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Dekmantel Selectors: Exzessiv ausspannen

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Auch in diesem Jahr hat sich die niederländische Dekmantel-Crew im schnuckeligen kroatischen Küstenörtchen Tisno zwischen Split und Zadar eingerichtet. Fünf Tage nimmt sie sich Zeit, um die vorwiegend eigenen Landsleute mit einem liebevoll zusammengestellten Programm aus vielversprechenden Newcomer:innen und etablierten Hochkarätern zu bespaßen. GROOVE-Autor Leonard Zipper hat sich das feuchtfröhliche Treiben in der überaus ansprechenden Kulisse für euch genauer angesehen. 

„Lasst mich raten: Ihr seid bestimmt nicht hier, um euch eine Woche an den Strand zu flenzen?”, stellt unser Taxifahrer ganz richtig fest, als vor uns das Dreitausendeinwohner-Städtchen Tisno auftaucht. Eine Annahme, die er im Sommer bestimmt öfters äußert. Schließlich löst zu dieser Jahreszeit auf der gemeindezugehörigen Ferienanlage The Garden Tisno ein Festival das nächste ab, weshalb hier bis September laufend Feierwütige aus ganz Europa landen. Im Fall des Dekmantel Selectors, dem kleinen Ableger des Amsterdamer Großevents, sind es vor allem offenherzige Niederländer:innen und vereinzelt auch Deutsche, die in den kommenden Tagen die kleinen Lebensmittelgeschäfte entlang der idyllischen Uferpassage leerkaufen werden.

Dort unten spielt die Musik (Foto: Tim Buiting)

Fünf Festivaltage! Dieses Versprechen lässt selbst beschlagene Raver:innen womöglich erst mal schlucken. Hat man aber auf dem Schirm, dass sich der Großteil der gut 2500 häufig schlicht und strandtauglich, oftmals aber auch ziemlich sleek und poppig gekleideten Gäste nicht auf 40 Grad heiße Zelte, sondern klimatisierten Airbnbs verteilt, erscheint diese Ansage gleich weit weniger herausfordernd. Mit dem Blick auf dem Timetable wirkt die Sause erst recht machbar. Denn nach holländischer Festivalmanier fegen die letzten Tracks an den meisten Veranstaltungstagen bereits um 2 Uhr über das kleine Gelände.

Wer dann noch nicht schlafen kann, tut sich leicht darin, ein überteuertes Taxi in die 15 Kilometer entfernte Barbarella’s Discotheque zu nehmen, wo die offizielle Party bis sechs Uhr morgens weitergeht, oder mit einem der zahlreichen Poppers- und Lachgasverkäufer ins Gespräch zu kommen, die sich manchmal motiviert, meistens aber halbschlafend in Campingstühlen am kurzen Weg zurück ins nachts unbelebte Örtchen aufreihen.

Kode9 drückt mehrere Knöpfe gleichzeitig (Foto: Tim Buiting)

Musikalisch versteht sich das Dekmantel Selectors als avantgardistisches Gelage. Neben populären Acts wie Call Super, Lena Willikens, Kode9 oder Job Jobse spielen sich hier Jahr für Jahr vor allem Newcomer:innen mit originellen Auftritten ins Rampenlicht. Viele davon wie Passion DEEZ oder Ineffekt sind hörenswert, aber noch weitestgehend unbekannt, andere sind bereits dabei, sich im europäischen Underground zu etablieren. Letzterem Schlag lassen sich bei dieser Ausgabe etwa CCL, Gigi FM, ISAbella oder FAUZIA zuordnen – vier passionierte Künstlerinnen, die sich wie etliche Namen auf dem Line-up gerne jenseits des geraden Beats bewegen.

Grundsätzlich verleiten die zahlreichen Musiknerds unter den Gästen – die Label-T-Shirts verraten sie – zur Experimentierfreude, der sich viele DJs hingeben. Was im Programm leicht irritiert, ist das Ausbleiben von Live-Sets. Musikversessene Connaisseur:innen kommen hier also möglicherweise nicht ganz auf ihre Kosten. Hände hoch statt Kopfnicken lautet die Devise!

GiGi FM strahlt im UV-Licht (Foto: Tim Buiting)

Wer sich tagsüber nicht in einer der umliegenden malerischen Buchten ausruhen mag und bereits Bewegungsdrang verspürt, kann sich ab 12 Uhr von der Beach Bar beschallen lassen oder für 19 Euro pro Ticket auf einer von sechs Bootspartys durchs Meer schippern – frische Brise und paradiesische Aussicht inklusive. Die Kuttertouren werden fast ausschließlich von niederländischen Crews wie Rush Hour, Bordello a Parigi, WAS. oder Clone kuratiert. Manch eine:r hat dabei dieses Jahr sogar Delfine erblickt. Woah!

