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Terre Thaemlitz: „Veränderung ist nicht dasselbe wie ‚Fortschritt’” (Teil 2)

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Zum ersten Teil des Interviews kommt ihr hier.

Der zweite Teil des ausführlichen Interviews von Kristoffer Cornils mit Terre Thaemlitz nimmt die in diesem Sommer in der Halle für Kunst in Lüneburg im Rahmen der Ausstellung Reframed Positions zu sehenden Werke als Ausgangspunkt. Thaemlitz diskutiert sexualpolitische Themen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit als audiovisuelle Künstlerin, spricht genauso aber auch über das Auflegen und das ambivalente Erbe von 120 Midtown Blues, dem bahnbrechenden DJ-Sprinkles-Album, das vor 15 Jahren im Oktober 2008 erschien.

GROOVE: Der Titel deiner Ausstellung Reframed Positions in der Halle für Kunst in Lüneburg impliziert, dass die Werke in unterschiedlichen Kontexten neu gelesen werden können. Interstices beispielsweise, ein audiovisuelles Werk, das sich mit den „korrektiven” Operationen an Intersex-Menschen auseinandersetzt, fühlt sich in Hinblick auf zeitgenössische Debatten um Gender-Transition und sogenannte „anti-trans laws” in den USA sehr tagesaktuell an. Du bist solchen medizinischen Eingriffen gegenüber kritisch eingestellt, ob sie den Menschen nun aufgezwungen werden oder aus eigenem Wunsch heraus stattfinden. Siehst du einen Zusammenhang zwischen dem Werk und jüngeren Entwicklungen?

Ja, ich mache mir über die zunehmende Abhängigkeit von medizinischen Eingriffen Sorgen und bleibe auch weiterhin kritisch gegenüber den Versuchen der Medizinbranche, Varianzen in Gender und Sexualität mit den herrschenden Normen kulturell in Einklang zu bringen. Diese Geschichten sexueller und geschlechtsspezifischer medizinischer Eingriffe sind enger miteinander verknüpft, als viele Menschen im Westen glauben wollen. Und obwohl heutzutage in vielen Ländern Versuche, Homosexualität zu „heilen“, als grausam und fehlgeleitet angesehen werden (ein Gedanke, dem ich natürlich auch zustimme), sind diese Praktiken in vielen Kulturen auf der ganzen Welt weiterhin mit Therapien zur Geschlechtsangleichung verbunden. Ich nehme an, dass dies weltweit ein Problem bleiben wird. Denn unsere binäre Vorstellung von Heterosexualität und Homosexualität sowie die geschlechtliche Binarität (männlich und weiblich) wird auf leitkultureller Ebene von sozialen Systemen geprägt, die auf breitenwirksame Internalisierung und Naturalisierung solcher Binaritäten angewiesen sind, die alles andere ausschließen müssen, um zu funktionieren. Typischerweise ist das natürlich das Patriarchat, aber auch sein Pendant, das Matriarchat.

Die binäre Unterteilung in Hetero- und Homosexualität, auf der so viele gesetzliche Regeln von Familienstrukturen und Sexualität aufbauen, ergibt nur in einer Welt Sinn, in der Menschen in der Lage sind, das andere Geschlecht zu identifizieren und damit ihre Wahl des Sexualobjekts auf die beiden sich gegenseitig ausschließenden Kategorien von männlich und weiblich zu beschränken. Währenddessen stellen Intersexualität und nicht auf Geschlechtsangleichung basierende Formen des Transgenderismus solche binären Unterteilungen in Hinsicht auf Gender und Sexualität auf einer sozio-materiellen Ebene infrage. In ihrer vergleichsweise kurzen Geschichte hat die Transsexualität schnell alle anderen Formen des Transgenderismus in den Schatten gestellt, gerade weil sie einer Form des Transgenderismus darstellt, die am ehesten auf diese binäre Unterteilungen abzielt, sowohl kulturell wie auch finanziell. Auf struktureller Ebene stellt sie für die bestehenden sozialen Systeme tatsächlich die geringste Bedrohung dar.

