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Surgeon: „Da tun sich völlig neue Welten auf”

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In diesem Jahr ist Surgeons zehntes Album Crash Recoil erschienen. In seiner mehr als 30-jährigen Schaffenszeit hat er sich als umtriebiger DJ und Musiker einen festen Platz in der internationalen Technoszene erarbeitet. Neben eigenen Werken ist er ein gefragter Remixer für Thom Yorke, Mogwai und Moderat sowie Kollaborationspartner von Ben Sims und im Projekt British Murder Boys aktiv. Wir trafen ihn zu einem Gespräch über seine Arbeitsprozesse, die britische Heimat und die Zukunft der Szene.

GROOVE: Im März dieses Jahres ist dein Album Crash Recoil erschienen. Es ist das Erste seit fünf Jahren. In der Zwischenzeit hast du aber Singles und auch EPs wie The Golden Sea oder Europe Code herausgebracht. Kannst du uns durch deinen Kreativprozess führen? Woher weißt du zum Beispiel, was ein Albumtrack ist und welches Material besser für einen Einzel-Release geeignet ist?

Surgeon: Das ist vielleicht ein bisschen schwer aufzudröseln und zu erklären. Ich weiß auf jeden Fall, wann ein Projekt groß genug ist, um ein Album zu sein. Ich habe noch nie 20 Tracks gesammelt und dann gesagt: „OK, davon wähle ich jetzt acht Stücke aus und mache damit ein Album!” Es ist mehr eine konzeptionelle Sache. Das Album entsteht immer aus einer Idee, und dann erst schaffe ich die Musik. Oder eine bestimmte Technologie gibt mir einen Ansatz für eine Platte. Es ist also mehr so ein Bauchgefühl, das ich habe. Dann weiß ich: Das ist ein Album-Projekt oder eben eine 12-Inch.

Du veröffentlichst seit 1994 Techno und andere elektronische Musik. Ist es für dich leichter oder schwerer geworden, Inspiration zu finden?

Meine Inspiration kommt aus verschiedenen Quellen. Es ist manchmal schon komisch, wenn ich blockiert bin und dann feststelle, dass etwas Inspirierendes die ganze Zeit offen vor mir lag. Ich würde sagen, dass meine Inspiration noch nicht verbraucht ist, weil mich Musik nach wie vor begeistert. Und ich liebe es immer noch, neue Musik zu entdecken. Ich finde ständig neue Musik und Sounds. Da arbeite ich mit einem ziemlich weitmaschigen Netz – damit meine ich nicht nur Techno, Dance Music oder elektronische Musik im Allgemeinen. Ich habe einen breiten Horizont, da kommt meine Inspiration her. Es gibt einen unendlichen Fundus an Musik, die ich noch nie gehört habe, gerade das finde ich aufregend.

Surgeon im Berliner Club Tresor 1995. (Foto: Privat)

Würdest du sagen, dass du einen breiten Musikgeschmack hast, oder sind die Sounds mehr instrumentaler Natur und dienen nur der Stimulation deiner Kreativität?

Ich liebe es, Dinge zu entdecken, die ich so noch nie gehört habe. Stars, die ich nicht kenne, und sogar ganze neue Musikgenres. Vor Jahren hätte ich wahrscheinlich gesagt, dass ich wohl nie Folkmusik finde, die mir gefallen würde. Aber wenn du die richtige Kombination aus Klängen findest oder diese eine besondere Künstlerin, dann ist das was ganz Besonderes. Es geht darum, Dinge zu finden, zu denen ich eine Beziehung aufbauen kann.

Wie wie wirfst du dann deine Netze aus, um dir diese versteckten Künstler:innen und Musik zu angeln? Wühlst du Digging in the crates-mäßig Plattenläden durch oder nutzt du technische Hilfsmittel wie Algorithmen und kuratierte Playlisten?

