Alle Fotos: Katja Illner (Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen).
Angefangen als Resident im Düsseldorfer Salon des Amateurs, gehört Lena Willikens mit ihrem ungewöhnlich langsamen, psychedelischen und dennoch tanzflächentauglichen Sound heute zur ersten Riege international tourender DJs. Studiert hatte sie vor über zehn Jahren aber eigentlich Kunst. Seit drei Jahren ist sie zu ihr zurückgekehrt: Mit der bildenden Künstlerin Sarah Szczesny macht sie die multidisziplinäre Performance „Phantom Kino Ballett”. Für beide ist es neben ihren Berufen ein Projekt, in dem sie frei tun können, worauf sie Lust haben. Inzwischen ist daraus Ernst geworden: Bald steht in Aachen ihre vierte Ausstellung an. Warum hinter der Performance keine Message steckt und wie Willikens das neben ihrem Touralltag meistert, haben wir uns an einem Nachmittag zwischen zwei Aufführungen in Berlin erklären lassen.
Zwei Gestalten bewegen sich langsam durch den dunklen Raum. Sie bestehen aus weißen und schwarzen Flächen. Zischende Klänge schießen durch die Luft. Die Figuren tragen wortwörtlich den Sound: Auf ihren Köpfen balancieren sie je einen Ghettoblaster. Der Klang kommt mal von links, wo sich die kleinere der beiden Figuren befindet. Mal von rechts, wo die andere Figur sich aufhält. Mit kontrollierter Haltung schreiten sie die Gänge zwischen dem Publikum ab. Es sitzt gespannt auf schwarzen Stoffbahnen, Sitzkissen sind mit weißer Farbe aufgemalt. Machen die Gestalten etwas mit den Leuten? Das Zischen wird langsam abgelöst von einem verzweifelten „Hiiii”. Die Spannung des Publikums weicht einer ernsthaften Konzentration, hier geht es ums Wahrnehmen. Über ihm spannen sich die Stoffbahnen bis zur Decke, der ganze Raum wird Teil dieser Performance, des Phantom Kino Balletts von Lena Willikens und Sarah Szczesny.
Ende Mai führten sie ihre Darbietung an zwei Abenden im Grünen Salon der Berliner Volksbühne auf. Beide Abende waren ausverkauft. Es ist eine einstündige, immersive Erfahrung, weit mehr als das Wort „Kino” im Titel erwarten lässt. Visuelles flimmert aber natürlich auch über die Leinwand – abstrakte Zooms von Malerei, Loops, comichafte Figuren. Als Betrachter*in versucht man, Bild und Sound zusammenzuführen, eine Geschichte herauszulesen. Doch es gelingt nicht ganz, Verwirrung macht sich immer wieder breit. Die zischenden Klänge verwandeln sich nach dem Intro in leftfield Musik mit einem Beat. Eine Nebelmaschine tut ihre Arbeit, man fühlt sich an einen Club erinnert. Irgendwann meint man „Phantom Delia”, einen Track von Lena Willikens erster Veröffentlichung, herauszuhören. Und tatsächlich führt der Track zum Ursprung dieses Projektes im Jahr 2015 zurück.
Die Körper als einheitliche Projektionsfläche
Für die Phantom Delia-EP auf Cómeme arbeiteten die bildende Künstlerin Sarah Szczesny und Lena Willikens erstmals zusammen. Szczesny gestalte damals die Artworks des Labels. Gemeinsam produzierten sie Videos für jeden Track von Willikens Debüt-EP. Dass das Phantom Kino Ballett darin seinen Ursprung fand, lässt sich auch heute noch erkennen: Ein Aufblitzen von Collagen, das an Stop-Motion erinnert, Close-Ups, eine Figur im Kostüm, die mehr Bewegung als Mensch ist – Elemente der Phantom Delia-Videos finden sich wieder im 50-minütigen Video, das beide als Herzstück der Performance bezeichnen.
