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Januar 2019: Die essentiellen Alben

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Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jeden Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Dieses Mal mit Chloé, James Blake, Silent Servant und 15 weiteren – ganz neutral in alphabetischer Reihenfolge.

Bendik Giske – Surrender (Smalltown Supersound)


Was ist ein „Ass Drone“? Vermutlich muss man die Sache ganz wörtlich nehmen. Hat der norwegische Saxofonist Bendik Giske sich doch für sein Debütalbum von den Darkrooms Berlins anregen lassen. Dieser Drone jedenfalls geht, Verzeihung, tief rein. Vor allem dank der Zirkularatmung Giskes, die ihn an anderer Stelle, in Stücken wie „Up“, mit pirouettenschlagenden Figuren ohne Unterbrechung in euphorische Höhen vorstoßen lässt. Giske nutzt seine Dauerluftversorgung aber nicht bloß für Klangspiralen, er kann ebenso Sphärenklänge hervorrufen, die allein schon dadurch wie elektronische Musik anmuten, dass er seine Töne als sich stetig wandelndes Kontinuum ohne Pausen gestalten kann. Nicht, dass es keine anderen Saxofonisten gäbe, die von dieser Technik Gebrauch machten. Doch Giske erreicht auf Surrender eine Zartheit und Direktheit – man hört mitunter die Klappen seines Instruments wie eine tribalistische Rhythmusspur – die auf entrückte Art anrühren. Körpermusik, deren Spektrum von undurchdringlich nah bis flirrend gespenstisch reicht. Tim Caspar Boehme

 

Chloé – Endless Revisions Live (Lumière Noire)


Mit Endless Revisions hat Chloé Thévenin 2017 ihr bis dato persönlichstes Album vorgelegt. Auf Endless Revisions Live bringt die Produzentin ihren von zwei Dekaden Club-Erfahrung als DJ gespeisten Autoren-Minimal-Techno konsequenterweise zurück auf den Dancefloor. Wie in einem DJ-Set ineinander geblendet, findet sich gut die Hälfte der Endless Revisions-Tracks hier zu einem Kontinuum verdichtet, in den Übergängen, den leiseren, weniger klangereignisreichen Passagen zwischen den eigentlichen Stücken macht sich die johlende Crowd bemerkbar. Obwohl das Klangbild eher einen Großraum-Eindruck einfängt, wirkt die Stimmung doch intim. Mit ihrer Party und dem gleichnamigen Label Kill The DJ partizipierte Thévenin Mitte der Nullerjahre auch an der Aufmerksamkeit, die Electroclash zu erregen wusste, stellte diesem aber eine Art idiosynkratischen Shoegaze-Minimal mehr gegenüber als zur Seite. Diesen hat sie mittlerweile zu einem Personalstil perfektioniert, in den auch ihre Beschäftigung mit Themen wie elektroakustischer Musik, Film und Installationskunst eingeflossen ist. Dementsprechend klingt auch auf Endless Revisions Live aller Club-Umgebung zum Trotz vieles vorwiegend unaufgeregt, cool, subtil und introspektiv. Das epische „The Dawn“ mit Vocals ihrer Mutter lässt den Schluss zu, dass Fatima Yamahas „What’s A Girl To Do“ auch bei Thévenin auf offene Ohren gestoßen ist, plus ein Schuss Anne Clark. Neu ist das ravige „Moonscape“. Gelungene Pointe zum Ausklang: eine dekonstruierte Fassung ihres Hits „Sometimes“ von der 2003 erschienenen Forgotten EP. Harry Schmidt

 

Croatian Amor – Isa (Posh Isolation)


Mit dem Album Isa schafft Loke Rahbek alias Croatian Amor eine spannende Metamorphose aus experimenteller Clubmusik und Pop. In gerade einmal 35 Minuten reist er auf dieser LP durch alles Spannende, was zeitgenössische elektronische Musik zu bieten hat. Eine Art Dystopie, die nur schwer zu fassen ist, entfaltet sich in Rahbeks Sound. „One day I saw an entirely black airplane in the sky, black all around it and the sky went pitch-black with it.“ beginnt eine kindliche Stimme auf „Eden 1.1“ zu sprechen. Was folgt, sind bizarre Soundeffekte, die eine paranoide Unsicherheit vermitteln. „Point Reflex Blue“ klingt wie Musik, zu der Aliens tanzen würden. Kollaborationen mit dänischen Künstlern aus dem Umfeld von Rahbeks Posh Isolation Label und HTRKs Jonnine Standish ergänzen das Album. Standishs charakteristische, rauchige Stimme wirkt auf „Dark Cut“ wie eine perfekte Ergänzung zu Rahbeks außerweltlichen Sounds. Ein großartiges, hochwertig produziertes Album, das ganz ohne Retrosounds und Genre-Revivals auskommt und dabei einfach nur nach Zukunft klingt. Christoph Umhau