Ich wühle mich nicht durch die Fächer der Plattenläden, das mache ich online. Außerdem helfen mir Freundinnen, die mir Musikstücke und Künstler empfehlen. Ich habe sehr gute Freunde im Musikbereich, wir teilen miteinander die Sachen, die uns begeistern. Vieles entdecke ich auch über Querverbindungen. Wenn ich Künstler:innen höre, die mir gefallen, oder neue Stilrichtungen, dann beginne ich zu recherchieren. Dann suche ich ihre anderen Titel oder weitere Projekte, an denen sie beteiligt sind. Ich suche Kollaborationen oder frühere Veröffentlichungen heraus. Außerdem schaue ich mir dann sogar an, wer auf den entsprechenden Labels auch noch gesignt ist. Ich versuche dann zu verstehen, wie sich die betreffende Künstler:in in den Musikkosmos einfügt.

Also klassische Mundpropaganda.

Im Prinzip ja. Teilweise eben auch online, bloß kuratierte Playlisten nutze ich gar nicht. Aber wo wir schon von Handarbeit sprechen: Da gibt es noch etwas, das ziemlich oldschool ist. In New Jersey und New York gibt es eine wirklich exzellente Radiostation. Das Radio heißt WFMU und ist ein ziemlich einzigartiger Sender. Es ist ein Free-form radio und wird von den Hörer:innen getragen. Es gibt keine Werbung, weil die Notwendigkeit nicht besteht. Quotenregelungen gibt es nicht, auch die Erwartung an das Musikprogramm, beliebt zu sein oder bekannte Stücke spielen zu müssen, ist nicht vorhanden. Die haben wirklich sehr obskure Shows im Programm. Jedes Mal, wenn ich eines meiner Lieblingsprogramme höre, schreibe ich mir ständig Titelnamen auf. Das sind Sachen, die ich vorher noch nie gehört habe, da tut sich eine völlig neue Welt auf. Das ist eine ziemliche oldschoolige Art, Radio zu hören.

„ich lasse mich nicht stilistisch inspirieren. Die Inspiration ist bei mir tiefgreifend. Ich bin von der Art inspiriert, wie sich Künstler:innen musikalisch ausdrücken und wie sie handwerklich arbeiten.”

Surgeon

Für dich ist das Radio also immer noch ein wichtiges Medium?

Ja. In gewisser Weise ist das ja auch eine kuratierte Playlist – nur eben von Personen gemacht.

Es gibt Streamingdienste, die damit werben, dass ihre Playlisten von Hand entstanden sind.

[kichert] Wow, was für eine bahnbrechende Idee!

Wie bindest du die entdeckte Musik in deine Produktionen ein? Sampelst du die sie oder Segmente?

Das ist ein interessanter Punkt: Wenn ich erwähne, dass mich andere Musik inspiriert, nehmen die Leute häufig an, dass ich das Gehörte duplizieren oder nachahmen würde. Oder samplen würde, wie du es gerade genannt hast. Aber so arbeite ich nicht, ich lasse mich nicht stilistisch inspirieren. Die Inspiration ist bei mir tiefgreifend. Ich bin von der Art inspiriert, wie sich Künstler:innen musikalisch ausdrücken und wie sie handwerklich arbeiten. Ein Folk-Gitarrist kann mich also inspirieren, aber ich werde deshalb keine Steelstring-Gitarre auf meinem neuen Song spielen. Aber etwas von dem, was er macht, geht in meine Komposition ein.

„Zu der Zeit hatten alle DJs irgendwelche dummen Namen. Ich habe da einfach einen ausgesucht. DJ-Namen sind eigentlich immer halb als Witz gemeint.”

Surgeon

Da du Gitarren erwähnst: Welche Instrumente spielst du? Du warst auch mal Teil einer Band, der Prog-Rock-Fusion-Gruppe Blim.

Ich habe immer Keyboard gespielt. Bei Blim habe ich Tape-Loops und andere Geräte genutzt. Das war damals schon sehr elektronisch. Formal habe ich kein Instrument gelernt, ich würde aber sagen, dass ich ein Ohr für Sounds und Musik habe.

Zurück zum Album Crash Recoil: Hat die Corona-Pandemie dein Album in irgendeiner Art und Weise beeinflusst?

