Fotos: Presse
Zehn Monate nach seinem Debütalbum Ostati schiebt HVL ein Album auf Bassiani Records hinterher. Eine logische Labelwahl, hat er doch eine Residency im notorischen Club in Georgiens Hauptstadt inne. Vor rund einem Jahr stand das Bassiani im Zentrum internationaler Aufmerksamkeit, als es dort eine Razzia gab. Wie die Lage nun ist, hat HVL im Gespräch mit Groove-Redakteurin Cristina Plett erzählt.
Seine PR-Agentin hatte im Vorfeld darauf hingewiesen, dass Gigi Jikia ein Mensch der schüchternen Sorte ist. Zu Beginn des Telefonats mit dem georgischen Produzenten bewahrheitet sich das prompt: „Ich mache fast nie Interviews. Nur für das Album habe ich eine Ausnahme gemacht. Ich rede lieber weniger über die Musik und veröffentliche einfach Sachen“, gibt er zu verstehen. Er spricht langsam und überlegt, die Worte scheinen nicht immer aus ihm herauszuwollen. Im Gegensatz zu seinen Veröffentlichungen: Allein im vergangenen Jahr hat Jikia unter seinem Alias HVL drei EPs und ein Album veröffentlicht. Nun folgt nach zehn Monaten das zweite Album: Rhythmic Sonatas heißt die LP, wegen der Jikia doch bereit ist, über seine Musik zu sprechen.
Stream: HVL – Rhythmic Sonatas (Snippets)
Es ist sein erstes Release auf Bassiani Records, was angesichts seiner engen Verbundenheit zu dem berüchtigten Club in Tbilisi, Georgien, doch verwundert. Jikia ist dort seit Anbeginn im Jahr 2014 Resident. In gleichem Maße, in dem er zum Sound des Clubs beigetragen hat, prägte ihn der Club als DJ: Loopiger, sich auf- und abschichtender Techno, der trotz des sorgfältigen Mixings eine angenehm spröde Rauheit enthält. Die zehn Tracks auf Rhythmic Sonatas weisen dazu jedoch eine Diskrepanz auf. Sie sind sehr viel melodischer und sanfter, es mischt sich auch mal Electro darunter. Das verbindende Element sind lediglich die titelgebenden, sich im Kreise drehenden Rhythmen. Und das, obwohl Jikia sogar extra versucht hatte, für diese Platte eher clubfreundliche Tracks zu produzieren: „Aber wegen der Art von Musik, die ich mache, war das das Härteste, dass es gerade werden kann“.
Immer zum Home-Listening gemacht
Härte ist ja immer relativ. Im Vergleich zu seinen allerersten Produktionen ist Jikias neues Album vielleicht nicht hart wie ein Diamant, aber durchaus steinhart. Denn was er 2010, mit gerade einmal 19 Jahren, veröffentlichte, überrascht in seiner Sanftheit doch etwas. Unter dem Namen Okinawa Lifestyle produzierte er mit seinem Freund David Datunashvili von japanischem Pop inspirierte Songs – luftig, gut gelaunt, hellblauer Himmel. Und für das Frühwerk eines Musikers erstaunlich gut gealtert. Datunashvili hatte ihm gezeigt, wie man mit mehreren Channels und Melodien arbeitet. „Alles, was ich vor Okinawa gemacht habe, kann man nicht wirklich hören, wenn du mich fragst“, sagt Jikia schmunzelnd. Er hatte mit 16 begonnen, mit Fruity Loops Drumpatterns und Percussion zu programmieren, weil er Schlagzeug spielte, aber nur in der Schule üben konnte.
Stream: Okinawa Lifestyle – Bar (N Key Remix)
Mit Datunashvili musiziert er noch heute, gemeinsam mit einem dritten Freund improvisieren sie unter dem Namen Masterknot Ambient. Im Februar sind sie im Iran aufgetreten. Darauf angesprochen, wie es war, in einem Land zu spielen, in dem klassische Technopartys verboten sind, beginnt er zu erzählen und man merkt, dass er das lieber tut als über sich selbst zu sprechen: „Dieser Typ aus Teheran, ein Freund von mir, konnte irgendwie eine Lizenz kriegen, um solche Veranstaltungen zu machen. Die Bedingung ist, dass die Leute nicht tanzen dürfen. Sie kommen, sitzen, genießen die Musik und gehen nach Hause.” Einmal spielte er dort auch als HVL; ein Techno-Liveset zum Zuhören? Sein Set hätte er gar nicht allzu sehr dem Tanzverbot anpassen müssen, „Ich versuche immer, meine Musik auch fürs home-listening angenehm zu machen.” Da ist sie wieder, die Diskrepanz zum Bassiani und dessen internationalem Image als neues, gar besseres Berghain.