 

cv313 – Glass City Sessions (Minimood)


Für so manchen sind die subaquatischen Bässe des Dub-Techno-Genres die Königsdisziplin elektronischer Repetition. Verständlich, gelingen doch kaum einer anderen Techno-Spielart mit derart reduzierten Mitteln ähnlich immense, dicht texturierte Soundscapes, in denen man nach allen Regeln der Kunst ersaufen will. Ästhetisch im Spannungsfeld zwischen Zukunftsvision und Traum, dürfen sie sich zumeist über zehn, zwanzig, dreißig Minuten oder länger entfalten. Rod Modell, besser bekannt als Deepchord, und Stephen Hitchell haben diese summenden Rhythmusstudien in den vergangenen zehn Jahren zu einer seltenen Meisterschaft gebracht. Als cv313 realisiert Hitchell ohne seinen Partner immersive Longtracks aus Ambient, Techno und Dub, bis auf die zwölfte Kommastelle genau zu gleichen Teilen in analoge Klangfarben eingehegt. Wurde Analogue Oceans im letzten Jahr bereits seinem Namen auf beeindruckende Weise gerecht, geben die nun veröffentlichten Glass City Sessions ihren Titel tonal ähnlich gut wieder. Sphärisch verglast sind sie schon, durchzogen von nächtlicher Metropolenstimmung, an taufeuchten Samplefassaden futuristisch aufgeladen. Gleichzeitig gehören die fünf Tracks zum bislang konzentriertesten cv313-Material, was auch die relativ moderate Spielzeit von knapp 60 Minuten unterstreicht. Trotz pulsierender Bässe: Auf Tanzbarkeit verzichtet man bisweilen gerne zugunsten viszeraler Arrangements, die anfluten und abebben. Hinterher bleibt immer das Gefühl, einen Trip durch exzentrische Fernen erlebt zu haben. Nils Schlechtriemen

 

Deadbeat – Waking Life (BLKRTZ)


Nach Deadbeats wunderbarem und tatsächlich sehr poetischem letzten Release Wax Poetic For This Our Great Resolve geht es auf seinem neuen Longplayer wieder etwas geradliniger daher. Das auf Scott Monteiths eigenem Label BLKRTZ erschienene Waking Life arbeitet sich an Dub Techno-Standards ab, die man nicht unbedingt zum ersten Mal hört, das Genre aber auf facettenreiche Art ausloten. Von unterschwellig marschierenden Acid Lines („Midnight in the Garden“) über den eher geradlinig marschierenden Dub Techno-Blueprint „A Thousand Shining Stars“ bis hin zu den atmosphärischen Subbässen des 14 Minuten-Epos „A Last Swim“ machen die Tracks keinen Hehl aus ihrer Ehrfurcht vor den Ernestus/von Oswald‘schen Heldentaten von damals, aber ziehen ihr Traditionsbewusstsein so konsequent durch, dass man kaum anders kann als auch ein bisschen dankbar zu sein für die kleine Zeitreise. Stefan Dietze

 

DJ Neumann – Rare Appearance (Tax Free)


Warum tritt DJ Neumann so selten in Erscheinung? Und wer ist er überhaupt? Das bleibt vorerst sein Geheimnis. Wie überhaupt die Inszenierung dieses Albums bestens geeignet ist, die gute alte Techno-Haltung vom anonymen Produzenten noch einmal aufleben zu lassen. Die Tracks, die Rare Appearance versammelt – ein gutes Drittel der 19 Titel sind Locked Grooves – haben etwas durch und durch eigenwillig Altmodisches. Klänge, die an schrankwandgroße Modularsysteme denken lassen, Rhythmen, die am Rand der Wahrnehmungsschwelle pluckern wie zu besten Basic Channel-Zeiten. Doch wischt dieses Album über seinen Maschinentraditionssinn hinaus vor allem ganz unbekümmert die Trennlinie weg, zwischen Techno und Ambient einerseits und Tanzen und bewegungslos Abhängen andererseits. Beide „Tätigkeiten“ sind fast immer möglich bei diesen bevorzugt metallisch zirkulierenden Loops, denen man so oder so nicht entkommen kann. Passiert fast nichts und dabei sehr, sehr viel. Tim Caspar Boehme