Du bist nicht der Erste, der das fragt. Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht, bis mir die Frage gestellt wurde. Für mich steht das Album eindeutig für die Zeit nach der Pandemie. Es steht nicht direkt in Bezug zur Pandemie und den Lockdowns. Die Corona-Phase war für mich ein Shutdown und eine dunkle Zeit. Mir fehlte komplett die Inspiration. Das Album kam nicht durch die Pandemie auf den Weg, das war erst nachher möglich.

Das Cover von Crash Recoil. (Foto: Tresor)

Oft hieß es, dass Musiker:innen in der Pandemie nicht mehr auftreten konnten und deshalb mehr Zeit zum Musikmachen hatten.

Meine Sachen brauchen Motivation und Inspiration. Das gab es damals alles nicht.

Mittlerweile ist wieder etwas Normalität eingekehrt. Die WHO hat die Gefahrenlage nach unten korrigiert. Spürst du sonst irgendwo die Nachwirkungen der Pandemie? Für die Tour zu Crash Recoil hattest du neun Termine. War da noch was zu merken?

In gewissen Bereichen ist alles wie früher, aber ich denke doch, dass sich die Szene verändert hat. Die Veränderungen sind so umfassend, dass sie noch nicht von allen verstanden werden. Zu keiner Zeit im Nachtleben gab es einen anderthalb bis zweijährigen Stillstand auf dem evolutionären Zeitstrahl der Clubszene. Das hat einen großen Einfluss auf ihren Fortschritt und ihre Entwicklung. Gerade für die jüngere Generation war es ein Einschnitt. Alle, die während der Zeit volljährig wurden und zum ersten Mal in Clubs gekonnt hätten, waren besonders betroffen. Man konnte nur streamen, und gerade junge Menschen mussten streamen, ohne je eine Club-Erfahrung gemacht zu haben. Das sind schon Veränderungen, die ich noch nicht ganz überblicken kann.

Die Gigs auf der Tour waren gut, und es war vor allem gut, mit den Leuten zu connecten. Auf einer sehr fundamentalen Ebene hat basic raw techno eine funktionale Qualität. Es ist egal, ob diese Art von Techno gerade angesagt ist, sie funktioniert bei den Leuten immer ziemlich gut. Das ist Musik zum Tanzen, um sich für kurze Zeit in ihr zu verlieren. Seit ich Techno mache, habe ich festgestellt, dass Menschen eine besondere Beziehung zu dieser Musik aufbauen.

„Wenn Menschen, die Techno produzieren, selbst nur Techno hören und deren ganze Welt nur Techno ist, dann wird das alles selbstreferenziell. Ich liebe Musik, die sich nicht an der eigenen Genre-Kategorie orientiert.”

Surgeon

Darf ich dich fragen, wie du auf deinen Künstlernamen gekommen bist? Warum trägst du den Namen Surgeon? Gibt einen Grund für diese medizinische Berufsbezeichnung? Du hattest doch mal Design studiert.

Einen besonderen Grund für den Namen gibt es nicht. Surgeon habe ich das erste Mal 1992 genutzt. Da fing ich an, mit Freunden in Birmingham aufzulegen. Zu der Zeit hatten alle DJs irgendwelche dummen Namen. Ich habe da einfach einen ausgesucht. DJ-Namen sind eigentlich immer halb als Witz gemeint. Bei der Wahl hatte ich keine Ahnung, dass ich den Namen noch 30 Jahre später verwenden werde.

Das heißt, chirurgische Qualitäten wie Präzision und handwerkliches Geschick waren für die Auswahl nicht wichtig. Die Gewissheit über das eigene Können, dass eine gewisse Geschicklichkeit vorhanden ist, war höchstens unterbewusst ausschlaggebend?

Im Rückblick muss ich sagen, dass ich den Namen gut gewählt habe. Die Jahre haben das bestätigt. Wahrscheinlich hat mein Unterbewusstsein schon mitgeholfen, wie du sagst. Aber eigentlich gibt es keinen klar erkennbaren Grund für mein Alias. Zum Glück habe ich damals nichts Lächerliches oder Beleidigendes gewählt.