Willikens, die zur ersten Riege deutscher DJs der Gegenwart zählt, ist auch ausgebildete Künstlerin. Sie studierte an der gleichen Akademie wie Szczesny, der renommierten Kunstakademie Düsseldorf. Kennengelernt haben sich die beiden jedoch erst danach: „Eigentlich kam es erst übers Nachtleben, über den Clubkontext, über den Off-Space von Sarah damals, über Salon des Amateurs, wo Sarah auch hinkam, dass wir aufeinander aufmerksam wurden“, erzählt Willikens beim Interview. Sie sitzt in einem Café in Berlin-Mitte, neben ihr Szczesny. Inzwischen sind die beiden gut befreundet, das spürt man allein bei der Begrüßung: Als Szczesny kurz nach Willikens kommt, begrüßt sie sie mit „Naa, Süße“ und die beiden strahlen eine Wärme aus, wie man sie während ihrer Performance am Vorabend kaum für möglich gehalten hätte. Mechanisch, wie Roboter bewegten sie sich da. Sie wurden zu einer einheitlichen Projektionsfläche, als würden sie ihre Individualität leugnen. Auch das ist am nächsten Tag anders: Während aus Szczesny stellenweise philosophische Überlegungen heraussprudeln, sie dann wieder lange Pausen macht, und sich ihre Gedanken erst im Sprechen vollends zu verfestigen scheinen, stoppt Willikens oft im Satz, um die richtigen Worte zu suchen und zu sortieren. Ein Kontrast – vielleicht ergänzen sie sich deshalb so gut. Alle Aspekte des Phantom Kino Balletts (Video, Sound, Kostüme) entwickeln sie zusammen, das ist ihnen wichtig zu betonen.
Keine kommerziellen Interessen
Nach der ersten Zusammenarbeit für Willikens Phantom Delia-EP entstanden frühe Versionen des Phantom Kino Balletts. „Da haben wir eher zu dem Film aufgelegt”, erinnert sich Szczesny. Freund*innen hätten an vielen Stellen den Anstoß zum nächsten Entwicklungsschritt gegeben. „Oft waren es einzelne Personen, die darauf reagiert haben. Dass sie das gesehen haben und unterstützen wollten”, so Szczesny. Eine Freundin, die ihnen ihr Atelier zum Arbeiten anbot. Andere Freunde, die eine Aufführung organisierten. Somit wuchs das Projekt recht organisch, was Szczesny und Willikens mögen: „Dadurch, dass sich das so weiterträgt, folgen daraus keine kommerziellen Intentionen”, so Szczesny.
„Wir setzen dem Publikum was vor. Es gibt keine Interaktion, es sei denn, wir stolpern über die Füße der Zuschauer”
Das Grundgerüst der Performance, die es in der Volksbühne zu sehen gab, wäre jedoch nicht ohne einen größeren Schritt entstanden: Ende 2017 arbeiteten Willikens und Szczesny im Rahmen eines Stipendiums drei Monate lang in der Villa Kamogawa des Goethe-Instituts Japan. Nahmen sonst ihre alltäglichen Berufe – Willikens ist bekanntermaßen DJ, Szczesny arbeitet in einem Kunstbuchantiquariat und einer Galerie – den Großteil ihrer Zeit ein, konnten sie sich hier voll und ganz auf das Phantom Kino Ballett konzentrieren. Zudem blieben Einflüsse der japanischen Umgebung nicht aus. Eine Aufnahme beispielsweise, die nur auf Kassette erschienen ist, besteht aus Field Recordings ihres Aufenthaltes. Auch banale Dinge, wie eine kulturell bedingte, andere Struktur eines Badezimmers, wirkten sich auf den Inhalt aus. Als Raum, der sich einfach abdunkeln lässt, ist ein Bad sowieso zum Filmen eignet. Von ihrem besonders großen Badezimmer dort zeigt sich Willikens begeistert: „Es war das perfekte Bad.” Szczesny fährt fort: „Wir haben eine riesige Tapetencollage gemacht, vor der wir uns dann gefilmt haben.” „Auf dem Badewannenrand“, übernimmt Willikens wieder. Auch bei einer Gruppenausstellung im Mai in New York wurden ihre Arbeiten im – na klar – Bad gezeigt.
Frei von Erwartungen des Publikums
Genauso wie ihre Umgebung die Inhalte der Performance beeinflusst, wirkt sich der Aufführungsort auf sie aus. „Es ist immer anders”, sagt Szczesny, während Willikens widerspricht: „Ich würde sagen, nicht grundlegend anders.” Was sich verändere, sei site-specific. Die Länge eines Snippets. Die Wege, die beide während der Performance laufen. In der Volksbühne steht eine von beiden kurz hinter einer Stoffbahn. Aus dem Ghettoblaster kommt ein schauriges Lachen, wie aus dem Nichts. Geisterbahnfeeling. Darauf angesprochen, lacht Willikens laut. „Ich mag das”, sagt sie. Mit dem Publikum spielen: Es ist einer der Momente während der Performance, der einer Interaktion noch am nächsten kommt. „Wir setzen dem Publikum was vor. Es gibt keine Interaktion, es sei denn, wir stolpern über die Füße der Zuschauer”, sagt Willikens und lacht wieder. Darauf ausgelegt sei es jedoch nicht.