Stream: Masterknot – Live in Tehran
Auflegen – why not?
Vielleicht lässt sie sich damit erklären, dass Jikia sich überwiegend als Musiker denn als DJ versteht. „Meine Musik ist und war schon immer meine Priorität”, sagt er entschieden. Mit der damals noch jungen, aber bereits umtriebigen georgischen Clubszene hatte der junge Jikia erst was am Hut, als er mit dem Produzieren begonnen hatte. Und auch das Auflegen entwickelte sich mehr aus einem Pragmatismus heraus: „Als Okinawa Lifestyle spielten wir ein paar Live-Shows und mir fiel einfach auf, dass es mehr Möglichkeiten für Gigs gab, wenn du aufgelegt hast. Dann dachte ich mir einfach, ‘Why not?’”. Er hatte den richtigen Zeitpunkt erwischt – damals eröffneten in Tbilisi erste Clubs wie Mtkvarze oder das Café Gallery; ein kleiner Laden in einer Seitenstraße der Prachtstraße Rustaveli Avenue und Treffpunkt der LGBTQ-Community im sonst konservativen Georgien. Jikia konnte dort seine ersten Schritte als DJ machen.
“Tbilisi hat viele soziale, wirtschaftliche und politische Probleme, aber ich glaube, das sind die Zutaten, die die Szene aktiv und lebendig halten, die den kreativen Saft fließen lassen.”
Den richtigen Zeitpunkt erwischt auch das Bassiani, als es 2014 eröffnet. „Man konnte fühlen, dass die Leute sich nach so einer Location sehnten. Kleinere Clubs waren immer voll, die Partys verrückt und lang. Die Menschen brauchten einen größeren Ort”, so Jikia. Mit den Katakomben unter dem Nationalstadion fand es genügend Platz. Der Rest ist eine Geschichte, die der ehemalige GROOVE-Chefredakteur Heiko Hoffmann bereits aufgeschrieben hat – die ihren dramatischen Höhepunkt jedoch im vergangenen Jahr fand. Der Clubbetrieb läuft bereits, als die Polizei in der Nacht des 11. Mai das Bassiani in voller Montur stürmt, angeblich wegen Drogen. Die betroffenen Personen waren aber bereits vorher außerhalb des Clubs verhaftet worden. Die Aktion wird als politisch motivierte Repression gewertet. Am nächsten Tag zeigt die georgische Community mit einer großen Demo und Party vor dem Parlament, dass sie sich nicht einschüchtern lässt.
Wie ist die Situation nun, fast ein Jahr danach? „Es gibt keinen Dialog zwischen der Regierung und der Szene. Soweit ich das beurteilen kann, laufen die Clubs normal weiter und die negativen Effekte der Schließung letztes Jahr verschwinden. Abgesehen von der Popularität und der Aufmerksamkeit, die es gab, sehen ich keine anderen Effekte, die das auf die Clubszene hatte”, zieht Jikia sein Resümee. Er klingt nahezu unbeeindruckt. Eigentlich ein positives Fazit, wenn man die Dringlichkeit und Existenzangst betrachtet, die den internationalen Solidaritätsbekundungen letzten Jahres anhafteten. Nach Kampf klingt das nicht. Aber es ist schließlich auch die Beurteilung Jikias, der – das hat sich inzwischen gezeigt – einen unaufgeregt pragmatischen Blick auf die Dinge hat.