Da wir schon kurz deine Bandgeschichte angesprochen haben. Würdest du sagen, dass du dadurch ein besser DJ geworden bist?

Für mich ist es wichtig, dass ich aus einem breiten Spektrum an Musik schöpfen kann. Als Produzent ist das echt sehr hilfreich. Wenn Menschen, die Techno produzieren, selbst nur Techno hören und deren ganze Welt nur Techno ist, dann wird das alles selbstreferenziell und selbstbezogen. Ich liebe Musik, die sich nicht an der eigenen Genre-Kategorie orientiert. Was daraus entsteht, ist deutlich persönlicher.

Porträtaufnahme aus dem Jahr 1996. (Foto: Privat)

Vom Bandmitglied bei Blim hin zum DJ und Techno-Produzent war es also eine natürliche Weiterentwicklung?

Ja. Als ich damals mit Blim spielte, war ich bereits an Techno interessiert. Ich kannte nur zwei oder drei Leute, die Techno auch mochten. Damals hielten viele Bands Dance Music für einen Witz. In den frühen Neunzigern war es echt schwer, Gleichgesinnte zu finden. Das ist dann aber über die Jahre gewachsen. Es war schon ziemlich anders damals.

Würdest du sagen, dass dir die Erfahrungen als Bandmusiker bei Kollabos helfen? Etwa bei British Murder Boys oder den Sachen, die du mit Ben Sims gemacht hast?

Ja. Ich denke, dass die Erfahrungen in der Band geholfen haben. Besonders die bei den Shows. Ich genieße es sehr, mit anderen aufzutreten. Ich improvisiere viel, und das ist dann schon wie eine Konversation zwischen zwei Künstlern. Das macht wirklich Spaß und ist vor allem jedes Mal unterschiedlich. Jedes meiner Projekte hat einen völlig anderen Charakter, beeinflusst vom Kollaborationspartner. Mein Spiel verändert sich, abhängig davon, wer mein Gegenüber ist und was er in der Situation tut.

Neben Kollabos hast du einen großen Katalog an Remixen angehäuft. Ist es für dich einfacher, eigene Musik zu schreiben oder Künstler wie Thom Yorke oder Mogwai zu bearbeiten?

Das sind zwei unterschiedliche Vorgehensweisen. Es kann schon Spaß machen, bereits Bestehendes mit einem Remix zu bearbeiten. Am liebsten arbeite ich an Remixen, die nicht in den Bereich Techno oder generell elektronische Musik fallen. Da entsteht eine neue Kombination. Das ist dann nicht bloß ein Techno-Artist, der mit einem Techno-Remix nur eine Variation seines eigenen Stücks sucht.

Genießt du bei genreübergreifenden Remixen die Freiheit, die entsteht? Bei so unterschiedlichen Musikstücken gibt es ja keine Erwartungen, wie das fertige Stück zu klingen hat.

Ich habe da immer ein Gefühl des Neuen. Dabei entsteht eine neue Kombination oder eine neue Fusion. Es ist für mich immer aufregender und inspirierender, wenn ich genreübergreifend arbeiten kann.

„Ich will nicht dort leben, wo die Musikszene ist. Ich mag es, da raus zu sein und das alles zu beobachten. Ich ziehe es vor, zu Besuch zu sein oder zum Spielen vorbeizukommen.”

Surgeon

Birmingham hast ja schon kurz erwähnt. Mich würde der Unterschied gerade zu London interessieren. In Großbritannien gilt Birmingham als UK’s second city. Gibt es dort einen besonderen Sound, der auf deine Musik einwirkt? Sprachlich gibt es ja den lokalen Brummie Akzent, der doch ziemlich melodisch klingt.

Wahrscheinlich. Zum Akzent muss ich sagen, dass ich keinen typischen Brummie-Akzent habe. Ich bin dort nicht aufgewachsen, sondern später erst zugezogen. Wenn man sich mit Karl Regis unterhält [Anm. d. Red.: Karl O’Connor, als Regis bildet er mit Surgeon die British Murder Boys], hört man den typischen Akzent aus Birmingham. In London machen sich die Leute über den nördlichen Akzent lustig.

