Musikalisch kontrastieren sich auf Xen weitläufige, delikate Landschaften, wie in „Failed“ mit den manischen Arpeggios, aus „Bullet Chained“, die er gegen zertrümmernde Bassfäuste ausspielt. „Die Rhythmen, die ich benutze“, wird er Wolfgang Tillmans – von dem auch die Fotos zu diesem Artikel stammen – erzählen, „sind häufig inspiriert von venezolanischer Musik, sehr synkopenlastig. Dein Körper kann den Rhythmus nicht mehr so einfach finden, was ein weiterer Destabilisator der Tracks ist.“ Denn der Hörer soll es sich nicht zu gemütlich in den Tracks machen. „Ich gehe recht freizügig mit der Millisekunde um, auf die der Takt treffen soll, weil man dann wunderschöne Beziehungen zwischen den Klängen wachsen sieht. Ich nehme einen Sound – es könnte ein Drum-Hit oder ein ‚tunk‘ sein – und dupliziere ihn. Dann bewege ich ihn auf dem Keyboard um ein Fünftel höher, oder einem anderen Intervall, sodass der Sound gleichzeitig alle Harmonien aufzeigt, die vorher unsichtbar waren. Pure Magie.“
Video: Arca – Vanity
Auf „Violence“, einem recht kurzen, frenetischen Violinen-Interlude, das sich als eines der wenigen Stücke überhaupt durch die klare Referenzierbarkeit seiner Instrumente auszeichnet, lässt sich gut verdeutlichen, wie andere mögliche Verfremdungstechniken eines Arca funktionieren: „Das ist der einzige Song auf dem ganzen Album, wo ich den Pitch der Streicher nicht ändere. Zum einen sind die Streicher einfach absichtlich verstimmt, zusätzlich benutze ich den Flanging-Effekt auf Anschlag. Ein sehr simpler Effekt, aber wenn man ihn aggressiv einsetzt, verändert er die Frequenz.“
Kopf: Alias der Letzte
„Genres sind fantastisch, denn wenn man sich entscheidet, in einem zu arbeiten, kann man gleich damit anfangen, sie von innen aufzureißen“, sagt Ghersi. Auf seinen ersten EPs Stretch 1 & 2 waren seine HipHop-Wurzeln noch unüberhörbar, aber auch da schon arbeitet Ghersi mit avantgardistischen Zeitsignaturen und verzogenen Pitches, die in einer Art Post-Millennial-Interpretation von Trip Hop mündeten – mit Gothic-Anstrich. Dass Genres von innen zerschlagen werden sollen, passiert nicht erst seit gestern. Seitdem es Genres gibt, gibt es auch Genre-Fusionierung – allein die Ableger von House könnten eine ganze Seite füllen. Neu ist allerdings, dass der Geografie, dem Internet sei Dank, keine Grenzen mehr gesetzt werden und sich die „Agenten des Unbekannten“ an Genres bedienen, die historisch bedingt ins Abseits gedrängt wurden. Das angolanische Kuduro etwa, das sich in seiner Rhythmik häufig durch Lotic-Tracks zieht. So werden Samples und Referenzen zum Politikum, ohne in die Falle der Appropriation zu tappen.
Doch Arca betont ausdrücklich, dass seine Musik ein körperliches und kein intellektuelles Empfinden sei, der Kopf komme immer zuletzt: „Das, was ich in dem Moment produziere, ist Ich in Reinform. Deswegen versuche ich, sehr schnell zu arbeiten: first thought, best thought.“ Dieses Arbeitscredo von Arca hat er sich direkt von seinem großen Idol geliehen, der Person, der er indirekt sein Coming-out verdankt: Arthur Russell. Einen ganzen Sommer lang vergräbt er sich in dem experimentellen und tieftraurigen Kosmos des Avantgarde-Cellisten, hört nichts anderes als seine Musik, schaut den Film, liest die Biografie. Nachdem er die letzte Seite zugeklappt hat, fühlt er sich derart inspiriert, bestärkt und glücklich, dass er beschließt, am selben Tag noch am nächstbesten U-Bahn-Steig einen fremden Mann anzusprechen. Für ihn zuvor unvorstellbar. Er war konditioniert darauf, zweideutigen Augenkontakt mit Männern zu vermeiden. Im politisch repressiven Caracas kannte er keine einzige queere Person. Und dann hat er innerhalb von nur sechs Stunden seinen ersten Kuss und sein erstes Mal mit einem Mann.
Alejandro: Alias der Außenseiter
Es ist verlockend, die Gründe für die „Andersartigkeit“ des Arca-Sounds auch in seiner Biografie zu suchen. Schließlich ist diese geprägt von Umwürfen und Identitätskrisen. Als Ghersi aus seiner Geburtsstadt Caracas nach Connecticut, an die Ostküste der Staaten zieht, ist er drei. Sein Vater hat als Investmentbanker dort einen Job angenommen, die Familie tauscht das instabile und brutale Chávez-Venezuela gegen die „schöne neue Welt“ ein. Wirklich erinnern kann sich Ghersi an die Zeit nicht mehr. Er weiß noch, dass er Unmengen an Cartoons geschaut hat und dass im Keller ein Super Nintendo stand.
Viel prägender war für ihn der Umzug zurück nach Caracas im Alter von neun Jahren. Er fängt an, sich fehl am Platz zu fühlen, hat nicht nur mit seiner aufkeimenden sexuellen Irritation zu kämpfen, er wird in seiner Heimat nicht mehr als richtiger Venezolaner angenommen. „In Venezuela fingen sie dann an mich ‚Gringo‘ zu nennen, und so Sachen. Plötzlich bist du überall Außenseiter.“ Es dauerte eine Weile, bis er dem ein Gefühl der Bestärkung abgewinnen, und den „Außenseiter“ zelebrieren kann.