Aufgewachsen ist Roman Flügel 35 Kilometer weiter südlich in Darmstadt. Nachdem sich Frankfurt mit dem Omen oder dem bereits länger existierenden Dorian Gray zu einem Techno-Epizentrum aufschwang, entwickelte sich bald auch in Darmstadt eine lebendige Szene. Man veranstaltete Partys, Flügel machte seine ersten Gehversuche als DJ. „Ich sprang quasi ins kalte Wasser und habe vor Publikum geübt“, erinnert er sich. „Ein 1210er-Plattenspieler war zu dieser Zeit praktisch unerschwinglich. Wenn man sich mal vermixte, war das egal. Es zählten nur der Moment und die Musik. Ricardo Villalobos tauchte zu dieser Zeit auch schon auf. In Darmstadt und an der Bergstraße war irgendwas virulent, das konnte man fühlen. Damals waren bereits Leute aktiv, die heute noch dabei sind.“
Schon als 13-Jähriger war er in seiner ersten Band, als Schlagzeuger. Es folgten weitere. Doch bereits als Kind faszinierten ihn Synthesizerklänge. Er erinnert sich noch heute daran, wie er Ende der Siebziger „Funky Town“ von Lipps Inc. das erste Mal im Radio hörte. Irgendwann kaufte er sich eine Chicago-House-Compilation, die auf dem Londoner Label Streetsounds herauskam. Die Lunte war gelegt, es kamen ständig weitere House- und Detroit-Techno-Platten hinzu. „Das hatte auf einmal Groove, da war Funk drin! So etwas gab es bei EBM, was ich vorher eine Weile gehört hatte, überhaupt nicht. Diese abstrahierte Musik, in der allenfalls Fetzen von Stimmen oder Vocoder-Vocals drin waren, hat mich total fasziniert. Zwei Jahre später ließ ich meine letzte Band hinter mir. Ich wollte nur noch diese Maschinen irgendwo herkriegen und herausfinden, wie man das macht. Mithilfe von Ferienjobs und Autowaschen sparte ich mir ein kleines Studio zusammen. Das ganze große Ding war mein erster Sampler. Sampler waren damals noch sehr teuer. Es gab aber ein Modell, Ensoniq EKS 16 Plus hieß es, das eine Workstation war. Ich brauchte also keinen Computer. Integriert war ein Achtspur-Sequencer und ein Sampler. Das war natürlich genial. Mit diesem Teil machte ich meine ersten Tracks, die ich auf Vierspur-Kassette aufnahm.“
In Darmstadt traf man sich in jenen Tagen gerne in der Goldenen Krone, einem Indieclub. Dort befand sich im ersten Stock die Rocky Bar, wo einmal die Woche alle abhingen. Unter den Gästen waren auch etliche Musiker. Einer davon war Jörn Elling Wuttke, der früher in einer überregional bekannten Indieband namens The Sheets spielte. Irgendjemand meinte zu Roman Flügel, er solle dem Jörn doch mal eine Kassette mit seinen Demos in die Hand drücken, der hätte in der Garage seines Opas ein Studio. Wuttke rief tatsächlich zurück und war so begeistert von den Tracks, dass er Flügel in sein Studio einlud – woraus 1993 das erste Acid-Jesus-Album und eine 15 Jahre währende Partnerschaft wurden. Veröffentlicht wurde die Platte auf Klang Elektronik, einem der Labels von Ata und Heiko MSO, die auch den Frankfurter Plattenladen Delirium betrieben. Man kannte sich aus dem Omen, natürlich.
Das Delirium blieb für Flügel und Wuttke über Jahre hinweg Dreh- und Angelpunkt aller Aktivitäten. Dort war die Ongaku-Labelfamilie zu Hause, zu der auch Klang Elektronik zählte, später kam noch Playhouse hinzu. Anfangs wurden die Labels aus einem Hinterzimmer des Plattenladens heraus betrieben, später wurde daraus eine richtige Plattenfirma mit Angestellten – bis die große Krise in den Nullerjahren einsetzte. „Keiner von uns hatte die Managementfähigkeiten, diesen Apparat wieder so klein zu kriegen, dass er wieder läuft“, so Flügel.