Die Rebellionen des Zarten – eigentlich der ungeschriebene Untertitel dieser Kolumne von Beginn an (Dank an Werner Ahrensfeld für die Erinnerung). Die französische Komponistin Sophie Griffon alias Odalie vertont und betont auf Puissante Vulnérabilité (Mesh, 29. September) eine Idee von Fragilität als evolutionäre Kraft, von Kooperation statt Konkurrenz als Chance. Es ist keine Utopie und ebenfalls kein Widerspruch, dass Odalies höchst individuelle Verbindung von Improvisation auf dem Cello und digitaler Post-Club-Dekompression zu schillerndem Avantgarde-Pop in brillanter Produktion eben doch ziemlich kraftvoll zupackt, im sehr Leisen und Ätherischen ganz schön laut werden kann. Sich in verschiedensten Kontexten von Galerien-Konzert, Philharmonie bis Avant-Elektronik-Festival zuhause fühlen darf, sich klangästhetisch allerdings weder bei den Konventionen der Elektroakustik-Installationskunst bedient noch die Immersions- und Überwältigungsstrategien von Shoegaze oder Dream Pop reproduziert. Fein, dass die bislang im Eigenvertrieb publizierende Odalie nun auf Max Coopers Label Mesh eine sehr passende Basis zwischendrin gefunden hat.
Eine Körper- und Geistes-Politik der Fragilität durchwebt ebenfalls den multimedialen Erfahrungsraum des Buch-Musik-Performance-Kunst Projekts Mother Tongue (inklingroom, 22. September) der Dänin Karen Juhl. Zartestmögliche Vokalabstraktion von zeitgenössischem R’n’B und Free Hip-Hop, vorgetragen im selbstbewusst-selbstkritischen Idiom der Spoken-Word-Avantgarde der späten Siebziger. Geheimnis und Gewalt, transformiert zu Stärke und ruhender Kraft. Alles, was es dazu braucht, ist ein dekonstruierter Beat in einem Umfeld avancierter, elektronisch erzeugter Stille. Das ist in aller Kargheit extrem beeindruckend und extrem körperlich.
Zwischen Verwundbarkeit und Resistenz (um die neumodischeren Alternativen Vulnerabilität und Resilienz zu vermeiden, denn die treffen hier nicht wirklich) liegt Renitenz, liegen der Körper und das Pathos der Existenz. Dass die Berliner Komponistin Petra Hermanova für ihr Solodebüt In Death’s Eyes (13. Oktober) visuell die anatomische Venus zitiert und musikalisch ihr bevorzugtes Instrument, eine elektrisch verstärkte Autoharp, von choral vervielfältigtem Gesang und pathosverstärkender Orgel begleiten lässt, hat also System, Konzept und Sinn. Das Fragile findet sich im besten Falle im sakral-kathedralisch Überwältigenden, das wussten schon die Shoegazer. Bei Hermanova allerdings noch eine Stufe abstrahiert und von poetischer Getriebenheit. Schüchtern war einmal.
Die finnische, zwischendurch in Berlin, mittlerweile wieder in Helsinki lebende Sängerin und Multiinstrumentalistin Merja Kokkonen alias Islaja lotet heuer ebenfalls die Abgründe der spirituell informierten Orgelklänge und Choräle aus. Auf Angel Tape (Other Power, 13. Oktober) dabei in erstaunlicher Bandbreite, ohne Scheu vor Modernismen und Zukunftsmusik. Gregorianischer Trap? Kein Problem! Bei Islaja klingen die zeitlich und ideell unterschiedlichsten Dinge ohne die geringste kognitive oder musikalische Dissonanz perfekt zusammen. Ein ganz starkes Debüt für das neue finnische Vinyl-Label Other Power.
Und dessen zweite Laufnummer Stupor (Other Power, 20. Oktober) von KMRU bleibt keineswegs hinter Islaja zurück. Die LP sammelt drei langlebige Ambient-Stücke, die die Besonderheit der produktionellen Fähigkeiten des in Berlin und Nairobi lebenden Kenianers Joseph Kamaru einen und auf den Punkt bringen: Die kluge Verwendung von Field Recordings, subtiler digitaler Prozessierung und eigens eingespielte Spuren aus warmen Synthesizerflächen. In Tracks, die sich jeweils über zehn Minuten entfalten dürfen, sich entwickeln, zu etwas werden und dann wieder zu etwas anderem, Neuem und wieder zurückfinden in die Erdung erkennbarer Feldaufnahmen. Keine Zäsur, aber durchaus eine Bestandsaufnahme, die unter anderem zeigt, dass sich Kamaru in weniger als fünf Jahren zu einem der produktivsten und konsistent hochwertigsten Ambientproduzenten weltweit entwickelt halt. Gekommen, um zu bleiben.
Nach dem Club ist vor dem Club. Gut, dass feinsinnige Post-Club-Experimente inzwischen nicht mehr der pandemischen Zwangspause des Techno-Betriebs nachhängen müssen. Die Berliner DJ und Labelbetreiberin Dasha Rush konnte daher einfach so mal eine Zwischenauszeit von ihren zuletzt recht derbe daherkommenden EBM- und Electro-Techno-Produktionen nehmen und hat für das altbewährte Verlagshaus Raster Media ein nervenstarkes wie zartes Album gemacht, das einige Konventionen über Bord wirft und andere wiederum vertieft und damit einzigartig macht. Contemplating (Raster Media, 29. September) erkennt den labeltypisch abstrakten Minimalismus durchaus an, bedient das altbewährte, gewohnte Idiom aber nur bedingt. Es fehlt (eben gar nicht) die übliche endcoole bis unterkühlte Kargheit. Das Album beweist (als ob ein Beweis nötig wäre), dass ausgeklügelter Konstruktivismus auch in emotional warmen Farben möglich ist. Was sich konzeptuell bis ins Cover fortpflanzt. Collage und Überlagerung, Bauhaus, De Stijl und Sowjetrealismus, die Ahnenlinien der Labelästhetik haben hier Eingang gefunden, wurden allerdings zu mildem Pastell. Was natürlich äußerst passend in den ersten Zwanzigerjahren des neuen Jahrtausends ist. Blaukalt war gestern.