Wie bereits im Jahresrückblick an anderer Stelle in diesem Heft erwähnt: 2011 war das Jahr, in dem britische Bassmusik-Produzenten Footwork für sich entdeckten und damit das hardcore continuum – den ewigen Mutationsprozess der Ravemusik im Vereinigten Königreich – einmal mehr um eine neue Ausdrucksform bereicherten. Möglich gewesen wäre diese Entwicklung sicher nicht ohne den Planet-Mu-Betreiber Mike Paradinas, der mit der Footwork-Samplerreihe B a n g s & Wo r k s musikethnologische Grundlagenarbeit geleistet und den Europäern sowie dem Rest der Welt die zuvor jahrelang auf die windy city beschränkte Szene näher gebracht hat. So ist es auch kein Zufall, dass auf Planet Mu mit Ital Teks „Gonga“-EP nun auch eine Maxisingle mit der bisher überzeugendsten britischen Abwandlung von Footwork erschienen ist. Alan Myson alias Ital Tek hat bei Paradinas Plattenfirma bisher zwei Alben herausgebracht und sich dabei als Musterschüler des Labelchefs erwiesen, indem er aktuelle Stile wie Dubstep und Wonky mit der Electronica- und IDM-Tradition von Planet Mu verband. Die Tracks auf seiner neuen EP klingen nun wie nichts, was Myson je zuvor veröffentlicht hat. Beim Titeltrack etwa ergibt die Kombination aus 160 Schläge pro Minute schnellen Footwork-Beats mit indischen Tablatrommeln, Soca-ähnlichen Rhythmen und aufsteigenden Synthesizertönen eine stürmische Mischung, die dem karibisch-futuristischem Stil von Africa Hitech ähnelt. Beim ruhigeren zweiten Stück „Pixel Haze“ kommt die von früheren Ital-Tek-Platten bekannte Melancholie durch bleepende Mollakkorde wieder zum Vorschein. Beim dritten Stück „Cobalt“ setzt Myson die synkopierten Beats sparsamer ein und bastelt so einen Footwork-Techstep-Bastard, der an manchen Stellen an Photek in seiner „Rings Around Saturn“-Phase erinnert. Mike Paradinas vervollständigt die EP schließlich selbst mit einem düsteren Hardcore-Remix von „Gonga“. Das Besondere an dieser Platte ist nicht nur, dass sie trotz der zahlreichen Anspielungen auf andere Künstler unglaublich frisch und neu klingt. Sondern auch, dass sie aufzeigt, wie viele verblüffende stilistische Querverbindungen sich über den großen Teich hinweg zwischen Footwork und den britischen Stilen des hardcore continuums finden lassen.
Stream: Ital Tek – Gonga EP Promo Mix
Eine der auffälligsten Parallelen ist die von Footwork auf der einen und Jungle beziehungsweise Drum’n’Bass auf der anderen Seite. Nicht nur ist das Tempo in etwa dasselbe, auch die Art der Beatprogrammierung weist mitunter Ähnlichkeiten auf. Erkannt hat diese Verwandtschaft der Stile als einer der ersten der britische Produzent Jim Coles, der 2011 unter dem Pseudonym Philip D. Kick (eine Anspielung auf den Sciencefiction-Autor Philip K. Dick) eine Reihe von Footwork-Edits großer Jungle-Klassiker herausbrachte. Im Oktober schloss Coles die Serie mit der Bootleg-Maxi „Footwork Jungle Vol. 3“ ab, die stilecht mit einem umwerfenden Edit von Remarcs „R.I.P.“ endete. Am Experimentieren mit Footwork scheint Coles weiter Gefallen gefunden zu haben, denn auch auf seiner jüngsten Platte unter seinem häufiger verwendeten Künstlernamen Om Unit finden sich Spuren des Stils wieder. Auf der „Transport“-EP (Civil Music) mischt Coles die schnellen Beats subtil unter von Achtziger-Jahre-Synthiepop und Electro beeinflusste Tracks und schafft somit einen stimmigen, futuristischen Klangentwurf.
Stream: Om Unit – Transport EP (Preview)
Das Erbe von Jungle verarbeitet auch der junge Londoner DJ und Produzent Champion – nur liegt das Tempo seiner Wahl nicht bei 160 sondern bei 130 BPM. Der 21-Jährige ist für einige der rohesten UK-Funky-Tracks der vergangenen zwei Jahre verantwortlich, darunter auch das Stück „Lighter“, für das er dasselbe Vocalsample verwendet hat wie einst DJ SS beim Jungle-Klassiker „The Lighter“. Mit seiner neuen EP „Rainforest“ (Roska Kicks & Snares) macht Champion im gleichen Stil weiter: Das Titelstück beginnt, ähnlich wie 808 States „Pacific State“, mit Tiergeräuschen und entwickelt sich dann zu einer von minimalistischen Percussionklängen getriebenen UK-Funky-Nummer mit grummelnden Jungle-Bässen. Mit seinem stilistischen Anleihen bei Jungle und Grime zeigt Champion, wie fest UK-Funky im Stammbaum des hardcore continuums verwurzelt ist. Seine zweite aktuelle Single „Sensitivity“ (Formula) macht dies noch auf eine andere Weise deutlich: Der darauf enthaltene Gesang von Ruby Lee Ryder steht ganz und gar in der Tradition der Souldiven aus der Nachbarschaft, die zu Jungle- und UK-Garage-Zeiten für große Hits unerlässlich waren.
Stream: Champion – Rainforest EP (Preview)