Bezüglich des Sounds: Es gibt schon einige Künstler:innen, die hier aus der Stadt kommen. Birmingham wurde stark vom Heavy Metal geprägt, etwa durch Black Sabbath und andere. Danach war es Thrash Metal mit Napalm Death, Godflesh und Konsorten. Birmingham hat einen sehr schweren und dunklen Sound. Da steckt auch eine besondere Art von Humor drin. Wahrscheinlich fällt das den Leuten von außerhalb nicht auf. Es ist nicht bloß ein dunkler Sound, ihm wohnt immer ein gewisser Esprit inne. Zusätzlich hat die Stadt eine einflussreiche Dub- und Reggae-Szene. Viele Platten wurden damals direkt aus Jamaika importiert. Steel Pulse, Musical Youth und UB40 kommen alle aus Birmingham. Den Sound würde ich deshalb als eine Kombination aus beschreiben. Das verbindende Element ist die Tatsache, dass es eine sehr schwere und gewichtige Musik ist. Ich meine auch gelesen zu haben, dass Birmingham die am meisten multikulturell-durchmischte Stadt in Großbritannien ist. Die Einflüsse kommen daher aus vielen Bereichen.

Lebst du noch in der Stadt oder bist du mittlerweile andernorts ansässig?

Ich lebe außerhalb von Birmingham, nicht mehr mitten in der Stadt.

Du hattest mal eine Residency im Berliner Club Tresor und bist auch sonst viel unterwegs. Bist du noch zufrieden in Großbritannien oder würdest vorziehen, woanders zu leben und dich von der neuen Umgebung inspirieren zu lassen?

In den Neunzigern gab es mal eine Zeit, als Berlin für mich in Betracht kam. Dann hatte sich aber das Gefühl durchgesetzt, dass ich nie in London oder Berlin leben will. Ich mag es, als Outsider zu arbeiten. Das schließt neben dem sprichwörtlichen Sinn auch den geografischen Ort mit ein. So will ich nicht dort leben, wo die Musikszene ist. Wenn du weißt, was ich meine. Ich mag es, da raus zu sein und das alles zu beobachten. Ich ziehe es vor, zu Besuch zu sein oder zum Spielen vorbeizukommen. Mein Leben soll nicht von der Musikszene verzehrt werden. Politisch gesehen ist England nicht gerade ideal. Die Situation mit dem Brexit ist furchtbar. Das war eine solch schreckliche Idee. Ich bin über meine Familie dort noch verwurzelt und liebe die britische Landschaft immer noch. Das sind wirklich die einzigen Dinge, die mich hier halten. Der Rest des Landes und gerade die Politik kümmern mich nicht.

Surgeon in der bayerischen Landeshauptstadt 1994 – der Münchner Club Ultraschall ist längst geschlossen. (Foto: Privat)

Welchen Einfluss hat der der Brexit für dich als britischen Künstler auf deine Auftritte in der EU?

Ich musste feststellen, dass Versteuerung und Buchführung deutlich komplizierter geworden sind. Bisher weiß keiner, wie da die richtige Vorgehensweise ist. Aber ich kann immer noch spielen und auf Tour gehen. Selbst wenn ich nicht mehr kommen dürfte, würde ich mir andere Wege überlegen, um in der EU zu spielen. Sei es mit einem Visum oder sonst einem Verfahren. Zum Glück ist es noch nicht so weit. Nur die Bezahlung und dann die Versteuerung sind zu einem echten Albtraum geworden.

Gut zu hören, dass man dich also ohne Probleme in Berlin, Brüssel und anderen Städten sehen kann. Gibt es für dich feste Termine im Kalender? Einige Künstler sind zum Beispiel den Sommer über mit Shows auf Ibiza. Hast du ebenfalls Fixpunkte in deiner Jahresplanung?

