfigem Bier-Atem ins Gesicht rülpste: Afro-House ist tot. Evident ist, dass der große Aufruhr, der Anfang der Zehner Jahre im Zuge bzw. parallel zu Bass-Explorationen stattfand, wirklich droht am Horizont zu verschwinden. Gleichsam beweisen DJ Lag (stellvertretend für Gqom) und das portugiesische Principe-Label, dass noch nicht alles verloren ist. Bei Running Back wagt man auch mal wieder ein Statement in dieser Sache: Es heißt Si Bure und kommt von der tansanischen Künstlerin Mim Suleiman, die die mittlerweile vierte Platte bei den Frankfurtern realisiert. Das verdient auch mal Lob; dafür, dass man es dort ernst meint; gleichzeitig demaskiert man die Ignoranz und schröpferische Natur der Szene, die so lange an global-musikalischen Themen Interesse hatte, wie diese gewinnbringend gemolken werden konnten. Eine Platte wie Si Bure beweist hingegen, dass der musikalische Reichtum bewahrt werden sollte und muss. Wie lässig hier Tempi, Ideen, Eindrücke und Einflüsse gewechselt, vermischt, vermengt und dann zu Neuem geformt werden, klingt vor allen Dingen super und ist erst nachrangig ein (szene-)politisches Zeichen. Ganz unverkrampft haben hier nämlich Suleiman und ihre (vermutlichen; offiziell sind keine Credits angegeben) Mitstreiter*innen vieles zusammengeworfen und das Beste draus gemacht. We call it große (Tanz-)Kunst. Lars Fleischmann
Mr. G presents The Alien With Extraordinary Abilities (Phoenix G)
Drei Jahrzehnte ist es nun her, dass Colin McBean als Teil des UK-House-Acts K.C.C. seine allererste Platte veröffentlichte. 1994 gründete er dann zusammen mit Cisco Ferreira das im internationalen Rave-Zirkus so umtriebige wie erfolgreiche Techno-Duo The Advent. Inzwischen ist der Engländer bereits seit 20 Jahren unter dem Namen Mr. G eine etablierte Größe, weit mehr als hundert Maxis sind von ihm in dieser Zeit erschienen. Es überrascht ein wenig, dass McBean erst im letzten Jahr sein Live-Debüt als Mr. G in den USA hatte. Diese Reise ist die thematische Klammer seiner neuen LP Mr. G Presents The Alien With Extraordinary Abilities. So blickt der roughe Breakbeat-House-Track „Embassy” auf die Befragung durch die US-Behörden bei der Einreise zurück, während die mächtige Sawtooth-Bassline-Nummer „Met D @ The Gathering” eine Begegnung mit seinem Idol Danny Tenaglia zum Thema hat. Gerade mal eine knappe halbe Stunde ist diese neue Mr. G-Platte lang. Von den sechs Stücken sind zwei nur kurze Ambient-Tracks – „LDB PT3” ist ein Interlude, das wunderschöne „Soundbath @ The Loft” fungiert als Outro. Ein Album im eigentlichen Sinne ist Mr. G Presents The Alien With Extraordinary Abilities also eher nicht. Das ist ein bisschen schade, denn Colin McBean erweist sich auch auf dieser Platte als Produzent mit außerordentlichen Fähigkeiten und sympathischer Leidenschaft für polternde Bassdrums. Holger Klein
Pet Shop Boys – Hotspot (x2)
Die Pet Shop Boys treten in die Fußstapfen von David Bowie und bringen nach Electric (2013) und Super (2016) mit ihrem 14. Studioalbum Hotspot nun ihre eigene Berlin-Trilogie zum Abschluss. Wie die stilprägenden Alben Low (1977), Heroes (1977) und Lodger (1979) des Thin White Dukes entstanden auch die drei jüngsten Platten von Chris Lowe und Neil Tennant in den legendären Hansa Studios, von deren Fenster aus man zu Bowies Zeiten noch über die Mauer schauen konnte. Doch während Bowie nach Berlin kam, um seine Kokainabhängigkeit in den Griff zu kriegen und der toxischen Drogenszene Los Angeles’ zu entfliehen, kauften die arrivierten Pet Shop Boys sich vor gut 10 Jahren eine Eigentumswohnung in der Hauptstadt, um dem hektischen London zu entkommen und die kreative Energie der Stadt aufzusaugen, in der man auch mit über 60 noch legitim in den Clubs abhängen kann.
