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Dezember 2025: Album des Monats

Voices From The Lake – II (Spazio Disponibile) 

Schimmert unser Zentralgestirn zur Wintersonnenwende fast auf Augenhöhe am Horizont, tauchen Wälder und Gewässer in andere Spektren aus Farben und Reflexionen ab. Kalte Orte wirken nun warm und schicken voraus, dass aus den langen Nächten eine Zeit der Erneuerung folgen wird. Auch in den ersten Produktionen, die Donato Scaramuzzi (Dozzy) und Giuseppe Tillieci (Neel) 2011 gemeinsam für einen Live-Mix unter dem Arbeitstitel Voices From The Lake zusammenschrauben, geraten naturalistische Szenerien, die kosmischen Kreisläufe und wir Menschen in ihnen zu tonangebenden Leitmotiven. Zwar werden erste Rohfassungen bei einer Nachtfahrt in Dozzys Mercedes zwischen den beiden verhandelt und später von Neel auf einem Tape für Dozzys Hochzeit mit der Künstlerin Koto Hirai gebündelt. Doch gebären die aus einer langen Phase von Jams und Aufnahmen entstandenen Tracks unverhofft mehr und mehr Material, genauer gesagt satte 95 Gigabyte: Destilliert in einem Klassiker, der bis heute als wegweisend gilt – nicht nur für vieles, was danach in Europa zwischen Ambient und Techno erscheint. So kommt das Debüt von Voices From The Lake im November 2012 via Prologue, nachdem es ein Jahr zuvor auf dem Labyrinth Festival in Japan seine denkwürdige Uraufführung an einem See im Wald feiert. Innerhalb weniger Wochen schlägt das Album große Wellen und ist noch davor restlos ausverkauft. Erstpressungen wechseln auf Discogs bereits zu Weihnachten 2012 für dreistellige Beträge den Besitzer. Auch abseits internationaler Techno-Feuilletons wird die Produktionsqualität des Duos gefeiert – manch einer spricht sogar vom Selected Ambient Works 85-92 für die Berghain-Generation.

Es folgen nicht weniger beachtete EPs, ein fulminantes Live-Album über Editions Mego und eine Handvoll weiterer Live-Performances, die von seligen Anwesenden als quasi-religiöse Erfahrungen beschrieben werden. Ein Hype im klassischen Sinne ist das damals wie heute aber nicht. Vielmehr sickert das somatische Sounddesign in Klang und Bild seither langsam und beständig durch die europäische Clubsphäre, inspiriert Kunstschaffende ebenso wie ganze Labels – von Astral Industries bis Northern Electronics, von Hypnus bis Mantis. Ambient Techno als Möglichkeit der Entrückung? Als auditiver Holzstich im Stile Flammarions, der aus dem Hier und Jetzt ausbricht, um zu sehen, was dahinter ist, wie es weitergeht? Sicher gab es dazu auch schon in den Jahren zuvor Versuche, etwa von Wolfgang Voigt, Global Communication oder auch Biosphere. Wenn überhaupt wurden aber nur selten archaische Rhythmik, zeitgenössische Klangsynthese und naturalistische Bebilderung zu einem immersiven Hörerlebnis dieser Qualität fusioniert.

13 Jahre später. Auf dem jetzt über ihr eigenes Label Spazio Disponibile veröffentlichten Nachfolger II spielt das Duo erneut mit einer ebenso eigenwilligen wie eingängigen Soundpalette, die neben Field Recordings und Samples aus zwei Dekaden umtriebiger Produktionstätigkeiten auch genussvolle analoge Modulation bemüht, um eine verschlingende Wanderwelle über die Basilarmembran zu senden. Ganz ohne Widerstand, im Fluss wie alles.

So sind es beinahe instrumentell anmutende Produktionen wie das diesige „Lotus Mist” oder das subtil pochende „Montenero”, an denen sich ein untrügliches Gespür für Sequenzierung, das brillante Mastering dieser Platte, aber auch ihr konzeptioneller Rahmen offenbart. Es tröpfelt und plätschert, quellt und strömt, rieselt und prasselt in minutiös realisierter Definition über die gesamte Länge der zehn Tracks. Und dennoch: II geht im Vergleich zum Vorgänger ein, zwei Schritte weiter in Richtung dunkel eingefärbtem Dub Techno, dessen Bassspuren an und für sich schon ein Beleg für die herausragenden Fähigkeiten der beiden Kindheitsfreunde Dozzy und Neel sind. Wie Nebelschwaden über einem Waldsee schweben auch das von Vogelliedern inspirierte „Mono No Koto” oder die an Klaus Schulze gemahnenden Prog-Synths von „Blue Noa” in ritueller Trance durchs Gehörlabyrinth.

In den tieferen Hertz-Ebenen findet das Duo folgerichtig ein fruchtbares Substrat, auf dem diese kunstvoll ziselierten Reverbs und sehnsüchtigen Pads dem Licht entgegen wachsen können – das ist nicht bloß eine blumige Metapher. Neben dem unbestreitbar vorhandenen Grower-Potenzial stellen Wachstum, Wandel, Wiederkehr tatsächlich konstituierende Grundgedanken dieses Albums dar. Vielleicht ist es also beim finalen „Ian” nicht unbedingt eine bessere Welt, die hier mit kindlicher Trommelmaschine und Windspielmelodie im limbischen Kopfkino beschworen wird – zumindest aber eine andere.

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