ASA 808 – Boy, crush (TOYS Berlin)
Bunt, bunter, ASA 808. Das neue Superlativ der regenbogenfarbenen Musik kommt – wie könnte es auch anders sein – aus der Hauptstadt. Die hippe Album-Art vermittelt problemlos, wohin die Reise gehen wird. Aber wer das Photoshopseminar sucht, der muss eine Tür weiter. Auf TOYS Berlin veröffentlicht, sucht ASA 808 mittels waghalsiger Trackutopien sein wahres Ich und wirft Fragen nach Identität und Zugehörigkeit in den Raum.
ASA 808 verbiegt sich in seinen Tracks elegant, wie es sonst nur die Artist:innen im Cirque du Soleil vollbringen. Die sieben Tracks auf der Platte sind sind genau der Wohlfühl-Drahtseilakt, den ein breites Publikum bekannterweise mit Applaus würdigt. Boy, crush beginnt rhythmisch und voller Schwung. Das Stück „Bliss” bringt genau die Glückseligkeit, die es im Titel verspricht. Das beinahe kindliche Spiel mit den Harmonien schlägt auf dem Dancefloor ein, wie einst eine Konfettibombe in der Bar 25. Dass in den darauf folgenden Stücken mit seichten Pop-Arrangements und sanfter Electronica jongliert wird, prägt das Album. Es ist leicht zu hören, will, passend zur Zeit, niemandem auf den Schlips treten. Dass dieses Sicherheitsnetz unter dem Album gespannt ist, schmälert die Werke jedoch nicht. Vielleicht lässt ASA 808 das aber eines Tages auch noch weg. Andreas Cevatli
Bell Towers – Advanced Style (Public Possession)
Mit Junior Mix hat Rohan Bruce Bell-Towers 2020 eines der charmantesten Synth-Pop-Alben des Jahres vorgelegt. Advanced Style setzt den hemmungslosen Achtziger-Affirmationskurs fort, lenkt den discoiden Eskapismus aber in idiosynkratischere Bahnen – zu Recht sprechen Public Possession von seinem „most intimate musical output to date”.
Die zehn neuen Stücke ergeben zwar mit einer halbstündigen Spieldauer eher ein Minialbum, doch Bell-Towers weiß die Zeit zu nutzen. „Ecstatic (Dancing on My Mind)” ist ein entwaffnend runder Italo-Disco-Track, der bereits beim ersten Hören so wirkt, als würde man ihn schon ewig kennen. Mit „I’m Only” folgt ein Human-League-Cover, wobei Bell Towers hier mit dem hymnischen Gestus des Originals bricht. Eine Setzung, die für den Rest des Albums beibehalten wird: Und so klingen auch seine Vocals hier oft weniger nach Neil Tennant als nach Epic Soundtracks oder auch mal nach Timmy Thomas. Trotzdem natürlich mit reichlich Vocoder-Make-up, ist klar.
Das Lasergun-Instrumental „Territory (Phone Home)” präsentiert den Soundscape-Producer Bell-Towers. „Scaffolding For Support” könnte man Bubblegum-Hi-NRG nennen. Schlechthin umwerfend ist „No, Not Today” – auf diese Heute-nicht-Ballade könnten dann doch auch die Pet Shop Boys wieder ein wenig neidisch sein. Natürlich ist das ein Fall für die Retro-Polizei, aber die Begeisterung für das nostalgische Objekt der Begierde ist eben doch eine ganz zeitgenössisch-aktuelle. Harry Schmidt
Björk – Fossora (One Little Independent)
Pilzmetaphern, Bassklarinetten und Gabber-Gewummer: Es björkt mal wieder. Für Fossora wurden die Karten neu gemischt. Hatte die kollaborationsfreudige Produzentin für die vorigen Alben noch intensiv mit Arca zusammengearbeitet, entstanden drei der insgesamt 13 neuen Stücke mit Kasimyn von Gabber Modus Operandi, weitere Features kamen mit Singer/Songwriterin Emilie Nicolas, Post-R’n’B-Sternchen Serpentwithfeet, dem Ensemble Murmuri sowie Sohn Sindri Eldon Þórsson und Tochter Ísadóra Bjarkardóttir Barney zustande. It’s a family affair.