„Das ist unser safe space. Ein Raum, wo man sich eigentlich alles erlaubt.”
Damit nehmen sich Willikens und Szczesny eine gewisse Freiheit gegenüber möglichen Erwartungen des Publikums heraus. Manche erhoffen sich ein clubbigeres Erlebnis – schließlich steht Willikens drauf –, andere vielleicht Unterhaltung. Gerade bei Willikens’ anderem Beruf spielen die eine große Rolle. So sehr man das Auflegen als eigene Kunstform sieht – der Aspekt der Dienstleistung, eine Crowd zum Tanzen zu bringen, schwingt doch immer unterschwellig mit. Die Freiheit ihres Projektes ist etwas, dass für beide im Zentrum dessen zu stehen scheint. „Das ist unser safe space. Ein Raum, wo man sich eigentlich alles erlaubt.”, sagt Szczesny über das Projekt.
Frei von den Erwartungen und Zwängen eines Publikums.
Frei von den Regeln des Kunstmarktes.
„Komischerweise hat die Kunstwelt oft was Einengendes.”, überlegt Szczesny. Willikens führt aus, was das gerade für junge Künstler*innen, die gerade frisch von der Akademie kommen, bedeutet: „Eine Galerie finden, sich mit Sammlern gut stellen, denen den Popo pudern. Aber trotzdem überall präsent sein, zu jeder Ausstellungseröffnung gehen und keine Biennale, keine Documenta, Messen, nichts verpassen. Man muss überall stattfinden.” Sie hat sich inzwischen ein wenig in Rage geredet. „Und ich habe darauf einfach überhaupt keinen Bock gehabt. Und Sarah auch nicht.” So kam es, dass beide andere Wege fanden, um Geld zu verdienen und sich von diesen Regeln freizumachen. Umso paradoxer scheint es, dass sie nun mit dem Phantom Kino Ballett gleichsam in die Kunstwelt zurückkehren und gleich auf einem hohen Niveau einsteigen.
400 Quadratmeter Ausstellungsfläche
Im Frühling dieses Jahres beispielsweise hatten Willikens und Szczesny eine große Ausstellung im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen. Im gleichen Gebäude befindet sich auch der Salon des Amateurs – der Ort, an dem sie unter anderem aufeinander aufmerksam wurden. Der Kreis scheint sich zu schließen, back to the roots könnte man sagen. Die 400 Quadratmeter Ausstellungsfläche zu bespielen sei ihnen überraschend leicht gefallen. Willikens erzählt: „Als wir das erste Mal alles gesichtet haben – wir konnten mühelos diese riesige Halle füllen. Da dachten wir selber ‘Ups’”, und sie lacht in Anbetracht dessen, wie viel Material sie schon produziert haben – Collagen und Skizzen für die Videos, Kostüme, Stoffbahnen, Edits, die Videos an sich natürlich. Und das in nur drei Jahren. So konnte man in Düsseldorf das Phantom Kino Ballett außerhalb der Performance erleben; die Filmausschnitte nicht nur als Teil einer kurzen Reizüberflutung, sondern wieder und wieder ansehen. „Den Raum haben wir aufgeteilt”, erklärt Szczesny. „In Seite A und B”, so Willikens. Wie bei einer Kassette. Seite B seien die Field Recordings aus Kyoto gewesen. Den Effekt, den Willikens und Szczesny in der Performance dadurch erzielen, dass sie mit dem Klang aus dem Ghettoblaster auf- und abgehen, übertrugen sie auf die Ausstellung: Die Field Recordings wurden in Tonspuren aufgeteilt, jede bekam ein Video, einen Platz im Raum und einen Ghettoblaster. „Wenn du reinkommst und im Raum stehst, hörst du den ganzen Mix. Als Besucher kannst du dich dann aber den einzelnen Elementen zuwenden”, so Szczesny. „Du machst die Abmischung quasi mit deinem Körper”, ergänzt Willikens.