Ich bin häufig im Tresor in Berlin. Das macht mir viel Spaß, und ich kann da auch die verschiedensten Künstler:innen einladen. Außerdem spiele ich regelmäßig in dem Club, den ein paar Freunde und ich aufgebaut haben. Der Club ist das House of God in Birmingham. Im März dieses Jahres haben wir das 30-jährige Bestehen gefeiert. Das war wirklich besonders. Wir haben die Party organisiert, aber kein Line-up bekanntgegeben. Das machen wir häufig so. Spielen darf dann, wer dort eine Residency hat. Ich bin immer noch einer der Resident-DJs im House of God. Dieses Mal war Jeff Mills da, aber wir haben ihn nicht angekündigt. Das war ein wirklich besonderer Moment.

„Birmingham hat einen sehr schweren und dunklen Sound. Da steckt auch eine besondere Art von Humor drin. Wahrscheinlich fällt das den Leuten von außerhalb nicht auf. Es ist nicht bloß ein dunkler Sound, ihm wohnt immer ein gewisser Esprit inne.”

Surgeon

Springen die Leute auf diese Taktik an?

Der Club ist immer voll. An diesem Abend war er es auch, obwohl niemand von der Überraschung wusste. Ich muss aber sagen, dass es ein kleiner Club ist. Es gehen wohl 300 bis 400 Leute rein, trotzdem ist er etwas Besonderes. Es hat sich eine richtige Community gebildet. Ältere Clubgänger, die schon immer dabei sind, bringen jetzt ihre Kinder mit. Da raven dann Eltern und deren erwachsene Kinder zusammen. [grinst breit] Es ist wirklich ein Vergnügen, das zu sehen. Die Atmosphäre und die Gemeinschaft sind großartig dort.

Das House of God ist eine Sache, die du neben der Musik machst und als Mitgründer angeschoben hast. Dann bist du auch noch Labelboss. Wie ist es für dich, ein eigenes Label zu haben?

Ich führe zwei Labels. Das eine heißt Dynamic Tension, und das andere ist Counterbalance. Die Zwei existieren noch, aber ich nutze sie eigentlich nur, um meine eigene Musik zu veröffentlichen.

Wie entscheidest du, welches Imprint du für welches Release nutzt?

Generell ist Dynamic Tension der Ort für puren Techno und elektronische Musik, wohingegen ich Counterbalance mal geschaffen habe, um samplebasierte Musik mit breiterem Spektrum zu veröffentlichen. Es ist aber schon spannend zu erleben, wie sich Ideen über die Zeit verändern: In den letzten Jahren habe ich vor allem auf Dynamic Tension veröffentlicht.

„Ort” ist ein gutes Stichwort. Gibt es nach über 30 Jahren DJ-Karriere noch Orte, an denen du unbedingt spielen möchtest? Du bist doch gefühlt schon überall gewesen.

Boah, das weiß ich nicht genau. Vor ein paar Wochen hatte ich Termine in Nordamerika. Das war richtig gut. Da war ich schon länger nicht mehr. Ich war in New York und danach habe ich auf dem Movement Festival in Detroit gespielt. Und ich war noch in San Francisco, Denver und Los Angeles. Ein Visum für die USA zu bekommen, war ziemlich schwer. Letztendlich hat es aber doch geklappt. Es war toll, zurückzukehren, weil die Szene sich aufgrund von neuen Leuten verändert hat. Zur Zeit ist die amerikanische Szene ziemlich stark.

Ende letzten Jahres habe ich das erste Mal Gigs in Kolumbien gespielt, und das war eine echt neue Erfahrung. Mir wird niemals langweilig. Sogar im gleichen Club zu spielen, ist niemals genau gleich. Die Menschen sind immer etwas anders. Bei jeder Show lerne ich etwas Neues. Es ist nie so, dass ich denke: „Das hast du schon gesehen, das hast du schon gemacht!” Die neuen Entdeckungen halten mich frisch.

Surgeon 1998 in einem Club in Cleveland, USA. (Foto: Privat)

Merkst du bei deinen Gigs regionale Unterschiede oder sind Techno-Aficionados im Grunde alle ähnlich?

