Über einschränkende Erwartungen und Genregrenzziehungen muss sich Angelina Yershova wohl noch nicht so viele Sorgen machen. Nach ihrem erstaunlich frei und souverän aufspielenden Album Piano Abyss vor nicht mal einem halben Jahr folgt nun mit Nachdruck die Resonance Night (Twin Paradox). Darin lässt Yershova ihre klassische Ausbildung am Klavier weiter hinter sich als je zuvor. Das Piano ist zwar immer noch das zentrale Instrument um die ihre Tracks kreisen, aber es ist kaum noch als solches zu erkennen. Ihr Piano ist präpariert, aber nicht mechanisch, wie es von John Cage in der modernen Komposition und von Hauschka im Pop etabliert wurde, sondern digital – was eine wesentlich radikalere Verfremdung des „natürlichen“ Klangspektrums erlaubt. Yershovas Stücke nutzen und verstärken vor allem die vom klassischen Interpreten ungewollten und ungeliebten Nebengeräusche ihres Instruments, die Nachschwingungen der Saiten, die Resonanzen im Holz, das Klappern der Mechanik, um daraus eigentümliche Drone- und Ambient Stücke zu konstruieren, die mit der herkömmlichen Neoklassik nicht viel zu tun haben. Das ist gleichzeitig ein Exorzismus der muffigen Geister der Reproduktion der klassischen Urtexte wie auch ein Weg ihrem Instrument ultimativ treu zu bleiben.
Video: Angelina Yershova – Resonance Night
Mit UnicaZürns Transpandorem (Touch), Oto Hiax’ Oto Hiax (Editions Mego), Kassel Jaegers & Jim O‘ Rourkes Wakes On Cerulean (Editions Mego), Arovanes & Porya Hatamis Organism (Karlrecords) und Kim Myhrs & Lasse Marhaugs On the Silver Globe (Sofa) erschienen gerade fünf Alben mehr oder minder prominenter Duos, die sowohl vom tiefernsten Temperament, in ihrer musikalischen Sprache, wie auch von der Intention ihrer durchweg männlichen Macher her nahe verwandt sind. Fünf Kombinationen gestandener Improvisatoren und Experimentatoren aus England, Frankreich, Deutschland, Japan, Norwegen und dem Iran, die ebenso in anderen Zusammenhängen wie Pop- oder Postrock-Band erfahren sind. Zehn Musiker auf der Höhe ihres Könnens, die angenehm warme Drones aus Modularsynthesizern und digital prozessierten Instrumenten mit subtil eingewobenen Umgebungsaufnahmen fabrizieren. Dafür, dass die Klänge definitiv suchend, erprobend und interessant, dabei aber nie zu fordernd oder konfrontativ auftreten, sind die Arbeiten erstaunlich homogen – in sich und gegenseitig. Am ausfransenden Rand von Ambient ist das gerade noch Möbelmusik, aber dann doch nicht allzu unauffällig. Zugänglich, aber nicht zu glatt. Freundlich, aber das Springmesser immer in der Manteltasche. Jedes Album faltet für sich genommen eine kleine detailintensive Welt auf, die intensives Hören belohnt aber nicht einfordert. Jedes Album ist für sich großartig und ertragreich. Warum nur, bin ich schon wieder so müde?
Stream: Kassel Jaeger & Jim O’Rourke – Wakes On Cerulean (Excerpt)
Poesie kann da helfen. Das bewährte niederländische Drone-Trio Kleefstra | Bakker | Kleefstra bewegt sich auf Dize (Midira) in ganz ähnlichen musikalischen Koordinaten wie die oben erwähnten Duos. Die Feedbacks von Romke Kleefstras vielfach gefilterter und verzerrter E-Gitarre sowie die elektroakustischen Manipulationen Anne-Chris Bakkers spielen in und mit verwandten Konventionen und Forschungsanordnungen. Der Unterschied den das Trio ausmacht liegt in der den Klängen überlagerten Spoken-Word Poetry Jan Kleefstras. Seine opake aber bildstarke Naturlyrik, mit dunkelsatter Stimme auf Holländisch vorgetragen, harmoniert perfekt mit der Musik und macht sie wichtiger, ja sogar stärker, was umgekehrt auch für die Texte gilt. Eine paradoxe Synergie, die Kleefstra, Bakker und Kleefstra in mittlerweile fünf Alben bis zur Perfektion eingeübt und produktiv gemacht haben.