Investmentfirmen aus der Medizinbranche sind aktiv an der Kultivierung von globalen Märkten beteiligt, was in der Regel bedeutet, dass der Profit an erster Stelle steht. Ich habe mir zum Beispiel einige Statistiken einer westlichen Marketing-Firma aus der Branche angesehen. Sie gehen davon aus, dass der Markt für Transitionstherapien zwischen den Jahren 2019 und 2025 um das Fünf- oder Sechsfache wachsen wird. Das bedeutet, dass eine Branche, die sechzig Jahre brauchte, um auf den Stand des Jahres 2019 zu kommen, in den nächsten sechs Jahren jedes Jahr ein doppelt so hohes Wachstum verzeichnen wird. Diese Art von wirtschaftlicher Explosion ist alarmierend. Ich fürchte also, dass es sehr viele Gründe dafür gibt, wegen derer wir uns Sorgen machen sollten.

Um es klar zu sagen: Es geht mir hier überhaupt nicht darum, in individuelle Entscheidungen einzugreifen oder den Zugang zu medizinischen Dienstleistungen einzuschränken. Wie immer aber bin ich über die Art und Weise besorgt, in der Informationen kontrolliert werden, und wie sich das auf unsere Entscheidungsfähigkeit auswirkt. In der Vergangenheit lag das Problem darin, dass die Kontrolle über Informationen und Zugang bei medizinischen Fachkräften lag, die selbst nicht trans waren. Aus historischer Perspektive heraus gesprochen bestand darin die „Anti-Trans”-Tendenz der Medizinbranchen, weshalb unter Trans-Personen Skepsis gegenüber den Praktiken dieser Industrie herrschte.

Heutzutage befinden wir uns ebenso in einer Boom-Phase dieser Industrie wie auch in einer kulturellen Situation, in der jeder Ausdruck von Zweifel über medizinisches Fehlverhalten von der Mainstream-LGBT-Kultur reflexartig zur Befürwortung von Anti-Trans-Argumentationen umgedeutet wird. Das wirkt sich auf die Art der Informationen aus, die den Menschen für ihre Entscheidungen zur Verfügung stehen. Wenn transsexuelle Menschen nur Zugang zu transfreundlichen Informationen aus Mainstream-Trans-Quellen haben und jede Kritik von denselben Quellen selbst dann als transfeindlich dargestellt wird, wenn sie von transsexuellen Menschen geäußert wird, dann wird damit Werbung für die Medizinbranche gemacht – ob gewollt oder nicht. Für Menschen, die Entscheidungen auf der Grundlage von begrenzten und marktverzerrten Informationen treffen müssen, ergibt sich im Resultat ein erhöhtes Risiko.

Das Thema spielte auch vor Kurzem in einer im deutschen Magazin Texte zur Kunst veröffentlichten Rezension von Reframed Positions eine Rolle. Im Text wurde das Kurationsteam gerügt, weil es nicht in eine Diskussion zwischen mir und dem Chefkurator Lawrence English „interveniert” hatte. In der betreffenden Passage ging es darum, dass Kinder im Falle einer Gender-Identitätskrise eher Hormonblocker bekommen als feministische soziale Hilfsmittel, die dabei helfen könnten, das wegen ihrer Gendervarianz innerhalb eines binären Systems durchlebte Leid zu mildern. Es handelte sich um einen Aufruf zur Zensur. Das ist ein schockierendes Beispiel für die Schwierigkeiten in der Diskussion um diese Themen, von denen selbst Menschen betroffen sind, die seit Jahrzehnten offen trans sind. In Reaktion darauf habe ich einen Brief an die Redaktion verfasst, der auch auf meiner Website veröffentlicht wurde. Darin gehe ich ausführlich darauf ein, wo wir hinsichtlich der Zensur solcher Diskussionen durch dominante LGBT-Positionen meiner Meinung nach derzeit stehen.