Das ist nur konsequent, standen am Anfang doch der Tod der eigenen Mutter und das Leitmotiv von Pilzen, diesen biologischen Sonderfällen. Weder Lebewesen wie Menschen und Tiere noch Pflanzen im eigentlichen Sinne, kategorisch wie praktisch überall anschlussfähig und doch für sich stehend: Eine größere Steilvorlage hätte es nicht geben können. Auf musikalischer Ebene spielt Björk das im Miteinander von zeitgenössisch komponierter Musik – Klarinetten, Streicher-Arrangements, komplexe Vokalakrobatik – und ratternden oder rumsenden Beats durch, über denen sie das R rollt wie Till Lindemann und ansonsten auf stimmlicher Ebene rumbjörkt wie gewohnt. Fossora ist ein archetypisches Björk-Album und keinesfalls ihr schlechtestes, die Überraschungen indes bleiben aus. Kristoffer Cornils
Carl Cox – Electronic Generations (BMG Rights Management)
Eine meiner ersten näheren Begegnungen mit Carl Cox ereignete sich 1995 auf einem Musikfestival im französischen Rennes, das für sich ziemlich unvergesslich blieb, weil Daft Punk dort noch ein Konzert ohne Helme gaben. Weil es eine staatlich organisierte Veranstaltung war, mussten DJs zur Musikrechteabgeltung nach ihrem Auftritt eine Liste ihrer gespielten Tracks ausfüllen. Carl schaute mich etwas ratlos an und fragte, ob ich ihm helfen könnte, denn sein DJ-Koffer bestand aus sehr vielen White Labels, von denen er nur bedingt wusste, welche Platte das jetzt wirklich war. Mit Taschenlampe begann dann die Namenssafari und nach 15 von gefühlt 50 Stücken wurde die Liste als vollständig deklariert. Großes Lachen, Handshake. Und genau das ist und war mein Eindruck von Carl Cox: Ein Arbeiter vor dem Herren, dessen einnehmende Präsenz ihn nahezu zwingend zum Entertainer macht.
Carl Cox ist nicht erst auf einer der oberen Stufen der Erfolgsleiter angekommen, seit die Wembley-Arena in seinem Tourkalender vorkommt. Dennoch bleibt immer eine Leerstelle, die er (vielleicht sogar bewusst) nicht füllen will. Denn so wie seine DJ-Sets sind auch seine eigenen Tracks seit jeher extrem funktional und damit auch weitgehend gesichtslos. Und genau diesen Eindruck kann auch sein erstes Album seit zehn Jahren nicht wirklich ändern. Da reihen sich 17 Tools aneinander, die dann durch zwei „Singles”, Zusammenarbeiten mit Fatboy Slim und Nicole Moudaber plus Remixe, ergänzt werden.
Viele der Tracks wie „Deep Space X” oder das 909-Gewitter plus Distortion-Pedal namens „World Gone Mad” würden perfekt in jedes Techno-Set zwischen drei und sechs Uhr passen, wirken aber gleichzeitig auch wie Stücke, die auf jedem Peloton den Drehzahlmesser höherschrauben sollen. In „Keep The Pressure On” britzelt eine böse Acid-Line zu Old-School-Low-Toms und Handclaps, wird aber dann recht unsanft und lieblos nach vier Minuten ausgeblendet. Die leichteste Note haben noch der namensgebende Opener oder auch „Our Time Will Come”, das sehr an die frühen Stücke von Dave Angel erinnert.
Wieder einmal stellt sich hier die Frage: Warum nennt man so etwas „Album”, wenn die Spannungskurve nahezu aller Tracks nur einem geraden Zollstock gleicht? Carl Cox betont immer wieder seine Acid-House-Vergangenheit, aber alle seine klanglichen Zitate laufen zu schnell auf Stapelware heraus, in dessen Zwischenräumen kein Platz für eine Geschichte oder Erzählung ist. Auch seine Evolutionsanspielung durch die Roboter auf dem Cover findet sich nicht in der Musik wieder. Selbst ungemein monotone Tracks können ja ihr eigenes Leben entwickeln, wenn sie sich selbst den Raum lassen, allen Einzelelementen eine eigene Bühne zu geben. Dies lässt Carl Cox leider zu selten zu. Er denkt in Breitwandperspektive, die immer an Überforderung grenzt.
Vielleicht wäre die Frage nach Tracks anderer Bauart und Dramaturgie aber auch so, als würde man von James Cameron oder Jerry Bruckheimer verlangen, einen Kurzfilm zu drehen. Ich kann nur im Kopf und Ohr keine Geschichte erkennen, an die ich mich am nächsten Morgen oder Jahre später noch erinnern kann. Im Gegensatz zu der Nacht in Rennes, als die Roboter noch keine Helme trugen. Gregor Wildermann
Daphni – Cherry (Jialong)
Als die Indie-Kids mit den Röhrenhosen dereinst den Dancefloor für sich entdeckten, bot ihnen Dan Snaith mit Caribou eine leicht goutierbare Einstiegsdroge und legte wie ein guter Ticker als Daphni das harte Zeug gleich nach. In dem Jahrzehnt, das auf seinen Überhit „Ye Ye” folgte, hat sich der Kanadier auf zwei Alben und einigen EPs auf einen Von-DJs-für-DJs-Ansatz versteift, der sich ausgiebig an der musikalischen Vergangenheit und bekannten Tropen bediente und bisweilen danebengriff: Sein Edit von Paradises „Sizzlin’ Hot” war besorgniserregend schlecht.