Schöner reisen – mit einem 19-Euro-Bootsausflug beim Dekmantel Selectors (Foto: Tim Buiting)

Mit der Öffnung der drei großen Floors, die mit einem gut abgestimmten Programm aufwarten, geht es ab 18 Uhr auf dem Festland richtig los. Allen, die dann noch schlechte Laune nach den Entgleisungen der Vornacht haben, kann man nur raten, sich schnellstmöglich ins euphorische Getümmel an der frequentiertesten Bühne am Strand zu schmeißen, wo vor allem Italo (Disco) läuft und eine große House-Hymne die nächste jagt.

Hier Künstler:innen auszumachen, die den Groove aus den Augen verlieren, fällt schwer. Einmal in Fahrt gebracht, kennt die Crowd jeden Abend kein Halten mehr. Die Musik von Acts wie Hunee, CARISTA, Gabrielle Kwarteng oder Nedda Sou wirkt hier meistens wie für diesen in rotes Licht getauchten Ort gemacht. Besonders Eris Drew bringt den Dancefloor am Freitag mit einem ravigen High-Energy-Set zum Kochen, bei dem sie eine Disco-Break-Nummer nach der nächsten raushaut.

Carista sieht rot (Foto: Tim Buiting)

Wer es vergleichsweise düster mag, und damit ist nicht nur der Sound gemeint, fühlt sich an der Voodoo-Stage wohl. Denn bis auf zwei violette Leuchtstoffröhren, die über den DJs hängen, geht hier licht- und dekotechnisch nicht besonders viel. Dieses Manko zieht sich über das gesamte Festivalgelände, stört aber angesichts seines verlebten Charmes und der idyllischen Kulisse kaum. Auch weil hier die Musik so im Vordergrund steht. Gleichzeitig muss man der Dekmantel-Crew gutheißen, dass sie vollständig darauf verzichtet, mit Werbebannern oder Ähnlichem zu nerven.

Während der Sets stehen auf dem Dancefloor die Münder fast durchgehend offen – auch als Skee Masks „Breathing Method” läuft.

Viele Künstler:innen auf der Voodoo-Stage sind eklektisch unterwegs. Aber nicht alle schaffen es, das Energielevel über mehrere Tracks hochzuhalten, was manchmal dazu führt, dass die Menge etwas ratlos wirkt. Identified Patient und Gamma Intel, die zum Auftakt des Festivals am Donnerstag hier auftreten, haben den roten Faden allerdings stets Blick: Während ihres Sets stehen auf dem Dancefloor die Münder fast durchgehend offen – auch als Skee Masks „Breathing Method” läuft.

Bei Identified Patient und Gamma Intel bleiben die Münder geschlossen (Foto: Tim Buiting)

Ziemlich mechanisch, roh und rhythmisch, äußerst sprunghaft, aber dabei keinesfalls undynamisch klingt das, was das seit jungen Jahren befreundete Duo durch das Soundsystem peitscht. Die beiden droppen die absonderlichsten Nummern aus verschiedenen Genres von Künstler:innen wie Simo Cell, Dismantle oder Amor Satyr, die so gut ineinandergreifen, dass jeder Übergang wie geplant wirkt. Vielleicht das Set dieses langen Wochenendes. Bis zum Schluss am frühen Dienstagmorgen kommen mir immer wieder begeisterte Stimmen zu den aufreibenden 120 Minuten zu Ohren.

YMCA oder doch das Dekmantel Selectors? Antal, Kamma & Masalo wissen Bescheid (Foto: Tim Buiting)

Auch Bambounou fügt sich am Freitag der finsteren Atmosphäre des Voodoo-Floors. Er steigt mit allerhand sublimen, minimal-reduzierten Techno-Tracks ein, die sich immer wieder rhythmisch zerstreuen, und nimmt die Menge dabei behutsam für sich ein. Komisch, dass er sich dann dafür entscheidet, einen ganz anderen Weg einzuschlagen, und die magische Grund-Atmosphäre mit allerhand Pop-und Trance-Verschnitten torpediert: Loonas „Bailando”, Eves „Who’s That Girl” und Da Hools „Meet Her At the Loveparade”. Gefühlt wird keine große Hymne der späten Neunziger oder frühen Zweitausender ausgelassen. Sein eigener Edit von Britney Spears’ „Piece of Me” kommt im Verlauf der zweieinhalb Stunden sogar ganze dreimal zum Einsatz. Auch wenn ihm wie meist beim ironischen Einsatz von Hits damit Jubelrufe sicher sind, scheinen viele vermeintliche Musiknerds von dieser Wendung nichts zu halten und lassen die Augen rollen.