Inmitten des aktuellen Marketing- und Informationschaos sehen wir uns mit einer plötzlichen Zunahme von Transitionstherapien konfrontiert, ohne dass dafür ausreichend Bildung oder eine kulturelle Grundlage vorhanden wären. Ich glaube, dass das der maßgebliche Auslöser für den konservativen und reaktionären Backlash ist, dem wir aktuell ausgesetzt sind. Es ist ein politischer Albtraum für all jene, die sich kritisch mit der Medizinbranche auseinandersetzen, weil der Diskurs sowohl von den „Anti-Trans”-Konservativen als auch dem LGBT-Mainstream unterbunden wird. Die traurige Ironie besteht darin, dass der liberale LGBT-Mainstream in seiner Angst vor der extremen Rechten die Rolle der Sittenpolizei übernommen hat, die traditionell von ebenjener Rechten ausgeübt wird, und nunmehr in ihrem Sinne handelt.

Ich denke, ein wirklich bedeutsamer gesellschaftlicher Widerstand gegen die jüngsten politischen Bemühungen, uns in unseren Rechten zu beschränken und zu kriminalisieren, sollte einschließen, dass wir – also Menschen mit einem persönlichen Bezug zu Trans-Themen – in der Lage sind, die verschiedenen mit diesen Themen zusammenhängenden Probleme offener anzusprechen, und zwar sowohl untereinander als auch vor einer breiten Öffentlichkeit. Anstatt einander zum Schweigen zu bringen.

Terre Thaemlitz - Deproduction (2017) by Terre Thaemlitz
Terre Thaemlitz – Deproduction (2017) by Terre Thaemlitz

Ein anderes in der Ausstellung gezeigtes Werk, das auch im Callie’s in Berlin aufgeführt wurde, war Deproduction. In einer Diskussion mit Lawrence English hast du gesagt, dass du dafür wenig Gegenwind bekommen hast. Wie erklärst du dir das?

Tut mir leid, ich kann mich nicht wirklich daran erinnern, das gesagt zu haben. Vielleicht habe ich ihm geantwortet, als er meinte, dass das Projekt weitaus provokativer scheint, als es eigentlich ist, und ihm gesagt, dass ich darauf keine starken Reaktionen erhalten habe? Ich erinnere mich vage daran, darüber gesprochen zu haben, dass Deproduction ziemlich öde ist. Dass, wenn es radikal wirkt, das lediglich ein Anzeichen dafür sein kann, wie öde alles andere ist – statt einen Beweis dafür darzustellen, dass es an sich sonderlich herausfordernd ist. Meinst du das?

Das hast du in jedem Fall gesagt. Im Allgemeinen kann Kunst schnell in einer Echokammer enden: Die Leute nicken sie ab, weil sie sowieso zustimmen, oder aber sie setzen sich damit gar nicht erst wirklich auseinander. Ist das ein Problem, das dich beschäftigt, wenn du deine Arbeit präsentierst?

Das ist sowohl ein Problem als auch eine Unvermeidlichkeit. Vor allem im Bereich der visuellen Kunst wird „politische Kunst” gerne mit tatsächlicher politischer Organisation verwechselt. Tatsächlich aber ist ein Kunstwerk oder ein Stück Musik lediglich die Präsentationsform einer Analyse. Eine These, sozusagen. Ebenso wird der Akt der Erfahrung eines solchen Werks oft mit einem Akt politischer Tätigkeit verwechselt. Denk nur daran, wie viele Menschen sich als „politisch” verstehen, nur weil sie irgendwelche coolen Kunstausstellungen oder Musikfestivals mit einem gesellschaftlichen Oberthema besuchen!

