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Tresor 31: Atlantis am Potsdamer Platz

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Sie haben nicht wirklich– doch: Der alte Tresor oder das, was in einer anderen Zukunft davon übrig geblieben wäre, ist im Format 1:1 vom Künstler Anne de Vries aus Sand, Lehm und Wasser nachgebaut worden und kann derzeit betreten werden. Auf über 40 Meter erstreckt sich im dritten Obergeschoss des Berliner Kraftwerks die fiktive Ruine des legendären Berliner Technoclubs in der Leipziger Straße. 1991 nahm hier, in der Brachlandschaft nahe der kürzlich aufgelassenen Todeszone, nicht nur eine der zentralen Institutionen der deutschen Technobewegung ihren Anfang, sondern entstand auch die architektonische Blaupause des Ortes „Technoclub” überhaupt. Anlässlich des 31-jährigen Geburtstags begibt sich der Tresor derzeit auf die Suche nach seiner eigenen Vergangenheit und Bedeutung, und möchte einen Mythos weiterschreiben.


Anne De Vries: Stomping Ground (Foto: Simon Popp)

Am Eingang werden Kopfhörer ausgeteilt – der Besuch im Kraftwerk an der Köpenicker Straße wird völlig isoliert unter einem Sennheiser-Setup verbracht, das die Bewegung und Position verfolgt. Durchgehend wabern unter dem Kopfhörer Ambient- und Technotexturen, nähert man sich einem Kunstwerk oder Ausstellungsstück, tritt man in eine andere akustische Umgebung ein.

Wie große Banner oder Stoffbahnen hängen mehrere Leinwände in das Erdgeschoss des Kraftwerks hinab. Der ersten Projektion nähert man sich von hinten – und funktioniert die Ortung im Raum, dann ertönen bald die erregten Stimmen von Dimitri Hegemann, Jeff Mills, Anthony Child alias Surgeon oder Cristian Vogel, die neben anderen Protagonist:innen Anfang der Zweitausenderjahre von Filmemacher Michael Andrews festgehalten wurden und aufgebracht von persönlichen oder künstlerischen Entwicklungen berichteten, die alle vom Berliner Tresor ausgingen. Zu diesem Zeitpunkt war das Ende des alten Clubs in der Leipziger Straße bereits besiegelt. Die letzte Party fand am 16. April 2005 statt.

Rebbeca Salvadori: The Sun Has No Shadow (Foto: Simon Popp)

Auf zwei weiteren Videobannern geht die Videokünstlerin Rebecca Salvadori auf Rave als explizite Selbsterfahrung ein, das Feiern wird im Doppelscreening zum intimen Selbstporträt verarbeitet. Hier geht es um die Person, die in das Nachtleben tritt, um die Raverin. Und eine etwas dröge Romantik stellt sich bekanntlich ein, wenn Ravertum zu Selbstmythos, Ausgehen zur Identitätssuche ästhetisiert wird. Oder wenn jemand ständig davon erzählen muss.

Eindrucksvoller geht es einige Meter weiter zu: in Arthur Jafas Videoarbeit Apex werden in 492 Sekunden 841 Standbilder gezeigt. Found Footage, das auf den Betrachter einprasselt. Kontextlos und nicht weiter erklärt – und dennoch stellt sich vor dem Bilderstroboskop bald ein, was Jafa beabsichtigt hat: eine nervöse, aber stille Geschichte amerikanischer Black Culture zu erzählen – darunter läuft nichts weiter als Robert Hoods kristallklares „Minus”, das 1994 auf Tresor Records erschien.

Techno in Berlin, der Club Tresor – das ist für die Kurator:innen nicht nur eine Musikrichtung oder eine nischige Jugendkultur, die unter ein paar spannenden Vorzeichen entstand.

Spätestens hier beginnt ein neuer Erzählstrang im Kraftwerk: die schwarze Vergangenheit von Techno und House, die, parallel zum globalen Siegeszug der Musikrichtung in den Neunzigerjahren, immer weniger beachtet wurde. Dem geht auch Jenn Nkiru nach, wenn sie in Black To Techno die Stadt Detroit untersucht. Detroit – zum einen ist das für Nkiru die gesellschaftliche Realität industrieller Produktion und Vollbeschäftigung, die im 20. Jahrhundert erstmals zu afroamerikanischem Mittelstand als Massenphänomen in den USA führt,  bevor die Zukunftsstadt durch den Rückbau der amerikanischen Industrie zur Geisterstadt zerfällt. Und andererseits eben das mythische Detroit, schicksalhafte Geburtsstätte der Maschinenmusik, untrennbar verbunden mit der gesamten Geschichte schwarzen Lebens in Nordamerika.

Das erste Geschoss gibt weitere Einblicke in die Achse Detroit-Berlin. In Schaukästen sind hunderte Dokumente, Fotografien, Baupläne, Modelle, Flyer ausgebreitet. Darunter finden sich auch Artefakte wie die handgeschriebenen Anweisungen zu Artwork und Layout des X-103-Albums Atlantis, von Jeff Mills und Robert Hood 1993 im Briefumschlag nach Berlin geschickt.