Es gibt da verschiedene Ebenen von Gleichheit und Unterschieden. Auf einer basalen Ebene reagieren Menschen immer gleich auf Techno. Das ist auf der ganzen Welt so. Aber es gibt definitiv regionale Ausprägungen. Diese Unterschiede sind wahrscheinlich den jeweiligen Musikkulturen geschuldet. Dann wird auf Techno anders Bezug genommen, andere Konzepte von Rhythmus und Takt werden angelegt. Ich denke, das macht die Unterschiede aus.

Gibt es eine Zeit, in der du gerne wieder spielen würdest?

Darüber habe ich tatsächlich noch nicht nachgedacht. Ich habe die Technoszene in den frühen Neunzigern und auch in den späten Neunzigern genossen. Aber ich habe immer das Gefühl, dass ich mich vorwärts bewege. Deshalb schaue ich nicht nostalgisch zurück und sage: „Mensch, früher war es großartig!” Now is always the time! Und auf das Jetzt konzentriere ich mich.

„Ich binde mich nicht so sehr an die Form. Auflegen ist für mich etwas, das einen Zweck erfüllen soll.”

Surgeon

Bist du also optimistisch? Es gibt viele, die den aktuellen Stand der Szene beweinen. Die über Entwicklungen gerade in den sozialen Medien frustriert sind.

Ich schätze die Neunziger, aber ich lasse mich davon nicht einschränken und davon abhalten, mein Ding zu machen. Das ist meine generelle Einstellung: Ich bin niemand, der nur zurückschaut. Auf dem Zeitstrahl bewegen wir uns immer vorwärts. Ich gebe jedem Auftritt die Chance, großartig und bedeutsam zu sein.

Sind diese Offenheit und das Gefühl des ständigen Lernens der Grund, weshalb du als technologischer Pionier giltst? Es heißt, dass du einer der Ersten warst, der mit Ableton Live aufgetreten ist oder Native Instruments’ Integration von Vinyl auf Digital genutzt hat.

Wahrscheinlich. Aktuell gefällt mir Soma Laboratory gut. Mein Album Crash Recoil und die Live-Sets basieren auf der Pulsar-23. Das ist mehr als nur eine gewöhnliche Drummachine. Soma Laboratory fokussiert sich auf die Interaktion von Mensch und Maschine. Beim Spielen muss man sich nicht durch Menüs arbeiten und alles programmieren. Meine Art Musik zu machen, passt wirklich gut zu diesen Geräten.

Du bist also vom Vinyl abgekommen? 

Mit Vinyl spiele ich wahrscheinlich seit 23 Jahren nicht mehr.

Ich frage das, weil Vinyl den meisten als der Gipfel der DJ-Kunst gilt. Angeblich braucht man es, um seine Fertigkeiten zu perfektionieren.

Ich schätze Vinyl. Für mich war es ebenfalls sehr nützlich, als ich mit dem Auflegen angefangen habe. Aber ich würde nicht sagen, dass es notwendig ist. „Jeder und jede DJ muss lernen, mit Vinyl aufzulegen!” – diese Regel würde ich nicht in Stein meißeln. Es gibt unglaubliche DJs, die noch nie in ihrem Leben Vinyl gesehen haben. Genauso gibt es großartige DJs, die nur Vinyl auflegen. Wenn das dein Ding ist, ist es auch okay. So ist meine Haltung dazu. Ich binde mich nicht so sehr an die Form. Auflegen ist für mich etwas, das einen Zweck erfüllen soll. Zur Zeit verwende ich CDJs, aber ich habe auch mit Vinyl und Final Scratch [d.Red: Vinyl-Digital-Schnittstelle] gespielt. Für DJ-Gigs habe ich ebenfalls Ableton genutzt, außerdem Ableton mit Modularsystemen. Ich habe viele verschiedene Dinge ausprobiert. Mir hat es immer Spaß gemacht, die Geräte in Kombination auszuprobieren. Ich habe aber gemerkt, dass es keine perfekte Lösung gibt. Jedes System hat seinen Anwendungsrahmen, und es macht Spaß, die Möglichkeiten der Geräte auszuloten. Aber keines davon ist rundum perfekt. Nimm’ einfach das Ding, das dir gefällt, und hab’ deinen Spaß!