Stream: Kleefstra Bakker Kleefstra – Dize
Sollte es einmal darum gehen die ideale zeitgenössische Verkörperung eines britischen Gentleman zu finden, wäre Simon Fisher Turner ein heißer Titelanwärter. Turner hat sich in den beginnenden achtziger Jahren einer schon zehn Jahre dauernden, vielversprechenden Karriere als vielseitig begabter jugendlicher Popstar und Schauspieler langsam aber entschieden entzogen, mit der experimentellen New Wave Band Deux Filles und mit Arbeiten an Soundtracks für Theater, Tanz und Kino. Letztere waren in ihrer Herkunft und Absicht zwar funktionale Klänge, aber doch immer weit mehr als eine nur geschmacksverstärkende, Emotionen unterfütternde Begleitung. Das gilt besonders dann, wenn sie in den Filmen Derek Jarmans mitspielten. Neben solch zielgerichteter Komposition als Broterwerb hat Turner aber auch immer wieder Soloalben gemacht, die vieles der heute so gängigen Symbiose aus Neoklassik, Ambient und Sample-Loops vorweg genommen hat. Gemeinsames Merkmal seiner so divers auffächernden Arbeit war und ist eine unaufdringliche Perfektion, die sich oberflächlich als Eleganz lesen lässt, die aber immer von unvereinbar scheinenden Unterströmen gebrochen wird. Die lose collagierte und darin immer leicht disparate Ästhetik seiner Soloarbeiten aus den achtziger und neunziger Jahren charakterisiert auch sein jüngstes Großwerk Giraffe (Editions Mego). Heimelige Neoklassik, stark prozessierte Field Recordings und Schleifen aus harschem Synthesizer-Noise formen harte Kontraste, die sich kaum vermittelt gegenüberstehen. Das große Ganze formt sich nur aus dem nicht ausgesprochenen, nicht unmittelbar gegebenen.
Stream: Simon Fisher Turner – Hope Swims
Ähnlich Turner hat sich der eine Generation jüngere Franzose Frédéric D. Oberland in den vergangenen Jahren zu so etwas wie einem Spezialisten der klanglichen Ausgestaltung von Experimentalfilmen und Dokumentationen etabliert. Wie Turner verfolgt Oberland dazu aber noch jede Menge Kollaborationen und Bandprojekte in anderen Zusammenhängen, die sich allesamt vor allem dadurch auszeichnen, dass sie keine Scheu vor pathosbeladenen Momenten zeigen. Sein Postrock-Quartett Foudre! mit Musikern der Toulouser Dronerocker Saåad und der „ondes Martenot“ Virtuosin Christine Ott ist in dieser Hinsicht typisch. Earth [OST] (Gizeh) ist der Live-Mitschnitt eines Konzertes zu einer Aufführung der gleichnamigen Arbeit des Singapurer Videokünstlers Ho Tzu Nyen. Dessen grandiose, historischen Gemälden nachempfundene Bild-Tableaus finden ihr Echo in den düster-nostalgischen wie dramatischen Soundwellen Foudres. Die immer leicht morbide klingenden Soundspitzen die Christine Ott dazu ihrem Synthesizer-Vorläufer entlockt, ergänzen die postapokalyptischen Körperwelten Nyens kongenial. Ohne diesen visuellen Kontext bleibt Earth einfach ein sehr gutes Drone-Album.
Stream: Foudre! – Goliath