EPI Centrum – Excrescence (Synewave)


Excrescence beginnt direkt mit einem der stärksten Stücke des Albums: „Abstract Concept Called Impact“ kombiniert zurückhaltenden, aber dennoch energetischen Techno mit einem an Gitarrenfeedback erinnernden stehenden Ton und Percussionklängen wie aus einer Neue Musik-Komposition. Alles bleibt unter dem Siedepunkt, gewinnt aber gerade dadurch immer mehr an Eindringlichkeit. Im Verlauf des Albums zeigt sich dies immer wieder: Jurek Przeździecki alias EPI Centrum traut sich an Dissonanzen und ungewöhnliche harmonische Verbindungen, muss nicht plakativ arbeiten, sondern kann sich die Extreme für gut platzierte Momente aufheben. Im letzten Stück etwa, einem eher dezenten Technotrack in Moll, poppt plötzlich eine Dur-Acid-Line auf, die wie ein Babyelefant mal eben kurz durch das Szenenbild tapst, schnell wieder verduftet und genauso abrupt immer wieder auftaucht. Das funktioniert nur deshalb, weil Przeździecki zum einen ein Händchen für Arrangements hat, zum anderen aber auch wegen seines offenbar gut entwickelten harmonischen Gespürs – denn auch Dissonanzen sollten „stimmen”! Mathias Schaffhäuser

 

ERP – Afterimage (Forgotten Future)


Im Fall von Gerald Hanson waren es die Synth-getriebenen Platten aus dem Detroit der frühen Neunziger, die ihn zum Produzieren bewogen. Die Mischung aus Futurismus, Funk und Melancholie, etwa in Derrick Mays „Another Relic“, setzte den Grundstein für seine Arbeiten als Convextion. Den melancholischen Aspekt hob er ein Jahr später auf seiner ersten Platte als Event Related Potential in den Vordergrund und perfektionierte diesen später so vielfach kopierten Take auf das Electro-Genre ab Mitte der Nullerjahre mit Tracks wie „Lament Subrosa“ und „Vox Automaton“. Neben den Platzhirschen aus Detroit – Drexciya, Dopplereffekt oder Ectomorph – hat der Produzent aus Dallas eine eigene Nische mit enorm viel Wiedererkennungswert geschaffen, die er in unregelmäßigen Abständen mit neuem Material füllt. Afterimage ist nach über 20 Jahren sein Debütalbum. Die Distanz, die Hanson in „Overcast“ oder „Wishing Still“ zwischen den kosmisch klingenden Pads und den spielerisch groovenden Breakbeats schafft, ist zu seinem Markenzeichen geworden. Die eisigen melancholischen Melodien fühlen sich wie die Vertonung unendlich weiter grauer Landschaften an, festgehalten etwa in den Bildern von Michael Kenna oder Ansel Adams. Dieser Duktus zieht sich über die gesamte Platte. „Insomnia“ oder „Remembrance“ wirken in ihrem meditativen, poetischen Charakter sanft und verführerisch, fast zerbrechlich und können doch im richtigen Moment für einen gehörigen Knalleffekt sorgen. Das Nachbild seiner Arbeiten ist es jedoch auch, in dem Hanson sich zunehmend festfährt. Konnte er auf 2845 als Convextion im letzten Jahr noch neue Impulse setzen, könnte Afterimage genauso gut als Reissue durchgehen. Durch die geringe Veröffentlichungsrate sowie die gewohnt hohe Qualität der Tracks sei ihm das im Großen und Ganzen verziehen, es schmälert jedoch die im Vorfeld angelegte Erwartungshaltung an die Platte. Felix Hüther

 

James Blake – Assume Form (Universal)