Du bist da also nicht dogmatisch

Das ist mir wichtig: Nicht zu dogmatisch sein. Aber wenn Dogma deine Sache sein sollte, dann ist mir das auch recht! [lacht]

Es gibt die Möglichkeit, Einschränkungen und Beschränkungen kreativ zu lösen.

Ich schätze und respektiere den Wert von Beschränkung und Einschränkungen. Das kann dazu zwingen, kreative Lösungen zu finden. Aber zu sagen: „So und nicht anders kann und soll man es machen!”, erinnert schon an Religion. Sobald sich einer hinstellt und das sagt, denke ich sofort: „Ich glaube nicht! Da liegst du falsch!”. Es geht doch darum, alles zu nutzen, mit dem man sich wohlfühlt.

„Ich schätze die Neunziger, aber ich lasse mich davon nicht einschränken und davon abhalten, mein Ding zu machen. Das ist meine generelle Einstellung: Ich bin niemand, der nur zurückschaut. Auf dem Zeitstrahl bewegen wir uns immer vorwärts.”

Surgeon

Schaust du dir denn auch bewusst neue Technologien an? Aktuell ist Künstliche Intelligenz das Thema in der Kreativbranche. Stimmen erzeugen, Drehbücher verfassen oder autonom Songs komponieren. Ist das etwas, was du beobachtest? Von dem du dir vorstellen könntest, es bei deiner Arbeit einzusetzen?

Ich habe KI noch nicht für meine Sachen genutzt. Generell und auch kulturell habe ich da aber ein Auge drauf. Aktuell sehe ich nicht, wie ich das in meine Musik einbringen könnte. Aber wer weiß?

Du siehst KI also nicht als Bedrohung oder potenziellen Ersatz für Producer?

So wie ich das sehe, liegt die Hauptbedrohung darin, dass wir nicht wissen werden, was echt ist oder computergeneriert. Gerade im Bezug auf Nachrichten oder Videos geht der Bezug zur Realität verloren. Keiner wird mehr wissen, ob das Gesehene echt ist. Das wird für die Menschheit noch ziemlich schwer werden.

Vor ein paar Wochen hat ein Song mit Drake und The Weeknd hohe Wellen geschlagen, weil er komplett von KI erzeugt wurde. Keiner der Künstler hat gemeinsam gearbeitet, etwas geschrieben oder war zusammen im Studio. Da gibt es natürlich Potenzial, unterschiedliche Künstler:innen miteinander zu kombinieren und zu remixen.

Aktuell hat KI offensichtlich einen größeren Einfluss in der Pop-Welt. Bei Texten ist mir übrigens etwas Interessantes mit Chat GPT passiert: Ich habe Chat GPT gebeten, eine Rezension zu Surgeons Crash Recoil zu schreiben – die Themen sollen ja eigentlich drei Jahre oder älter sein. In der Kritik wurden Stücke aus früheren Alben aufgelistet, und zum Höhepunkt des Albums wurde eine Zusammenarbeit mit Carl Craig erklärt. Chat GPT hat eine komplett fiktive Rezension geschrieben, aber es so verpackt, dass es glaubwürdig klang. Das ist schon gefährlich, weil man als Unwissender den Text womöglich glauben würde.

Anthony Child alias Surgeon im Jahr 2023. (Foto: Cathrin Queins)

Hast du dir überlegt, diese fiktive Rezension zu nutzen, um ein Remixalbum zu komponieren? Diese Zusammenarbeiten mit Carl Craig anzustoßen, um post hoc dem Text Wahrheit zu verleihen? Ein Album entstehen lassen, das von der Chat-GPT-Rezension inspiriert wurde.

Surgeon: [Lacht] Ich weiß ja nicht. Das ist etwas, das ich nicht wirklich inspirierend finde. Das Ergebnis wäre wohl so dürftig wie Songtexte von Chat GPT. Wenn man Befehle eingibt, wie zum Beispiel „Schreib’ Lyrics im Stile von Nick Cave”, ist das Ergebnis echt nicht gut. Aber vielleicht dauert es nicht lange, bis die KI glaubwürdige Sachen produziert.

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