In meinem Verständnis präsentiere ich dem Publikum eine Analyse. Mir ist klar, dass es vielen nicht gelingen wird, sie als Analyse zu erkennen. Das wiederum heißt, dass es ihnen nicht gelingen wird, ihr Potenzial zu erkennen, tatsächliche gesellschaftliche Organisation anstoßen zu können, in die sie sich anderswo einbringen könnten. Die Begrifflichkeiten, die du verwendet hast, und es handelt sich da um absolut normale Ausdrücke, von wegen einer „Auseinandersetzung” mit dem Werk, offenbaren das eigentliche Problem. Es geht nicht darum, sich mit einem Werk an einem bestimmten Ort auseinanderzusetzen, der sowohl kulturell wie sozial kompromittiert ist, ob wir nun von einer Galerie, einem Museum, einer Konzerthalle, einem Club, einem Geschäft, einem Kino oder was auch immer sprechen. Vielmehr geht es darum, ob sich eine Analyse anderswo anwenden lässt oder nicht.

Den potenziellen kulturellen und sozialen Gebrauchswert eines Werkes verorte ich, wenn überhaupt, in seiner sozialen Anwendung. Viel ist das nicht.

Das Auflegen könnte als eine Form der sozialen Anwendung von Kunst verstanden werden. Als Teil des Projekts Reframed Positions hast du auch in der Panorama Bar gespielt und nach einer guten Stunde für eine ganze Weile beatlose Musik aufgelegt. Das ist nicht das erste Mal, dass ich dabei war, als du das an diesem Ort getan hast. Welche Absichten verfolgst du damit in diesem spezifischen Kontext?

Das ist nur ein bisschen romantische Musik für alle, die im Club Sex haben. (lacht)

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass du bei einem vorigen Mal Nina Simones Interpretation von „Sinnerman” in seiner Gänze gespielt hast. Das ist ja wohl kaum ein sexy Stück Musik, oder? Sowieso gehen die Leute nicht nur zum Ficken dorthin, sondern auch zum Tanzen. Die Musik, die du gespielt hast, schien da eher wie ein Kommentar auf bestimmte Erwartungshaltungen oder Normen der Clubkultur, wie „tanzbare” Musik zu klingen hat.

Hmm, nicht zu „Sinnerman” tanzen zu können, scheint mir ein deutsches Problem zu sein. (lacht) Hier in Japan drehen die Leute auf dem Dancefloor völlig aus, wenn der Track gespielt wird. Ich erinnere mich daran, dass ihr da drüben bis etwa zum Jahr 2008 zu nichts außer stampfendem Four-To-The-Floor-Techno tanzen konntet. Zuvor wurde meinen House-Sets in Deutschland mit Feindseligkeit begegnet. Die Leute standen mit wütender Miene vor der DJ-Booth, starrten mir in die Augen, rissen wütend die Arme hoch und schrien „schneller, schneller, du Arschloch!” Da seid ihr mittlerweile weiter. (lacht)

„Der kritische Fingerzeig hinter Midtown 120 Blues ist zuallererst auf mich gerichtet.”

Für mich hat „sexy Musik” nichts mit Klängen zu tun, die mit etablierten Normen der Romantik konform gehen. Die zweite Veröffentlichung auf Comatonse war Anti-Instrumentations von Erik Dahl aus dem Jahr 1994. Er war der Erste, der C-Sound auf die PowerPC-Plattform portiert hat, und es war eine Vinyl-EP mit den ersten drei elektroakustischen Kompositionen, die er mit dieser Software produziert hat. Das waren total abstrakter Digitalsynthese-Kram und massive Drones. Ganz sicher nichts, was irgendwer als konventionell „sexy” bezeichnen würde. Und doch: Als Erik seinem Cousin ein Exemplar der EP gab, haben wir uns sehr darüber gefreut, dass er am nächsten Tag erzählte, wie seine Freundin zu ihm kam und sie dazu gefickt haben. (lacht)

Midtown 120 Blues feiert demnächst 15. Geburtstag. Es ist immer noch eines deiner bekanntesten Werke und wird häufig als eines der besten Alben aus der elektronischen Musik überhaupt genannt. Es wirkt ambivalent, dass eine Platte, die sich dermaßen vehement minoritären Positionen widmet, mittlerweile zum Kanon gehört. Wie denkst du darüber?

