Jumpin Jack Frost (Foto: Brian David Stevens)

Boxentürme, Plattenspieler und ein Mikrofon: Sound Systems existieren in dieser Form bis heute vor allem im Dub und Reggae. Ein Buch zeigt, welche Rolle sie bei der Entwicklung von Hardcore, Drum’n’Bass, Grime oder Dubstep gespielt haben.


Ende der 1980er entstand in Großbritannien ein fruchtbarer Boden für Rave-Kultur, auf illegalen Open-Air-Partys in ländlichen Feldern und leerstehenden Warehouses. „Die Leute, die da waren, kamen aus allen möglichen Verhältnissen, hatten alle möglichen Hautfarben, Nationalitäten – alle sind zusammengekommen und haben gemeinsam gefeiert. Das würde man sonst nicht erleben, zu keiner anderen Zeit, in keinem anderen Genre. Es war eine Revolution. Zu der Zeit war das eine kulturelle Explosion, es war einzigartig”, erzählt Nigel Thompson alias Jumpin Jack Frost über Acid-House-Partys der damaligen Zeit in einem Interview für das Buch Bass, Mids, Tops. An Oral History of Sound System Culture von Joe Muggs und Brian David Stevens [alle Zitate vom Autor ins Deutsche übersetzt]. Muggs möchte mit den 25 Interviews des Buches den Echos von Sound-System-Kultur in den unterschiedlichsten Kontexten nachspüren – und Rave gehört zu diesen musikalischen Bewegungen dazu.

Ein Soundsystem (Foto: Brian David Stevens)

Beinahe 500 Seiten zählt die vielseitige Patchwork-Erzählung über Sound System Culture. Acid House und Ecstasy spielen dabei eine wiederkehrende Rolle in den Fragen des Musikjournalisten Muggs, der unter anderem für die britische Ausgabe des Mixmag, das Musikmagazin The Wire und die Tageszeitung The Guardian schreibt. Es geht nicht darum, die Geschichte von Sound Systems oder ihre Technik zu erzählen. Muggs beschreibt sein Vorhaben im Einführungstext: „Das Buch ist eine Reaktion auf meinen Frust darüber, dass Musikjournalismus davon besessen ist, historische Momente festzuschreiben. Das Buch ist ein Versuch, mehrere miteinander verwobene Kontinua in den Blick zu nehmen: Lebensgeschichten, Geschichten von Genres, Geschichten von Sounds, die sich alle gleichzeitig abspielen.”


Muggs erwähnt auch die Dominanz von Männern in Szenen und ihre teilweise machistische Atmosphäre.


Im Zentrum steht dabei der Einfluss von Sound-System-Kultur auf Menschen, die britische Musikgeschichte geprägt und erlebt haben. Es ist auch die Frage danach, was und wer als britisch gilt, die mit Beats und Bassläufen mitschwingt. Diese britische Identität setzt sich durch diverse Herkunfts- und Migrationsgeschichten zusammen und ist keinesfalls homogen. Dass inzwischen Generationen von Brit:innen mit Reggae und Erlebnissen mit Sound Systems aufgewachsen sind, verdeutlicht der Musikwissenschaftler Mykaell Riley im Vorwort.

Das Buchcover

Die Interviews von Muggs, illustriert durch Fotoporträts von Brian David Stevens, zeichnen anschließend ein vielfältiges Bild von Sound-System-Kultur in Großbritannien. Dabei ist der Blick fest auf Musikgeschichte gerichtet und auf die Stile, die mit Großbritannien in Verbindung gebracht werden. Man liest, wie die Fusion aus Acid House, Breakbeats und Reggae-Basslinien zu Hardcore wurde, der sich wieder in verschiedene Richtungen entfaltete und zu Genres wie Jungle, UK Garage, Drum’n’Bass, Grime, UK Funky oder Dubstep führte. So erzählt die Produzentin Cooly G.: „Der einzige Grund, warum ich Musik machen wollte, ist das Sound System. Ich liebe einfach den Klang das Basses, der sogar auf Betonboden krass ist.”