Schon der erste Song hört sich an wie ein Happy End. Er wolle nun Form annehmen, greifbar und erreichbar sein: Das verspricht Blakes lyrisches Ich einem geliebten Gegenüber schon zum Auftakt. Zugleich formuliert sich da aber auch das musikalische Programm dieses Albums, mit dem sich der einst so zweiflerische Blake zum geradezu optimistischen Popsänger verwandelt. An Stelle verschachtelter Arrangements aus geschichtetem Piano und Gesang finden sich zuckrige Strukturen und feinadrige Beats. Wenn Blake davon singt, wie eine stabile Partnerschaft selbst existenzielle Sinnkrisen wegzuwischen vermag, unterlegt er das schon mal mit Streichquartett und Harfen-Kitsch. Assume Form ist eine zwiespältige Neuerfindung. Es bietet einige herausragende Stücke (etwa das von Metro Boomin vergleichsweise nüchtern produzierte „Mile High“, oder die vorab veröffentlichte Single „Don’t Miss It“), aber eben auch dramaturgischen Leerlauf, denn Blakes beständig vorgetragene Ermutigungsprosa entfaltet auf Albumlänge auch ermüdende Wirkung. Christian Blumberg

 

James Holden – A Cambodian Spring OST (Border Community)


A Cambodian Spring ist eine Dokumentation über drei Aktivist*innen aus Kambodscha, die sich der Verdrängung aus Heimatstadt widersetzen. Aus dem Frust über Zwangsräumungen und regelrechte Vertreibung entsteht eine Protestbewegung, die das ganze Land in Atem hält. Dass James Holden ein Händchen für emotionale Spannungsbögen hat, dürfte spätestens seit seinem letzten Album The Animal Spirits klar sein. So ist er auch für das Thema dieses Filmes eine gute Wahl. Mit „Monk’s Theme“ I bis III untermalt Holden den Auftritt einer der drei Hauptfiguren, einem Mönch. Aus dem energetischen „Solidarity Theme“ ist eindeutig herauszuhören, aus wessen Feder dieser Soundtrack stammt, jedoch nicht auf Kosten des Filmes. Eindrucksvoll begleitet der Soundtrack die leisen und lauten Momente von A Cambodian Spring passend, ohne dabei zu aufdringlich zu wirken. Die Musik unterstützt Handlung und Verlauf des Filmes subtil. Genau so, wie es Filmmusik sollte. Christoph Umhau

 

Jay Glass Dubs – Epitaph (Bokeh Versions)


Miles Opeland und Jay Glass Dubs erscheinen untrennbar. Nach vier Veröffentlichungen auf Bokeh Versions, neben weiteren auf Berceuse Heroique, Ecstatic oder Origin Peoples findet Dimitris Papadatos mit seinem Debütalbum Epitaph beim Bristoler Label erneut ein Zuhause. Und wie Epitaphien in Steinen eingraviert eine unerschütterliche Festigkeit präsentieren, meißeln sich die zehn Tracks, jeder einzelne für sich in seiner akustischen Dynamik, in die Ohrmuscheln der Hörer*innen ein. Die düster vor sich hin pulsierenden Soundmixturen von „Intro“ und „Laid Down“ klingen so, als hätte Thor in jenseitigen Sphären (oder auch nur auf der Baustelle nebenan) dazu einen gewaltigen Dub-Hammer geschwungen. Daneben treffen psychedelische, zwischen Ambient- und Industrial-Charme oszillierende Sounddesigns wie auf „Interlude II“ oder „To My Benefitors“ aufeinander. Das Dub-Suffix, was die vergangenen Track-Titel noch geprägt hat, ist auf Epitaph verschwunden, aber immer noch deutlich hörbar. Wie bisher experimentiert JGD auch auf seinem Debüt mit produktionstechnischen Möglichkeiten und zeigt gleichzeitig neue auf. Der Athener geht sogar noch einen neuen Schritt, indem er Jay Glass Dubs mit seinen zwei anderen musikalischen Alter Egos Ku und The Hydra vereint – mal singend, mal experimentierend in Begleitung von Ben Vince und Yorgia Karidi. Franziska Finkenstein

 

Lowtec – Light Surfing (Acid Test)


Lowtec hat einfach die Ruhe weg. Eine Qualität, die man seiner extrem ausgereiften Musik schon immer attestieren konnte. Ganz ohne Titel kommt sie auf dieser LP für Acid Test, ist dabei trotzdem lebhaft: keineswegs glanzvoll und effektvoll, nein, viel eher schimmert da eine wissende Beflissenheit aus den sich scheinbar mühelos fortbewegenden Tracks. Typisch verspulten Lowtec-Club-Nummern folgt der Bruch mit orchestralen Strings, von wo eine eine Jam-Miniatur schließlich zum schönsten Teil des Albums hinüberführt; hier wächst eine Wand aus wabernden Synths zur großartigen Melange eines Best Of-Kassem Mosse-meets-Levon Vincent. Dass solch ein Album am Ende auch zusammenhängend und in sich abgeschlossen funktioniert – bei Lowtec passiert es wie selbstverständlich. Leopold Hutter

