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Motherboard: Oktober 2023

Ein Wendepunkt der musikalischen Zeitalter, ein Start- und Knackpunkt der Moderne war die Einführung des Glissando, des gleitenden Übergangs zwischen ganzen Tönen als fundamentale Möglichkeit, außerhalb der bis dahin etablierten Skalen in mikrotonalen Feinheiten zu agieren. Die kasachische, nach Berlin nun in London lebende Violinistin und elektroakustische Komponistin Galya Bisengalieva hat den Effekt für ihr sensationelles Debüt Aralkum wiederholt mit neuem Leben gefüllt. Auf ihrem zweiten Album Polygon (One Little Independent, 20. Oktober) ist es sogar das zentrale Stilmittel. Dem Thema angemessen, denn das titelgebende Polygon ist ein verstrahltes, lebensfeindliches Testgelände für Atomwaffen in der kasachischen Steppe, eines der weniger bekannten Desaster des Anthropozän. Und es gibt kaum ein besseres Stilmittel als das Streicher-Glissando, um das Unbehagen, den Stress der permanenten niedrigschwelligen Bedrohung, die die nukleare Verseuchung darstellt (und auf hunderttausende Jahre hinaus weiter darstellen wird), in Töne zu fassen.

Es sind die interessantesten Künstler:innen, die es sich nicht bequem machen im einmal Erreichten. Vor allem wenn sich das Gelungene in nur einer Handvoll Studioalben und Soundtracks scheinbar mühelos an die inspirative und qualitative Spitze eines lange etablierten, tendenziell sogar ausgespielt wirkenden Genres wie der Piano-Neoklassik setzt – wie die Arbeit der in Berlin und Warschau lebenden Hania Rani. Vermutlich liegt es daran, dass sich hinter ihren instrumentalen Klavier- oder Keyboard-Arrangements schon von Beginn an ausgewachsen schlaue wie sensible Pop-Stücke verbargen. Geniale Songs, die unterschwellig immer da waren, sich auf Ghosts (Gondwana Records, 6. Oktober) zu folkig-elektronischem Pop mit Vocals und mitunter sogar über sanften Beats erstmals frei entfalten dürfen. Und in diesem Zusammenhang setzt sich Rani ebenfalls direkt an die Spitze.

Nur Avantgarde zu wollen, mag beeindrucken und hin und wieder sogar institutionelle Türen öffnen. Wie lebensfähig es auf Dauer ist, hängt von Künstler:in, den Umständen und Glück ab. Die ganze Zeit nur radikal unzugänglich neutönenden Noise, das wird irgendwann langweilig. Ein sozialverträglicherer Umgang mit dem Künstler:innen-Selbst und dem vorgestellten Publikum wäre, beides zu können (und wollen). Avantgarde und Pop, Neuland und Bewährtes, gerne zusammen, aber nicht gezwungen im selben Stück. Bei Kiki Bohemia, dem Universalprojekt der Berliner Vokalistin und Elektronikerin Karla Wenzel, wirkt die Konvergenz disparater musikalischer und emotionaler Momente völlig organisch und keinesfalls einem kühlen Kalkül geschuldet. Ansonsten vor allem kollaborativ arbeitend, ist those are not songs (blankrecords, 20. Oktober) ihr erst zweites Soloalbum in fast 20 Jahren musikalischer Aktivität. Und es findet hier so einiges zusammen, wie es gehört werden möchte, findet sich in selbstgedachtem und -gemachtem Art-Pop, der jeder Kunsthochschule lange entwachsen ist. Der vom ultimativ unbürgerlichen und unakademisch direktem Doom-Drone und Kraut-Industrial, den sie mit ihrem langjährigen musikalischen Partner, dem Cellisten Tobias Vethake alias Sicker Man, produziert, einiges mitgenommen hat, übersetzt und transformiert, tatsächlich in Popmusik im besten Sinne.

Der Pariser Produzent und Vokalist Niamké Désiré bevorzugt für sein Solo-Projekt Aho Ssan ganz klar die Kollaboration. Und die zahlreichen Gäste, die das nach dem berühmten Arbeitsbegriff der Philosophen Deleuze und Guattari Rhizomes (Other People, 6. Oktober) benannte Konzeptalbum samt Buch bereichern, könnten in dem experimentellen Post-Club-, Noise- und Elektroakustik-Umfeld, in dem sich das Projekt bewegt, kaum prominenter sein. Von der Free-Noise-Poetin Moor Mother über Jazzlegende Angel Bat David mit den Electro-Outsider:innen 9T Antiope und James Ginzburg über die Ambient-Subtilist:innen Nyokabi Kariuki und KMRU bis hin zu Nicolas Jaar und Blackhaine und einigen mehr wuchert das Rhizom, dezentralisiert, wächst sich aus zu ungeahnten unterirdischen Verbindungen. Allein die Idee, die neoklassische Cellistin Resina mit den brutalen Industrial-Indie-Hip-Hoppern clipping. zusammenzubringen ist gewagt wie gewonnen, macht im Rhizom aber zu hundert Prozent Sinn. Letztlich ist das die subtilste und derbste Clubmusik am Ende des Druffiversums. Digital Bratcore ganz zart, manchmal.

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