Tatsächliche Clubtracks, wie etwa die ziemlich offensichtliche Berghain-Hymne „Inner Sanctum” (2016), findet man auf Hotspot allerdings nicht. Stattdessen kehren die Pet Shop Boys zum klassischen Disco („Monkey Business”), cheesy EDM-House („Happy People”) und wavy Synth-Pop („I don’t wanna”) zurück. Mit letzterem liefern sie konträr zu „The Pop Kids” (2016) sogar einen vermeintlichen Anti-Ausgeh-Song. Bei genauerem Hinhören geht es jedoch um einen schüchternen Typen, der sich nicht unter Menschen traut, letztlich von der Songzeile „Rhythm is a dancer“ aber doch gepackt wird und sich auf den Weg in den Club aufmacht. Geniales Storytelling gepaart mit mehrdeutigen, pophistorischen Querverweisen ist Pet-Shop-Boys-DNA – und glücklicherweise auch auf Hotspot wieder im Zentrum.
„Will-o-the-wisp” erzählt von einer zufälligen U-Bahn-Begegnung mit einem ehemaligen Liebhaber, der einst als free spirit wie ein unzähmbares Irrlicht durch die Nacht hüpfte, jetzt aber respektabel aussieht und vielleicht sogar mit einer Frau verheiratet ist. Im Subtext geht es um schwule Liebe und natürlich um die Stadt, „where men don’t wait in vain”, über die die besungene U-Bahn gerade hinwegrattert. „U1 you’re such a party train”, sprechsingt Tennant über die Berliner U-Bahn-Linie, die das einstige schwule Zentrum um den Nollendorfplatz mit den neuen Hotspots an der Warschauer Straße verbindet. In der Bridge hört man dann sogar die gesamplete Durchsage „Hallesches Tor” – Paul Kalkbrenner lässt grüßen! Und auch das Video zur euphorischen Dance-Pop-Hymne „Dreamland (feat. Years & Years)” spielt mit der bunt gekachelten Berliner U-Bahn-Ästhetik.
Trotz aller Euphorie und Popglasur ist Hotspot kein banales Abfeiern von Berlin. Die Genialität der Pet Shop Boys liegt in der vermeintlich Schlichtheit der Lyrics, die bewusst so offen gehalten sind, dass sich darin jede*r, der*die in der Hoffnung auf ein Heilsversprechen jemals sein Zuhause verlassen hat, universell wiederfinden kann – egal ob dieses Versprechen Freiheit von gesellschaftliche Konventionen ist, ein besseres Leben in einem fernen Land oder einfach nur eine durchtanzte Nacht in den Clubs dieser Stadt. Laura Aha
Phase Fatale – Scanning Backwards (Ostgut Ton)
„Alle Songs auf dem Album […] wurden konzipiert, um auf eine bestimmte Art im Berghain zu klingen.” Mit dieser Vorgabe veröffentlicht der New Yorker Künstler Hayden Payne alias Phase Fatale sein zweites Studio-Album. Durch „bohrende [Sound]-Textur” und „Hirn-penetrierende Instrumentation” soll ein Effekt auf Erinnerung und Denken erzielt werden. So sind zum größten Teil Big-Room-Breakbeat-Nummern entstanden, die von weit her einen eher unklaren, aber gewaltigen und brachialen Klang entwickeln, meist begleitet von Drone- und Acid- Elementen. Das Ganze kombiniert mit wabernder Cold-Wave- und Post-Punk-Sentimentalität – also perfekt, um die Atmosphäre im Berghain zu idealisieren. Scheppernde Snares und druckvolle Kicks geben dabei Struktur im Rhythmus vor, während die aufwendigen Sub-Bass-Arrangements eher langsam moduliert werden. Die Tracks fokussieren sich dabei auf den sehr energetisch-strengen Vibe, der selten verspielte Elemente, wie etwa bei „Splintered Heels”, zulässt. Die durchdringenden Basslinien graben sich beim Hören tatsächlich ins Bewusstsein und erzeugen wilde, ausgelassene und zum Teil auch zerstörerische Fantasien. Das alles ist, wie beispielsweise bei „Binding bei Oath”, natürlich extrem partytauglich – und befördert im richtigen Kontext ganz natürlich den Drang nach Ekstase! Lucas Hösel
Recondite – Dwell (Ghostly)