In der öffentlichen Wahrnehmung scheint es immer noch viel Verwirrung über die Intention des Albums zu geben. Ich denke, das rührt teilweise von einer Internalisierung der Dogmen über die Beziehung zwischen Musik und Identitätspolitik her – genauer gesagt, dass es sich dabei um eine „Eins-zu-eins”-Beziehung handele. Das ist eindeutig nicht der Fall. Aber wie oft haben sich Menschen mir als „heterosexuelle weiße Cis-Männer” vorgestellt und mir erörtert, dass sie sich nicht sicher sind, ob es ihnen „erlaubt” sei, mir zu sagen, dass ihnen das Album gefällt, weil ihre Identität nicht zu den Themen passt, die darin diskutiert werden?

Es macht mich kirre, daran zu denken, wie dieser Grad an essenzialistischem Territorialismus – der meinen eigenen Grundsätzen komplett entgegenläuft – ein maßgeblicher Teil davon geworden ist, wie das Album kulturell funktioniert. Sowieso: Als Schwuchtel, die mit closets aufgewachsen ist, bin ich mir jederzeit darüber bewusst, dass ich nicht mit Sicherheit weiß, wen jemand hinter verschlossenen Türen oder im Park fickt. Wenn also jemand mit dieser selbstüberzeugten „ich bin ein heterosexueller weißer Cis-Mann, glaub mir”-Haltung auf mich zukommt, besteht immer die Möglichkeit, dass die Dame, wie mich dünkt, zu viel gelobt. (lacht)

Außerdem scheinen sehr wenige Menschen zu begreifen, dass der kritische Fingerzeig hinter dem Album zuallererst auf mich selbst gerichtet ist. Ich habe das Album im Jahr 2008 über Mule Musiq veröffentlicht, das als Label Teil der Gentrifizierungsbewegung von House Music in Europa war. Hör dir nur die Remixe an – das ist alles Techno. Mit Ausnahme des Remixes von Motor City Drum Ensemble kann ich keinen davon in meinen Sets spielen. Wie viele meiner Projekte ist es also als Demonstration der Problematiken gedacht, um die es sich dreht – nicht aber etwa als Lösungsvorschlag der Probleme, die ich darin identifiziere.

Darin drückt sich eine Geste der radikalen oder kritischen Nostalgie aus, die die Narrative und Ursprungsmythen von House Music infrage stellt. Seit der Veröffentlichung des Albums scheint sich die Diskussion über Dance Music gewandelt zu haben: Ihre Genese in prekären Kontexten, die von queeren Menschen und People of Colour geprägt wurden, wird stärker hervorgehoben. Wie hast du diesen Wandel wahrgenommen?

Midtown 120 Blues kritisiert definitiv die Konstruktion und kulturelle Funktion von Nostalgie. Ich bin mir nicht sicher, ob sich der Diskurs wirklich verändert hat. Ich habe über diese Dinge gesprochen, als Midtown 120 Blues herauskam, und auf Routes Not Roots davor, und auf Bassline.89 davor, und auf Sloppy 42nds davor und so weiter, und so fort.

Auf der leitkulturellen Ebene haben sich die politischen Probleme nie verändert, wohl auch, weil sie unüberwindbar sind. Der Leitkultur gefällt es aber, in Intervallen von zehn oder zwanzig Jahren bestimmte Dinge „wiederzubeleben”. Und das scheint strategisch mit dem generationellen Fluss zu tun zu haben und wie dieser Fluss politisch instabil gehalten werden kann, indem Kultur im Kult der Jugend verankert wird. In der Jugend verwechseln wir unsere ersten prägenden Erfahrungen von einer Sache mit ihrer Entdeckung. Der Diskurs, den junge Menschen darum führen, wird in der Regel von einer Dringlichkeit getragen, die fragt: „Warum habt ihr alten Säcke eigentlich nie darüber gesprochen oder etwas dagegen unternommen?”

Tatsächlich aber haben genug Menschen darüber gesprochen und sich obendrein darum organisiert. Diese ergebnislosen Bemühungen werden aber in der Regel unkenntlich gemacht. Das ist auf leitkulturelle Strategien zurückzuführen, die Teleologie ebenso wie die Annahme predigen, dass die Menschen verschiedenen Krisen entwachsen können. Wachstum oder Hoffnung in die Menschheit – das alles wird zum Versprechen einer besseren Zukunft. Aber natürlich handelt es sich um eine Finte.