 

Marco Passarani – Wow (Offen Music)


Mit Nature, Pigna und anderen Imprints seiner Final Frontier-Labelfamilie hat Marco Passarani die Electro- und Italo-Renaissance der Nullerjahre entscheidend mitgeprägt. Zwar konnte sich der italienische Producer und DJ, dessen erste Veröffentlichung 1995 als M.Chrome auf Alan Oldhams Generator erschien, mit Alben auf Szene-Institutionen wie Peacefrog oder Running Back auch als Solo-Act unter eigenem Namen (sowie dem Pseudonym Analog Fingerprints, unter dem einige seiner meistgesuchten Releases erschienen sind) etablieren. Kurioserweise sieht es aber von heute aus betrachtet trotzdem so aus, als ob Passarani selbst ein wenig im Schatten seines eigenen Erfolgs zu stehen scheint, seitdem er 2011 mit Valerio Del Prete das Edit-Duo Tiger & Woods gegründet hat. Daran werden auch seine acht neuen Tracks für Vladimir Ivkovics Offen Music nur bedingt etwas ändern können. Mit „Coldrain“, „Cydonia Rocks“ und „Drumy Dream“ eröffnet der Longplayer zwar stark, allerdings nur, um dann in der zweiten Hälfte umso stärker nachzulassen. Detroit, Synthie-Wave, früher House und Electrofunk bilden nach wie vor die Grundkoordinaten in der Musik Passaranis. Was einst als zukunftsweisender Retro-Futurismus auf den Weg gebracht wurde, kehrt nun als nostalgieseliger Klassizismus zum Empfänger zurück. Harry Schmidt

 

Markus Sommer – Untitled Gemütlichkeiten (Pager)

Nach 12“-Veröffentlichungen auf Labels wie Sensual Records, Twig, Colt Music und seinem eigenem Label, Pager Music, hier nun also Markus Sommers Debüt-Album.Untitled Gemütlichkeiten hat der Offenbacher es betitelt, und der Einfachheit (und der Gemütlichkeit?) halber auch alle vierzehn Tracks gleichermaßen, Gemütlichkeit 1-14. Das macht Sinn, strahlen alle vierzehn warm groovenden Housetracks doch genau diese Stimmung aus, laid back, zurückhaltend und doch swingend, mal mit Breakbeats verziert, meist jedoch auf die gerade Bassdrum zählend, schlurfen sie über die Länge des Albums voran, ohne öde oder langweilig zu werden. Fast jedenfalls. Denn einzig die Länge des Albums könnte ihm zur Crux werden. Vierzehn Stücke sind nicht wenig. Dafür versiegt der Ideenreichtum irgendwann dann doch und die Platte läuft Gefahr, ein wenig in Beliebigkeiten zu versinken. Tim Lorenz

 

Montevideo – Temperplane (Tigersushi)


Obwohl die Referenzen sich hier im Sekundentakt den Klinkenstecker in die Hand zu reichen scheinen – bereits der Opener „Funhouse“ klingt wie die Quersumme aus Oasis und den Happy Mondays, während der Titel die Stooges zitiert – wirkt Temperplane, das dritte Album der belgischen Band Montevideo, wie aus einem Guss. Die neun Songs ihres Tigersushi-Debüts sind eine einzige Apotheose der Eingängigkeit. Think, The Cure, Talk Talk, Young Marble Giants, Prefab Sprout, Galaxie 500, Air Miami. Oder aktueller: The Rapture, Hot Chip, !!!, Out Hud, Beta Band, Django Django. Kurzum: (vorwiegend) tanzbarer Indie-Rock mit ungebrochenem Willen zum großen Pop. Wann hat man zuletzt eine derartig lückenlose Reihe von leichter Hand hingeworfener Radiohits gehört? Hintergrundfolie und Bezugspunkt solchen Indie-Rocks bleibt zwar stets der Sound der Psychedelic-Beat-Bands der späten Sechzigerjahre, hier haben aber mehr die Beach Boys als die Byrds Pate gestanden. Aufgenommen in Joakims Crowdspacer-Studio in Brooklyn, gelingt dem Quartett um Jean Waterlot mit „Temperplane“ nicht nur eines der erfrischendsten Alben des jungen Jahres, sondern tatsächlich etwas, das der gegenwärtigen Musiklandschaft bereits verloren gegangen zu sein schien: ein großer Wurf. Maßgeblichen Anteil daran besitzt auch Joakims implizit immer den Synth-Pop von New Order und Fad Gadget mitdenkende Produktion. Mindestens „So What” kommt der Idee vom perfekten Pop-Song damit bemerkenswert nahe. Harry Schmidt