Stream: HVL – Groove Podcast 120
Die Bedingungen für Tbilisis einzigartige Clubszene sieht er gerade in solchen negativen Dingen, wie zum Beispiel den strikten Drogengesetzen, die unter anderem zur Razzia im Bassiani führten: „Tbilisi hat viele soziale, wirtschaftliche und politische Probleme, aber ich glaube, das sind wirklich die Zutaten, die die Szene aktiv und lebendig halten, die den kreativen Saft fließen lassen.”, sagt er. Eine Beschreibung, die zum Teil an andere Städte in ihrer frühen Blütezeit elektronischer Musik erinnert: New York in den Siebzigern, Berlin zu Beginn der Neunziger. Mit dem Unterschied, dass die Mieten hoch sind: Für eine Ein-Zimmer-Wohnung zahle man rund 300 Euro, sagt Jikia, was im Vergleich zu den Gehältern sehr viel sei. Gleichzeitig werden Neubauten errichtet, die sich niemand leisten könne, und in der Altstadt Tbilisis verfallen ganze Straßenzüge.
Der Erfolg war absehbar
Viele Georgier*innen verlassen wegen der Probleme das Land. Auch Jikia hatte den Plan einmal. Von 2013 bis 2014 machte er einen Austausch in Stuttgart. „Bevor ich nach Deutschland ging, hatte ich die Hoffnung, nach meinem Austausch dort zu studieren und eine Zeit lang zu leben”, erzählt er. Er spielte damals sogar einmal in der Stuttgarter Bar Romantica. Doch mit der zunehmenden Entwicklung der Szene in seiner Heimat änderte sich seine Meinung: „Kreativ gesehen machte es für mich mehr Sinn, hier zu sein, der Szene lokal zu helfen und etwas beizutragen.”, sagt er. Die Entscheidung, die er mit Vernunft begründet, zeugt doch von einem tiefen Glauben daran, dass da etwas Wichtiges entstehen könnte. Jikias Überzeugung bestätigte sich schnell: „Bei den ersten Partys vom Bassiani gab es so einen Vibe – es war absehbar, dass das hier richtig groß werden würde.” Es schwingt Begeisterung in seiner Stimme mit.
„Ich habe keine Routine. Ich mache einfach Musik, wenn mir danach ist”
Und obwohl er einen wechselseitigen Einfluss zwischen Bassiani und ihm attestiert, meint Jikia, dass er sich als Produzent ohne den Club ähnlich entwickelt hätte: „Ich würde in die gleiche Richtung Musik machen, die ich jetzt auch verfolge.” Seine wichtigste musikalische Inspiration ist eine andere: Seine Hardware. Als Jikia zu produzieren begann, gab es keine Läden für „Instrumente” (so nennt er es) elektronischer Musik. „Ich musste alles online bestellen. Also hatte ich, abgesehen von Demos oder Videos, keine Ahnung, was ein Gerät machen würde und musste alles selber herausfinden”, erzählt er. Der Kommissar Zufall, der vielen Produzent*innen lediglich bei ihren ersten Releases kreativ in die Hände spielt, schritt bei ihm also mit jedem neuen Gerät durch die Tür. Bis heute hat er keines verkauft. So kommt er manchmal auch auf frühere Fehlkäufe zurück, denen er auf einmal etwas Neues abgewinnen kann.
Stream: HVL – „Sallow Myth”
So sehr er sich auf den Zufall verlässt, so spontan ist Jikias Produktionsprozess: „Ich habe keine Routine. Ich mache einfach Musik, wenn mir danach ist”, sagt er. Eine Aufnahme, und der Track muss im Kasten sein; das sei gerade das Interessante daran. So unbekümmert wie das klingt, sieht Jikia es auch: „Ich stresse mich da nicht wirklich. Ich mache es einfach zu meinem Vergnügen”. Vielleicht ist das der Schlüssel zu seiner Produktivität. Die Residency im Bassiani nimmt ihm zudem finanziell den Druck raus. Jikia findet sich also in einer ziemlich komfortablen Situation wieder. Genauso, wie er es erhofft hatte, als er sich gegen ein Leben in Deutschland entschied und dafür, am Aufbau der Clubszene in Tbilisi mitzuwirken. Überlegt Jikia, mit zunehmendem Erfolg nach Europa zu gehen? Denkt er dass seine Aufgabe in Georgien jemals erledigt sein könnte? „Ich glaube nicht”, antwortet er, und schiebt ein Lachen hinterher. Da bröckelt die schüchterne Fassade endlich.