Während sich Kulturen generationsweise wieder und wieder an einem Thema abarbeiten und sich dabei im Kreis drehen wie ein Tape-Loop, nutzen sich die historischen Echos früherer Anstrengungen ab und verschleifen sich zu etwas anderem, das neue Formen der Entfremdung mit sich bringt. Am Ende steht aber niemals das erwünschte Ziel: die Verbindung mit dem imaginierten Originalobjekt der Aufnahme, das heißt, das Potenzial der politischen Konfliktlösung. Diese Form des Loopens und der Betonung der „Potenziale” der Jugendkultur ist Teil einer Strategie, die auf die Erhaltung und den Ausbau von Macht abzielt, nicht aber auf ihren Untergang. Für die meisten Menschen wird es zur Unmöglichkeit, sich generationenübergreifende Kämpfe überhaupt vorzustellen.

Versteh’ mich nicht falsch: Ich sage nicht, dass sich die Dinge nie ändern würden. Das tun sie. Die Pandemie ist ein typisches Beispiel für rapide und massive globale Veränderungen. Ich meine nur, dass Veränderung nicht dasselbe wie „Fortschritt” ist. Die Sprache von Fortschritt und Hoffnung schafft eine unausweichliche Nebelwand, die Machtmissbräuche verschleiert und uns dazu bringt, sie hinzunehmen. Das ist genauso ein Problem in gesellschaftlich minoritären Kreisen und kulturkritischen Zirkeln wie auch in leitkulturellen Sphären. Das gilt insbesondere, wenn das Verständnis des Minoritären der meisten Menschen von den großen Bildungseinrichtungen oder von Social Media vermittelt wird. Was für ein Abfuck. Und dann haben da jemanden wie Väterchen Chomsky, der den Titel seines Buchs Manufacturing Consent allzu wörtlich nimmt und Panikmache betreibt. Das lässt die alte Garde auch nicht sonderlich weise oder hilfreich aussehen.

Also dann – was tun?

Ich bin Nihilistin und denke nicht, dass es aus diesen kulturellen Verschiebungen auf leitkultureller Ebene einen Ausweg gibt. Bezüglich der Reflektion von Möglichkeiten des Überlebens, des Widerstands und der Funktion auf kulturell minoritären Ebenen denke ich aber, dass es hilfreich sein sollte, wenn soziale Belange nicht auf Menschengruppen reduziert werden. Versteht, dass Identitäten nicht das sind, was uns als Menschen ausmacht! Vielmehr handelt es sich um politische Orte, die sich über Beziehungen zu den Machtstrukturen konstruieren, innerhalb derer die Menschen agieren. Konzentriert euch weiterhin auf materielle Problematiken und nicht auf ethische Missionen! Haltet die materiellen Problematiken im Auge, durch die Ethik konstruiert wird und denen sie dient! Das bedeutet, unser Ethos zu verändern, wie auch wissenschaftliche Annahmen modifiziert werden, wenn sie mit unerwarteten oder widersprüchlichen Daten konfrontiert werden.

Den Schwerpunkt auf Materialismus zu legen, bietet meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit, der Diskussion um Themen wie Rasse, Klasse, Gender, Sexualität und so weiter einen funktionalen politischen Gebrauchswert zu verleihen. Ansonsten sprechen wir nur darüber, welche Emotionen all die verschiedenen Formen der Diskriminierung in uns hervorrufen, und versuchen, uns in diesem Rahmen lediglich besser zu fühlen. Es geht aber nicht darum, auf Gefühle einzuwirken. Wenn überhaupt, geht es um den Abbau von Gewalt in einer Welt, die uns die Auseinandersetzung mit und die Umwandlung der von uns zwangsläufig mitgetragenen gesellschaftlichen Strukturen verunmöglicht.

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