Storm (Foto: Brian David Stevens)

Bass, Mids, Tops. An Oral History of Sound System Culture thematisiert außerdem Gewalt auf Raves, egal ob House oder Jungle, soziale Verhältnisse – wenn Grime-MCs zu MCs werden, weil sie kein Geld für Computer oder anderes Produktions-Equipment haben –, die kommerzielle Ausbeutung durch eine auf Profit ausgerichtete Musikindustrie wie bei UK Garage oder stellt fest, dass FWD>> „ein Raum voller Männer” (Sarah Lockhart) war.


Auch wenn sich die Geschichten der Protagonist*innen oft überschneiden oder gleichzeitig stattfinden, zeigt die Anordnung der Interviews eine gewisse Chronologie.


Muggs erwähnt die Dominanz von Männern in Szenen und ihre teilweise machistische Atmosphäre – allerdings nur im Kontext der Gespräche mit den als Frauen gelesenen Personen wie DJ Storm, Sarah Lockhart, Cooly G., Barely Legal und Shy One. Obwohl eine kritische Auseinandersetzung nicht das erklärte Ziel des Buchs ist, hätte Muggs Männer zumindest danach fragen können – zum Beispiel, wie sie dazu stehen, wenn DJ Storm sagt: „Das Ding ist, dass wir härter arbeiten, weil wir wissen, dass wir hier in der Minderheit sind. Wir werden immer pünktlich sein und uns gut präsentieren, weil wir Frauen sind. Es ist schade, dass wir nicht immer die Chancen bekommen, die wir verdienen.”

Autor Joe Muggs (Foto: privat)

Auch wenn sich die Geschichten der Protagonist*innen oft überschneiden oder gleichzeitig stattfinden, zeigt die Anordnung der Interviews eine gewisse Chronologie. Es beginnt mit Dennis Bovell als Schlüsselfigur in der Entwicklung des britischen Reggae-Genres Lovers Rock und als einflussreicher Produzent, der mit seinen Arbeiten in den 1970ern wie mit The Pop Group oder The Slits den Dub bei Post-Punk-Bands pushte. Es folgen Verzweigungen von Dub durch den Bassisten Martin Glover alias Youth (Mitglied der Band Killing Joke, der auch bei The Orb mitgewirkt hat) und Geschichten an der Schwelle zu Rave.


Neben spannenden Geschichten, Nerd-Talk, schwelgenden Erinnerungen und persönlichen Einblicken bietet das Buch eine Menge wertvoller Ösen, in die sich Lesende einhaken können.


DJ Storm, die zusammen mit Kemistry und Goldie das Label Metalheadz aufgebaut hat, spricht über Drum’n’Bass. Sarah Lockhart, die durch ihre Arbeit beim Radiosender Rinse FM, das Label Tempa und die Party FWD>> Spielfelder für Produzent*innen schuf, berichtet über die Umbrüche und Überlappungen in den 2000ern zwischen UK Garage, Grime und Dubstep. Mala, einer Dubstep-Pioniere kommt ebenso zu Wort wie Samrai von Manchesters Bashment-Schmiede Swing Ting. Sie betont, wie Dancehall zum Kernelement der Bassmusik auf ihrem Label wurde.

DJ Krust (Foto: Brian David Stevens)

Informationen in Fußnoten und ein Glossar ergänzen die Gespräche. Trotzdem werden Leser:innen ohne Hintergrundwissen zu den unterschiedlichen Szenen stolpern. Das Format der Oral History ist für outsider manchmal schwer zu verfolgen. Es handelt sich dabei um erzählte Geschichte, die nicht in Form gebracht, sondern durch Fragen nur teilweise strukturiert wird.

Es bleiben Unterhaltungen, die keine reflexiven Beobachtungen gesellschaftlicher Verhältnisse werden. Und doch spiegeln sie sich in den Biografien und der britischen, von Sound Systems geprägten Clubkultur. Man muss nur hinsehen und -hören. Damit erfüllt Bass, Mids, Tops. An Oral History of Sound System Culture einen weiteren Zweck. Neben spannenden Geschichten, Nerd-Talk, schwelgenden Erinnerungen und persönlichen Einblicken in das Leben der Protagonist:innen bietet das Buch eine Menge wertvoller Ösen, in die sich Lesende einhaken können. Egal, ob Dub-Liebhaber:in, Rave-Enthusiast:in oder Dubstep-Head, die Gespräche machen Lust auf mehr – nicht nur mehr Wissen, sondern auch auf mehr Höhen, Mitten und vor allem Bässe.

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