Text: Holger Klein | zur Übersicht der 50 besten elektronischen Alben
Erstmals erschienen in Groove 145 (November/Dezember 2013)
Um es vorwegzunehmen – Blue Lines, das erste Album von Massive Attack ist keine Blaupause für Trip Hop gewesen. Blue Lines ist vielmehr ein Spross jener Soundsystem-Kultur, die in den Städten des Englands der achtziger Jahre aufblühte. Die afroamerikanische Block-Party-Kultur mit einem Soundtrack aus Soul, HipHop und Funk, zeitgenössisch oder aus den Siebzigern, traf auf das musikalische Erbe der karibischen Einwanderer, vor allem auf Reggae – und im Falle des Wild Bunch Soundsystems aus Bristol auch auf Post-Punk. Dieses Soundsystem war in Bristol die treibende Kraft. Die Schlüsselfiguren waren die beiden DJs Mushroom und Daddy G sowie 3D, der den MC-Part übernahm. Aus dem Wild Bunch Soundsystem wurde 1988 Massive Attack. Und so erzählt Blue Lines auch davon, wie in England junge Leute Soul und HipHop auf eine ganz andere Realität übertrugen – auf die eigene.
1988 brachten das Trio mit „Any Love“ eine erste Single in Eigenregie heraus. Smith & Mighy, ein Produzenten-Duo aus Bristol, stand hinter dem Mischpult. Dank Cameron McVie, dem Freund und späteren Mann von Neneh Cherry, kamen Massive Attack 1990 schließlich beim Virgin-Label Circa unter. Mit „Daydreaming“ erschien eine Single, die zwar kommerziell nichts riss, aber aufhorchen ließ. 3D rappte auf denkbar unamerikanische Weise, flankiert vom entrückten Gesang Shara Nelsons. Dann kam „Unfinished Sympathy“ und jenes Video, das sich tief ins kollektive Gedächtnis einbrennen sollte, im Mittelpunkt wieder die göttliche Shara Nelson, die sich auf den Songs von Blue Lines mit Tricky und Horace Andy am Mikrofon abwechselte. Es ist ein Album, das im Sinne seiner Zeit HipHop war: UK-HipHop. Es war ein Produkt der HipHop-Sampling-Kultur, Soundsystem-Klassiker von Lowrell, Issac Hayes, William DeVaughn oder Al Green fanden Verwendung (damals noch rechtlich ungeklärt). Und dennoch wurde es zu Pop. Nie mehr waren Massive Attack so gut. Blue Lines sollte zu einem der allerbesten musikalischen Momente jenes Jahrzehnts werden, das gerade erst begonnen hatte. Und ganz nebenbei zum Soundtrack der noch jungen Rave-Generation.
Video: Massive Attack – Unfinished Sympathy