Sympathisch an diesem Album ist zunächst einmal: Es gibt kein Konzept. Lieber verharrt Recondite alias Lorenz Brunner bei dem, was er gerne und gut macht. Also Perlen melancholischen Glöckchentechnos aufreihen. Mondperlen etwa, denn „Moon Pearl” lautet ein Track-Titel und benennt einen Zeitlupen-House-Beat, eine träumende Bassline und ein paar Schlaglicht-Einsätze des Keyboards. Und schon ist der einmalige Hypnosezustand von Recondites Schaffen wieder da. Wenn ein Zwischenspiel wie „Interlude 1” den Schwebezustand eines Stückes wie „Black Letter” vertieft, wenn Recondite in „Mirror Games” die Elemente untereinander streiten lässt, dann hat das große Spannung, auch ganz ohne konzeptuellen Rahmen. In „Wire Threat” mit seinen 118 BPM legt Brunner den Entwurf nochmals frei: Es ist ein zartes Plus. Ein hauchdünnes Mehr gegenüber der schieren Kargheit, das den knochenhaften Sound gerade noch unterstreichen kann. Eine Rassel, ein Aufrauen der Bassflächen, ein etwas zu lange gehaltener Tastenton. Und so wird Dwell zur Bestimmung eines Sounds. Eine gelungene Sammlung von Tracks. Christoph Braun
Squarepusher – Be Up A Hello (Warp)
Nach fünf Jahren Abwesenheit bzw. Fokus auf andere Projekte wie Shobaleader One kehrt Tom Jenkinson zurück zu seinen musikalischen Wurzeln als Squarepusher. Bereits angekündigt vom düsteren, Darkstep-artigen „Vortrack” wendet sich Jenkinson auf Be Up A Hello genau dem Mix aus analogem und digitalem Instrumentarium zu, mit dem er in den 90ern den Sound von Rephlex und Warp entscheidend mitgeprägt hat. Die Tracks des Albums sind dabei wesentlich verspielter, als es der düstere und passend betitelte „Vortrack” vermuten ließen: Hier quietschen die Synths, blubbern und knarzen die Acid-Lines und hüpfen die Melodien im Takt der Breakbeats, dass es nur so eine Freude ist. Natürlich inklusive der von Jenkinson gewohnt komplexen Rhythmuswechsel und Melodien, die gern möglichst viele Oktaven in kürzester Zeit abfeiern. Das klingt mal nach Rave-Inferno und dann wieder nach einem Ritt durch die Retro-Arcade-Game-Hitparade, und macht zuweilen sehr viel Laune. Highlight ist der pathetische Synth-Barock von „Detroit People Mover”, der ganz ohne Beats, aber umso hingebungsvoller von Computerliebe und Rave-Romantik erzählt. Stefan Dietze
Yogtze – Yogtze (Running Back Incantations)
Gänsehaut gefällig? YOGTZE ist der Schlüssel für eine der mysteriösesten Kriminalgeschichten der deutschen Historie. Der arbeitslose Günter Stoll schrieb eben jene Buchstabenfolge auf einen Zettel, verkündete seiner Frau, ihm ginge ein Licht auf, und begab sich auf eine Irrfahrt, die Stunden später unbekleidet in seinem Golf neben der Autobahn endete. Flüchtende Leute sollen gesehen worden sein, die Verletzungen, durch die Stoll an der Unfallstelle verstarb, vorher herbeigeführt worden sein; etc. pp. Nicht ganz so mysteriös (YOGTZE wartet seit 36 Jahren auf Auflösung) ist der Erstling des gleichnamigen Duos aus Wien. Daniel Meuzard (Label-Betreiber von International Major Label) und Daniel Helmer (unter anderem eine Hälfte von Mantra Mantra mit der hervorragenden EP Funke) machen sich wohl einen Spaß auf diesen Gänsehaut-tauglichen Namen. Ganz ohne Schrecken kommen die beiden aber bei ihrem Debüt auf dem Running Back-Sublabel Incantations (meint Beschwörung) nicht aus. Immerhin weist die gleichnamige LP einige metaphysische Wendungen auf und atmet geheimnisumwitterten Odem. Knapp 30 Minuten dauert das Zauberstück, fühlt sich streckenweise nach einem hervorragenden Jam an, dann wiederum wie jahrelange Werkelei. Vielschichtig werden hier Synths, Pads, Bass-Lines, Samples und Percussion-Instrumente übereinander geschoben und ein dichtes Netz an halb-esoterischen Sounds gesponnen. Selbst ob der großen Vielfalt an ähnlicher Musik, die in den letzten Jahren an die Oberfläche gespült wurde, wirkt diese halbe Stunde äußerst innovativ, gelegentlich sogar gänzlich neuartig. Lars Fleischmann