Das selbstgebastelte Floß liegt versteckt im Schilf, heut’ Nacht soll es losgehen, raus aufs tiefblau blubbernde Wasser, rüber zur anderen Seite. So ungefähr stellt sich Armando Martinez, 1974 in Miami geborener Sohn von Exilkubanern, die Flucht seiner Eltern in die USA vor. Daneben geht es auf seinem Debütalbum als Alpha 606 unter anderem darum, da man halt abtrünnig wird, wenn einem jemand den Mund verbietet. Aber auch darum, dass man eines Tages aus dem Versteck nach Havanna zurückkehren werde, um die Stadt zu befreien. Martinez hat sein Projekt – neben der Roland TR-606 natürlich – benannt nach der paramilitärischen Anti-Castro-Kampfgruppe Alpha 66, die lange Zeit mit Attentaten und Sabotage versucht hat, das kommunistische Kuba zu destabilisieren. Eine solche Grimmigkeit gegenüber der aktuellen kubanischen Regierung ist keine Seltenheit unter den Exilkubanern der USA. Aber man hat so etwas noch nie gehört zu lupenreinem Electro, der eher aus Detroit denn aus Miami zu stammen scheint.
Selten zuvor haben jedenfalls Kulturphänomene aus den USA, Lateinamerika und damit auch teilweise aus Afrika derart leuchtende Funken geschlagen wie auf dem programmatisch betitelten Afro-Cuban Electronics. Klar, es gibt eine lange Liebesgeschichte zwischen elektronischer und lateinamerikanischer Musik – von Plaids „Scoobs in Columbia“ (womit sie vermutlich „Colombia“ meinten, also Kolumbien) auf ihrer Debütmaxi 1992 über Señor Coconuts Latin-Pastiches bis zu Querlinks von Ricardo Villalobos. Hier aber verschmelzen erstmals neue Auslegungen Drexciyanischer Wassermythen auf illegale Migration („Engineered Flotation Device“) völlig mit den Batá-Trommeln der afrokaribischen Santería-Religion oder den Claves-Klanghölzern von Son und Rumba. Gleich das erste Stück „Afriba“ ist wohl ein Hybrid aus „Afrika“ und „Kuba“. Andere Tracks klingen wie Bass-Updates von Miami Sound Machines „Conga“. Bislang vier Maxis hat Alpha 606 damit in den vergangenen zehn Jahren veröffentlicht, aber erst jetzt werden seine mit Holz aus drei Kulturen gebastelten Flöße wirklich schwimmfähig.
Martinez selbst nennt seine Musik übrigens „eine futuristische Hommage an kubanische Kultur“ – was bei den warmgezeichneten Bildern von Buena Vista Social Club und bröckelnden Kolonialbauten, die einem hierzulande zu der Insel meist in den Kopf kommen, denselben reizvollen Widerspruch ergibt wie Conga-Jams zur 808. Aber der politisch vermutlich nicht unbedingt links denkende Martinez meint wohl sowieso eher ein Kuba der Zukunft als das Land in seinem aktuellen Zustand.
Stream: Alpha 606 – Afro-Cuban Electronics (Snippets)