Egal ob die Crowd jubelt oder mit den Augen rollt: Der Dancefloor auf dem Dekmantel Selectors bleibt rot (Foto: Tim Buiting)

Zugegeben: Ich habe es nie ins bereits erwähnte Barbarellas geschafft, wo Acts wie Young Marco b2b KI/KI, Jane Fitz oder Marco Shuttle nach der Schließung des Festivalgeländes die Booth übernahmen. Um für etwas Kontrastprogramm zu sorgen, geht es aber Sonntagnacht noch ins Unterholz auf einen unangemeldeten Rave, der bis in die späten Morgenstunden wütet. Dorthin verlieren sich auch zahlreiche weitere Festivalgäste. Hinter der Sause steckt die kroatische Crew Metz Attack, genauer gesagt die DJs Fabian, Tonko und Carnero. Die drei Freunde stammen aus Vodice – einem 10.000-Einwohner-Örtchen, das 15 Kilometer südlich von Tisno liegt. Im Wald daneben findet das wilde Treiben unabhängig vom Dekmantel Selectors statt.

Nach fünf ausgelassenen Tagen lassen sich Augenringe kaum noch kaschieren. Und wenn durch Sonnenbrillen schnelle Abhilfe geschaffen wird, sitzen diese häufig schräg.

Zur Freude der Locals spielen hier sogar DJs vom Festival. Denn viele der Leute vor Ort können sich die gut 195 Euro für ein Ticket nach eigenen Angaben nicht leisten. Das berichtet mir jemand von Udruga Mladih Bokon, einer lokalen Vereinigung, die Metz Attack unterstützt und sich darüber hinaus mit einer Vielzahl von Projekten dafür einsetzt, die Lebensqualität für junge Leute in Vodice zu verbessern. „Selbst wenn wir es irgendwie aufs Festivalgelände schaffen, würden sich viele von uns dort wohl kaum eine Dose Bier genehmigen”, fügt ein kroatischer Gast hinzu. Kein Wunder, denn die kostet fünf Euro für gerade mal 0,33 Liter.

Dekmantel Selectors Konter-Rave by Leonard Zipper
Die Gegenveranstaltung im Unterholz (Foto: Leonard Zipper)

Zurück auf gewohntem Terrain ziehen mad miran & Parrish Smith Montagnacht als allerletzter Act der Nest-Floors in den Bann. Bevor am Dienstag abgebaut wird, machen sich die beiden schon mal daran, die Holzbühne mit Schranz und aufgekratzten Neunziger-Tools in ihre Einzelteile zu zerlegen. Während Sven Wittekinds & Torsten Kanzlers „Eine Hand Wäscht Die Andere” oder D.A.V.E. The Drummers & The Geezers „Hydraulix 30 A” über das sandige Areal wirbeln, ist die Stimmung maximal ausgelassen und für Dekmantel-Selectors-Verhältnisse sogar ziemlich ravig.

mad miran und Parrish Smith lächeln, weil sie die Stage abreißen dürfen (Foto: Tim Buiting)

Spätestens jetzt scheinen die geleckten Fassaden einiger Festivalgäste zu brechen: Nach fünf ausgelassenen Tagen lassen sich Augenringe kaum noch kaschieren. Und wenn durch Sonnenbrillen schnelle Abhilfe geschaffen wird, sitzen diese häufig schräg. Zum Schluss klatschen die Beats immer schneller aus den imposanten Soundsystemen. Sie überschlagen sich geradezu. Stolpernder Goa drängt die Crowd dazu, mit den Knien zu arbeiten, und mobilisiert die allerletzten Kraftreserven. Meine Festivalbegleitung merkt nach diesem schweißtreibenden Finale nur an, dass es sich irgendwie komisch anfühlt, wieder gerade zu stehen.

Keine Angst, hier brennt’s nicht! (Foto: Tim Buiting)

Was bleibt von dem fünftägigen Kroatienaufenthalt? Muskelkater, mehr als erwartet. Gleiches gilt für staubdurchtränkte Klamotten. Und ein relativ leeres Portemonnaie. Wer klassische Festivals inklusive Zelten und drei Tage Dauerraven satt hat und bereit ist, diese Entbehrunen für unzählige musikalische Highlights und die schicke Kulisse zu tätigen, ist hier an der richtigen Adresse – nicht zuletzt dank der offenherzigen Crowd. Wer Erholung – und dann vielleicht doch noch den Exzess – sucht auch!

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