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Motherboard: September 2024

Wenn sich der Nebel verzieht und der Regen legt, wird plötzlich klar, wie sich die Zukunft der Mehr-als-Tanzmusik anhören könnte. Nämlich wie Estradas (Latency, 13. September), das Debüt der ungeahnten Kombination aus Nídia & Valentina. Dahinter stecken die afro-portugiesische DJ-Produzentin Nídia und die italienisch-britische Perkussionistin und Historikerin queerer Drums Valentina Magaletti, bekannt von Raime, Tomaga, V/Z und vielen mehr. Wie folgerichtig und logisch das kleinteilig-komplexe Geklöppel von Magaletti im Zusammenhang mit den futuristischen Post-Techno-Footwork-Beats Nídias klingt, ist einfach phänomenal. Die Tracks sind im Ansatz sehr einfach. Oft ist es nur ein einziges Sample, ein Vocal-Fetzen, der im Loop gedreht plötzlich abhebt und von Magalettis oft kontraintuitiven, aber immer perfekt passenden Schlagwerkeleien und Marimba-Linien in etwas ganz Anderes transportiert wird. Und das auf Nídias Beat-Fundament, das eine ganz eigene postweltmusikalische Komplexität in sich trägt.

Die Möglichkeit einer „natürlichen” elektronischen Tanzmusik mit den Möglichkeiten der Welt-(Musik) ist für den Kölner Toningenieur und Produzenten Michael Springer alias Phanton ein Langzeitprojekt. Es hat ihn nach Afrika, letztens nach Daressalam in Tansania und zurück in die hiesigen elektrischen Avantgarde-Achtziger und die Kraut-Siebziger geführt. Trotzdem bleiben Techno, House und Dub keineswegs außen vor. Auf In EXO (Phantonstudio, 7. September) der jüngsten Manifestation dieses weit offenen Ansatzes, findet Phanton zu eher straighten Rhythmen in organischer Produktion balearischer Wärme. Zwischen den nachgerade hittigen Tracks gibt es auf ebenso selbstverständliche Weise experimentellen Ambient und krautlurchige Soundexperimente mit geloopten Vocal-Snippets. Am Ende kommt es immer zusammen zu etwas ultimativ Freundlichem.

Vibraphon und Marimba waren einmal durchaus beliebte Instrumente im akustischen Ambient. Vor allem in Japans Environmental Music der frühen Achtzigerjahre, etwa von Midori Takada und dem Mkwaju Ensemble. Seither haben andere elektrisch verstärkte, elektronische und digitale Klangerzeuger den Stil dominiert. Der Berliner Japaner Masayoshi Fujita hat nun die perkussive Melodik der geklöppelten Hölzer und Metallstangen für Ambient wiederentdeckt und ihre zwischenzeitlich bevorzugten Rückzuggenres Jazz und Minimal Music gleich mit. Das ist eigenwillig genug, um eben nicht nach nostalgischer Retrospektive zu klingen, sondern, im Gegenteil, der gerade etwas müde gewordenen Neoklassik wieder frische Impulse mitzugeben. So spielt Migratory (Erased Tapes, 6. September) ziemlich exakt zwischen den Stühlen, also genau da, wo noch spannende Töne möglich sind.

Dass neoklassisches Piano und Minimal Techno eine zwangserfolgreiche Kombination ergeben, haben zuletzt Richie Hawtin und Chilly Gonzales zwanglos vorgemacht. Die bereits in drei EPs erprobte Kombination von Ostgut/Berghain-Affiliat Patrick Gräser (Answer Code Request) und Pianist Jan Wagner alias „De-Future” beziehungsweise DEFTR mag keine ganz so populär-große Nummer sein, ihr Debütalbum Run Away (NPM, 20. September) lässt dennoch kaum Fragen offen. Denn das Gute an diesem Duo ist: Das Piano muss nicht immer (sogar tatsächlich eher selten) neo-impressionistisch herumklimpern. Und der Techno muss auch nicht immer so minimal und gerade bollern, die richtigen Saugbässe sind aber doch immer da. So ist das ganz eher abenteuerlustige Electronica mit halbem Fuß in der Clubtür.

Ebenfalls in direkter Clubnähe, aber nie so richtig zur Peaktime, bewegen sich die Tracks des Kölner Grafikdesigners und Noorden-Hausproduzenten Alex Ketzer. Auf dem Konzeptalbum Fern (Noorden, 23. August), das wortspielend mit dem englischen Wort für das archaisch unterholzene, feinblättrige Gewächs Farn und dem deutschen Fernweh umgeht, hält sich der gerade Beat auffällig zurück. Und zwar zugunsten atmosphärischen Grummelns und Grollens. Also Bässe und Walddunkelheit, die aber selten zu kompletten Wummertracks werden wollen. Es sind gerade diese experimentelle Unvollständigkeit und die Abwesenheiten in den Stücken, die sie zu etwas Speziellem machen. Obwohl die Ästhetik und das akustische Gesamtbild an Wolfgang Voigts GAS erinnern, ist Ketzers Ansatz doch ästhetisch und inhaltlich ziemlich diametral entgegengesetzt. Variation und Synthese statt Stasis und Loops.

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