Körper und Geist, dessen Zweckentfremdungen und Verdrehungen, scheinen ein durchgängiges Motiv des Phantom Kino Balletts zu sein. Am offensichtlichsten wird dies in der Intention hinter den schwarz-weißen Kostümen: „Wir sind Bild- und Soundträger, aber als Individuen wollen wir eigentlich so weit wie möglich verschwinden”, so Willikens. Das Thema wird auch in den Audio- und Videosnippets behandelt. Zwei Stimmen (David Bowie und Amanda Lear, wie sich im Nachhinein herausstellt) fragen sich da zum Beispiel gegenseitig: „Who are you?”, und liefern keine logische Erklärung. Eine andere affektierte Stimme, die der Andy Warhol-Muse Holly Woodlawn gehört, überschlägt sich in ihren hektischen Ausführungen und klingt dabei wie das genaue Gegenteil von Nüchternheit und Vernunft. „An orgasm a day is an essential part of my diet”, hysterisches Lachen, dazwischen vereinzelt Klänge, die sich gelegentlich zu einem dunklen Track verdichten. Viele der Zitate kann man als Betrachter*in während der Performance nur sporadisch verarbeiten. Das verstärkt im Fall des emotionalen O-Tons von Holly Woodlawn ihre Wirkung. Wenn die Schriftstellerin Sylvia Plath ihr Gedicht „The Applicant” liest, geht ein Teil der kritischen Botschaft des Textes jedoch unter.
Keine Message
Willikens und Szczesny kommt es auf letzteres wenig an: „Es gibt keine Message. Das interessiert uns nicht so”, so Willikens. Ohne Botschaft gehen Szczesny und Willikens wiederum auf Nummer sicher. So mutig, wie Willikens’ DJ-Sets zuweilen sind, will das Phantom Kino Ballett nicht recht werden. Ein safe space eben, auch für die Zuschauer*innen. Auch wenn es nicht ganz so gedacht ist: „Man will bestimmt nicht harmonisch wirken”, sagt Szczesny mit einem frechen Unterton. „In Tokio sind zwei Leute ohnmächtig geworden”, erzählt sie und Willikens lacht laut. „Wegen des Strobos.”
Wenngleich sie sich mit der Performance zunehmend in Räumen der Hochkultur bewegen, sind Strobo, Nebelmaschine und tiefe Bässe eindeutige Referenzen an die Clubkultur. Das spiele für beide eine große Rolle, so Szczesny. Auch sie hat sich schon viel zwischen Kunst und Club bewegt; Grafiken für Labels gemacht, Partys organisiert. Für Willikens hingegen ist das Nachtleben ihr täglich Brot. Ein Kontrast, den sie nicht immer leichtfertig vereinbaren könne, gerade beim Aufbau einer Ausstellung: „Switchen kann ich nicht. Aber wenn ich dann wieder anfange aufzulegen, merke ich, dass das auf längere Sicht davon profitiert.” Es sei wie ein Aktivieren verschiedener Gehirnregionen. Doch wie ist das, wenn sie wie jetzt zwei Performances hatte und am nächsten Tag in London im Club spielen muss? Willikens wird kurz still: „Ja, das ist ein bisschen krass.” Sie lacht es weg.
Ähnlich fällt die Reaktion aus, als es um die Vorbereitung ihrer nächsten Ausstellung geht. Sie wird im Neuen Aachener Kunstverein stattfinden, am 29. August ist Einweihung. Sarah Szczesny wird dort gleichzeitig eine Soloausstellung haben. Wie in Düsseldorf bereits geschehen, wollen sie für besondere Performances befreundete Künstler*innen einladen. Szczesny hat zwei Schauen vorzubereiten. Davor erstreckt sich für Willikens ein langer Festivalsommer – wie soll da Zeit zum Vorbereiten bleiben? „Oh Gott, lass’ uns nicht darüber reden”, sagt sie, verdrängt es wieder mit einem Lachen.
Von einem Zwang also können sich Sarah Szczesny und Lena Willikens selbst bei ihrem eigentlich freien Phantom Kino Ballett nicht ganz lösen: Dem Faktor Zeit. Knappes Gut und Druckmittel zugleich. „Manchmal merken wir beide, dass wir uns zu viel vornehmen.”, so Willikens. „Aber man hat irgendwie so viel Bock.”
Die Ausstellung „Chambers of Phantom Kino Ballett“ ist vom 29. August bis 20. Oktober 2019 im Neuen Aachener Kunstverein zu sehen. Am 2. Oktober findet die Performance „Identikit Arkaden Seance“ mit Viktoria Wehrmeister, Detlef Weinrich (aka Tolouse Low Trax) und Charlotte „Atomi“ Ficat statt.