 

Pavel Milyakov – La Maison De La Mort (Berceuse Heroique)


Pavel Milyakov ist umtriebig. Als Buttechno produziert er Ambient und Techno. Er veröffentlicht ihn bei The Trilogy Tapes, Cititrax oder seinem Label RASSVET. Unter bürgerlichem Namen hat der Gitarrist ebenso ein Album sowie EPs veröffentlicht. Auf jenen schätzt er das Experiment ohne Fokus auf den Club. Nun ein Album für Berceuse Heroique. Es spukt. Es schmeichelt. Es liefert intuitive Ideen, welche seine Moskauer Umwelt reflektieren: Keuchende Wohnsilos, ächzende Straßen, majestätische Bauten und andere bezaubernde „Moscow Ambience“. Musik, produziert ohne Marktkalkül. Musik, die ungefiltert aus der Künstlerseele sprudelt und mit Klang dessen Lebensrealität dokumentiert. „Ein wahres Kunstwerk ist die Entdeckung einer neuen Lebensauffassung in der Seele des Künstlers“ schrieb Lew Tolstoi. La Maison De La Mort liefert 16 davon. Sie bringen uns nach Moskau. Und in die Seele des Pavel Milyakov, der die aktuelle russische Gegenwart berührend in Rhythmen und Töne verwandelt. Michael Leuffen

Pom Pom – Untitled II (Ostgut Ton)


Untitled II ist das erste Album, das Pom Pom nicht selbst, sondern über die Ostgut-Schwester A-Ton veröffentlicht, und auch musikalisch ist es eine Überraschung: Den kraftvoll stampfenden Bassdrums, federführend in immerhin rund 40 vergangenen Releases, gönnt man hier eine Pause. Untitled II konzentriert sich stattdessen auf atmosphärische Qualitäten und die dem anonym bleibenden Produzenten ureigene Balance zwischen düsterem Sounddesign und immer wieder aufblitzender Melodiösität. Zunächst werden vernebelte Drones und zu Geisterstimmen modulierte Samples vermischt, dann spielen einsame Synthesizer-Patches zu einem surrendem Klangteppich. Erst später kehren die Beats zurück, mal post-punkig rasselnd, mal mit Electro und IDM-Anleihen. Und just wenn man glaubt, das Album würde nun doch noch den Weg in bekannte Klanggefilde suchen, türmen sich industrielle Klänge zu einer epischen Collage, bevor die LP mit einem entrückten Stück verdubbter Electronica endet. So vielseitig wie auf Untitled II hat man Pom Pom noch nie gehört. Christian Blumberg

Silent Servant – Shadows of Death and Desire (Hospital Productions)


Unglück als Inspiration für ein Album ist eine zwiespältige Angelegenheit. Muss man als Publikum das Leid, das hinter einer Platte steht, beim Hören mitdenken und sein Urteil damit abgleichen? Was die Musik angeht, kann man aus guten Gründen mit Nein antworten. Was umgekehrt nicht heißt, dass einem das Schicksal von Künstlern egal sein muss. Der Produzent Juan Mendez alias Silent Servant gibt für sein zweites Album einen persönlichen Rückschlag als Auslöser an. Musikalisch übersetzt er das in eine stärkere Rückbesinnung auf seine Einflüsse: EBM, Industrial, Postpunk sind herauszuhören. Gegenüber dem dicht-reduzierten Techno des Vorgängers Negative Fascination könnte man das als Rückschritt sehen. Silent Servant lässt es jedoch nicht beim Abrufen von Referenzen. Die kaputten Stimmungen mögen vertraut klingen, bleiben aber erkennbar seine Aneignungen, vor allem bei der Art der Abmischung oder dem Einsatz des Halls. Aus diesen Schichtungen gewinnt Mendez dann ein Techno-Album von heute mit Zutaten von früher. Tim Caspar Boehme

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