Sein drittes Album Cherry lässt mit Ausnahme eines unfassbar bescheuerten Interludes auf Basis von Surfaces „Falling In Love” nach dem Nach-drei-Drinks-Theo-Parrish-versucht-aber-auf-den-Filtern-ausgerutscht-Prinzip weitgehend die Finger von dermaßen historischem Material und fährt damit in der Regel gut. Die erste Hälfte wird von spröden, bleepigen Tönen und redundanten Rhythmen dominiert – aggressiver, jammiger und zugleich fokussierter klang Daphni selten.
Nach und nach lichtet sich das Stimmungsbild aber, wird der Sound verspielter und freundlicher. „Cloudy” beweist über einer zirkulären Klaviermelodie mittels eines verhackstückelten Vocal-Samples eindrucksvoll, dass Snaith noch etwas Restgespür für gekonnte Sampelei hat. Und unterstreicht damit, was dieses Nebenprojekt damals so attraktiv machte. Kristoffer Cornils
Euroshima – Gala (Dark Entries)
Wir schreiben das Jahr 1987. The Cure und Swans, Bauhaus und Cocteau Twins geben Wavemusik und Gothic Rock eine Tiefe, die sich durch den lustvollen Umgang mit Effekten wie Delay, Echo oder Chorus, den Einsatz von Drum Machines, Tape Loops und raunenden Vocals ebenso definiert wie durch existenzialistische Narrative. Nicht nur in Europa ist dieser Stil aufgrund seiner Produktionsweise und thematischen Nähe gerne mit Darkwave, Post-Punk und Dream Pop im Bett und darüber hinaus derart anziehend für jugendliche Subkulturen, dass er später ein ganzes Jahrzehnt in der kollektiven Erinnerung färben wird.
Auch auf dem südamerikanischen Kontinent, und hier vornehmlich in Argentinien und Brasilien, feiern Bands wie Fellini, Sobrecarga, Sumo oder Euroshima für ein paar wenige Jahre große Erfolge und etablieren sich als eigenständige musikalische Kraft. Zunächst surfen Majors vom Kaliber CBS, EMI oder Polygram den Hypetrain, lassen die Bands aber oft schon nach zwei, drei Alben hängen und ermöglichen ihnen eben nicht den Sprung über den Atlantik in die europäischen Märkte. Vor allem aus künstlerischer Sicht ein Jammer: Euroshima hatten nämlich schon ein Jahr nach ihrer Gründung das Potenzial, auch bei uns zum ganz heißen Scheiß zu avancieren. Das Debüt- und gleichzeitig letzte Album Gala (1987) entwirft in einer guten Dreiviertelstunde ziemlich makellose Symbiosen aller oben genannten Einflüsse und Projekte, die während der Achtziger dabei halfen, die Musikindustrie vor sich selbst zu retten.
Als MIDI-Standards und Sampling parallel en vogue wurden, hatten Euroshima den Dreh ebenso raus wie ihre nordamerikanischen und europäischen Gegenstücke – Songs in der Dramatik eines „Ejército Del Odio” oder das überwältigende „Esfumados Sueños” legen davon eindrucksvoll Zeugnis ab. Es ist eine gewisse Sinnlichkeit und Sehnsucht, der diese Band fieberartig nachjagt. Riffs wie kribbelnde Fingerstreiche über deine Oberschenkel, die Vocals von Sängerin Wanda voller Emphase und Verve, die Modulation wet wie deine Augen.
Doch hinter und unter allem thronen jene ultraorganischen Drums der TR-707, die kurze Zeit später House Music prägen sollten und denen trotz ihrer damaligen Popularität nur auf wenigen Alben während der Achtziger so viel Entfaltungsraum gegeben wurde wie auf Gala. Dass nach 35 Jahren nun via Dark Entries erstmals ein Reissue gelungen ist, spricht einerseits für die Kuration des Labels, andererseits aber auch Bände darüber, wie kriminell unterschätzt dieses Ausnahmealbum seit so langer Zeit ist. Nils Schlechtriemen