Foto: Dusty Groove (WGN Chicago Music Library)
Es ist 2017 und Menschen kaufen immer noch Schallplatten, tatsächlich mehr als in den zwanzig Jahren zuvor. Lässt man ausgelutschte Hipstervorwürfe, Trendfragen und die ewige Diskussion um gefühlte oder tatsächliche Klangqualität mal beiseite, zeichnet sich eine junge Digger-Kultur ab. Diese wurde von Sample-affinen HipHop- und House-Producern oder DJs wie Gilles Peterson mit obskuren Breaks und experimentellen Sounds aus vergangenen Zeiten sozialisiert. Diese Szene befördert ständig neue, aus irgendeinem Grund vergessene Diamanten der Musikgeschichte aus Lagerhallen, Flohmärkten oder von verstaubten Masterbändern an die Oberfläche. Kaum auffindbare Platten werden durch DJ-Sets und Mixe („Track ID anyone?“), Compilations, Edits oder Reissues zu neuen Klassikern und damit auch immer gefragter. Das heißt auch: teurer.
Einerseits müssen sich DJs wie Motor City Drum Ensemble vorwerfen lassen, Second-Hand-Preise zur Explosion zu bringen. Andererseits wird aber nach wie vor von DJs erwartet, dass sie unbekannte, seltene und dadurch eben auch oft teure Platten in ihrer Tasche haben. Das Magazin Electronic Beats berechnete anhand von Mitschnitten, welches finanzielles Kapital in DJ-Sets von etwa Floating Points oder Four Tet steckt. Wer keine Hypothek aufnehmen möchte, muss auf Reissue-Labels zurückgreifen.
Stream: Four Tet & Floating Points – 26th July 2016 (NTS Radio)
Gewinnen und Verlieren im Reissue-Business
Represses und Reissues gibt es seit Schallplattengedenken. Die florierende Szene aber ist in der loungigen Rare-Groove-Epidemie der Neunziger verwurzelt. Labels wie Mr Bongo oder Crippled Dick Hot Wax begannen damals, sich auf Neuauflagen gefragter, seltener Platten zu konzentrieren. Heute erscheinen wöchentlich Neuauflagen spannender Platten über stetig aus dem Boden sprießende Labels. Auf den ersten Blick eine klassische Win-Win-Win-Situation: Der Käuferschaft wird Musik zugänglich gemacht, die im Original kaum zu finden oder gar zu bezahlen ist. Das Label kann seine weitere Arbeit finanzieren und die MusikerInnen erhalten nach Jahrzehnten Geld und Anerkennung für ihre Arbeit. Allerdings bringt der Vinyl-Hype auch die negativen Seiten des Musikbusiness zum Vorschein: Dubiose Geschäftspraktiken, unlizensierte Bootlegs, viel Geheimniskrämerei und eine ausgewachsene Verachtung für alle anderen Kinder auf dem Spielplatz gibt es auch im überschaubaren Reissue-Kosmos.
Einiges davon lässt sich mit dem hohen Arbeitsaufwand erklären, der hinter den meisten Reissues steckt. „Für jedes Reissue, das klappt, gibt es hundert die nicht klappen“, erzählte mir Gareth von Mr Bongo kürzlich bei einem Interview. Das kann daran liegen, dass das Original nicht selten genug ist, um eine Nachpressung zu rechtfertigen wie etwa im Falle vieler grandioser Alben aus der ehemaligen Sowjetunion oder der DDR, die die zentralisierten Planwirtschaftslabels oft in riesigen Stückzahlen pressen ließen, weswegen die Sammlerpreise bis heute niedrig sind. Meist scheitern Reissues aber daran, die Musik zu lizensieren. Die damit verbundene Detektivarbeit kann dank Internet zwar recht schnell vorangehen, genauso aber Jahre von Anrufen, Mails, Reisen und Enttäuschungen mit sich bringen.