Schaukästen im zweiten Kraftwerkgeschoss (Foto: Simon Popp)

Im Essayporträt Die leere Mitte spaziert Filmemacherin Hito Steyerl Ende der Neunzigerjahre durch die sandige Landschaft zwischen Leipziger Straße und Potsdamer Platz – dieser sollte demnächst sein aktuelles Erscheinungsbild erhalten. In der Brache zwischen kürzlich aufgelassenem Minenfeld, unweit der früheren Reichskanzlei mit Führerbunker und an der porösen Berliner Mauer, stellt Steyerl Fragen zu Erinnerung, Geschichte und öffentlichem Raum. Und auch wenn Bahar Noorizadeh in der Videoarbeit Teslaism ein digitales Modell der neuen Gigafactory in Grünheide hernimmt, Elon Musk zu Musik von Helena Hauff auftreten lässt, dann wird klar: Techno in Berlin, der Club Tresor – das ist für die Kurator:innen nicht nur eine Musikrichtung oder eine nischige Jugendkultur, die unter ein paar spannenden Vorzeichen entstand. Sondern eher ein Prisma und eine Verdichtung von Gegenwart, öffentlichem Leben und politischer Kultur grundsätzlich. Und sei nicht nur Ergebnis von, sondern gehe mittlerweile einher mit Geschichte und Gegenwart der Stadt Berlin.

Heutzutage ist Techno ein Kapital der Stadt Berlin, Ravekultur wurde zum gern genutzten Charakterzug des zeitgenössischen deutschen Staats.

Und dieses Erzählung funktioniert – die Ausstellung ist gelungen. Das Kurator:innen-Team um Sven von Thülen und Adriano Rosselli bekommt obendrein hin, Nachtlebenromantik und Technomystik nie Überhand nehmen zu lassen. Sie verbinden und kreieren gleich drei recht große Narrationen zur Geburt des Technos: Mauerfall und Kollaps des Ostens trifft auf eine Jugendgeneration als „historisch einmalige Situation”. Später die Tragikomödie der Stadtplanung – auf den Ruinen des ersten Tempels steht heute ausgerechnet das Witzgebäude Mall Of Berlin. Drittens der Verrat am schwarzen Detroit und Chicago, von denen sich der europäische Technokosmos sehr schnell losbinden konnte.

Stadtplanung mit Peter Kottmair und Dimitri Hegemann (Foto: Simon Popp)

Der Fokus liegt auf den materiellen und historischen, politischen Bedingungen einer Kultur und darauf, wie diese erzählt werden können, etwa im Format dieser Megaausstellung. Wie entstehen Räume? Wer kann sie sich woher nehmen? Der alte Tresor ergab sich aus einer, wie Dimitri Hegemann im Programm beschreibt, politisch einmaligen Situation, die im Berlin nach dem Mauerfall herrschte. „Ein historischer Glücksfall, den man natürlich nicht wiederholen, aus dem man aber lernen kann.” Sein Programmtext liest sich kaum als historische Reflexion, eher als Appell, Aufruf. Und auch nicht an die Besucherin, sondern an Politik, Stadt, Behörde.

Im Grunde wurde der aber schon gehört. Heutzutage ist Techno ein Kapital der Stadt Berlin, Ravekultur wurde zum gern genutzten Charakterzug des zeitgenössischen deutschen Staats. Die FDP wirbt mit Druffi-Witzischkeit vor dem Berghain. Ein Besuch der Darkrooms dort, im zweiten Tempel, gehört ohnehin zum guten Ton in der Berliner Republik. Und auch die Ausstellung im Vattenfall-Kraftwerk, die auf tausenden Quadratmetern die Zukunftsmusik ausgräbt und beleuchtet, kann sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass die einstige Nische Techno doch spätestens heute Institution und Staatskultur ist.

Vries’ fiktive Ausgrabungsstätte, die aus „Plänen, Erinnerungen und Vorstellungskraft” konstruiert wurde, ist das pompöse Ende einer großen und vielschichtigen Ausstellung, die diesen Werdegang nachzeichnet. Steigt man durch die Stahltür – es ist allerdings nicht die originale Eingangstür, denn diese ruht seit 2019 im Humboldt Forum, sondern die Hintertür des Tresors – und wandert durch die verwunschene Stätte, tauchen unter dem Kopfhörer gesichtslose Zeitzeugen auf, die Erinnerungen an Partys, Fetzen, Eindrücke, alte Erregungen erklären. Und hier, wie an dieser und jener Stelle im Kraftwerk, kann dann doch ein fahler Beigeschmack, eine kleine Tragik aufkommen: wenn jemand oder etwas zu sehr von sich selber sprechen muss. Wenn Mythos und Vergangenheit immer wieder in den Vordergrund rücken müssen. Andererseits: was soll die Kritik an Selbst-Musealisierung? Hier wird ja ein Geburtstag gefeiert.

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