Henning Baer (Foto: Presse)
Auflegen. Schlafen. Essen. Zum nächsten Gig. Fremde Hotelbetten und doch alle gleich. Diese auf Dauer durchaus zehrende Routine hatten viele international erfolgreiche DJs bis zum Frühjahr 2020. Dann kam der Virus, der die ganze Welt in einen Dornröschenschlaf versetzte. Seit über einem Jahr liegen das Nachtleben und die elektronische Musikszene brach. So auch für Henning Baer, der vor Corona mit seiner Eventreihe Grounded Theory als Mitgründer, Kurator und Resident-DJ in Institutionen der Berliner Clubszene wie dem Tresor, der Else, dem Arena– oder Lehmann Club mit namhaften Acts wie Helena Hauff, Marcel Dettmann, Blawan, Bjarki oder Function die Wände zum Wackeln brachte. Außerdem tourte Henning Baer durch Weltstädte wie Amsterdam, Paris, New York, Melbourne, bis nach Tokio oder Shanghai.
Nun, da die gut geölte Techno-Raffinerie im Frühjahr 2020 zum Erliegen kam und die Tristesse der Pandemie auch irgendwann in die Wände der Berliner Wohnung Baers Einzug hielt, machte sich der freischaffende, selbstständige Künstler und Labelbetreiber von MANHIGH Recordings auf zu neuen Ufern. In unmittelbarer Nachbarschaft zu seiner alten Wirkungsstätte, dem Arena-Club an der Spree, fand sich der DJ nicht zwischen tausenden feierwütigen Menschen wieder, sondern im Impfzentrum in der benachbarten Konzerthalle der Arena. In der Position des Teamleiters hat Henning wie viele weitere Künstler aus dem Nachtleben wie etwa Roman Flügel oder Nick Höppner die Aufgabe, die deutschlandweite Impfkampagne voranzubringen und Menschen teils buchstäblich das Leben zu retten.
Unser Autor Leon Schuck hat sich mit Henning Baer über seinen temporären Job als Teamleiter im Impfzentrum unterhalten. Er wollte wissen, wie Baer diese Verlagerung vom Nachtleben ins Gesundheitswesen erlebt hat.
Was war deine letzte Club-Erfahrung als DJ oder Gast vor Corona?
Im Sommer 2020 haben wir im Rahmen des Möglichen mit Grounded Theory Events im Außenbereich der Else veranstaltet. Sonst saß ich seit über einem Jahr nicht mehr in einem Flugzeug. Das ist irgendwie ganz geil, weil ich seitdem in meinem eigenen Bett schlafe. Das finde ich ganz cool. Meinen letzten internationalen Auftritt vor Corona hatte ich in New York im März 2020. Zu dem Zeitpunkt gingen die Infektionszahlen schon nach oben, trotzdem stand ich bei der Einreise am Flughafen in der Schlange dicht gedrängt mit hunderten Menschen. Das war schon echt weird. Aber man hat schon gemerkt, dass da was im Anflug ist. Dennoch war die Party ganz geil, und ich war sowieso nur 24 Stunden dort. Eine Woche später hätte ich im Berghain spielen sollen. Das wurde dann abgesagt. Und plötzlich war der Virus da.
Das tut dem Kopf ganz gut, wenn man sich mal mit anderen Dingen auseinandersetzt.
Wie hat es sich ergeben, dass du im Impfzentrum arbeitest?
Erstmal habe ich das Jahr 2020 relativ gut überstanden. Es gab dann auch ziemlich zeitig vom Berliner Senat 5000 Euro für Solo-Selbstständige, und man konnte darüber hinaus noch Bundesmittel beantragen. Ich habe ja auch ein Studio und Betriebskosten und habe dann beantragt, was mir zusteht. Im Sommer gab es noch das ein oder andere Booking, zum Beispiel auf einem Festival in Brandenburg und unsere Party in der Else. Zusätzlich hat man ja schließlich auch noch ein Einkommen aus Digital-Royaltys und so Dinge wie Bandcamp.
Wie hast du dich mit der Situation gefühlt?
Man ist die ganze Zeit zuhause und genießt das schon auch, aber dann kommt schon die Frage auf, wie lange das alles noch dauert. Und vielleicht schaut man sich ja mal nach einem Job um. Bevor ich mich komplett mit der Musik und als Veranstalter selbstständig gemacht habe, arbeitete ich bereits in einer Lohnbeistellung. Ich habe sowieso Interesse an industrienahen Jobs, und ich dachte mir, man kann ja jetzt die Zeit des Stillstands nutzen, um sich anderweitig zu orientieren. Das tut dem Kopf ganz gut, wenn man sich mal mit anderen Dingen auseinandersetzt.
Wie sah deine Jobsuche aus?
Anfang Dezember 2020 kam ein Newsletter von Booking United, die sich am Beginn der Pandemie als Sprachrohr für Solo-Selbstständige Musiker*innen und Agenturen gründeten. Player aus der Industrie wie Markus Nisch [Booker bei RETURN, d.Red.] oder Anja Schneider sind dort dabei. In dem Newsletter wurde auch nach Mitarbeitern für Berliner Impfzentren gesucht. Für die Position des Teamleiters sah ich mich dann qualifiziert, weil ich mit meiner eigenen Booking-Agentur schon Erfahrungen mitbrachte. Nachdem ich die Bewerbung schickte, kam sofort eine Mail zurück, und nach einem Telefonat stand ich ein paar Tage später im Impfzentrum.
…bis zu 3500 Leute am Tag impfen, ist wie ein Rave; nur mit Spritzen.
War es nicht einschüchternd, an so einen Ort zu arbeiten?
Nein, besonders weil man so viele bekannte Gesichter aus Clubs und Bars wiedersah. Und gerade, weil man so viele Menschen schon aus einem anderen Kontext kannte, wirkte diese surreale Parallelwelt Impfzentrum sofort vertraut. Auf einmal war ich Teamleiter im Impfzentrum! (lacht) Die Arena hat als Impfzentrum auch einen sehr guten Ruf.
Warum ist das so?
Ich kann mir vorstellen, dass das damit zu tun hat, dass Leute aus dem Nachtleben oder aus der Musikindustrie stressresistent, aber auch sehr empathisch sind. Das, was wir dort machen, nämlich bis zu 3500 Leute am Tag impfen, ist wie ein Rave; nur mit Spritzen. (lacht) Also dieses Administrieren von großen Besucherströmen, Kommunikation, Troubleshooting und so weiter. Von daher ist das für viele Mitarbeiter dort doch irgendwie ein vertrautes Umfeld bezüglich der Dynamik, die dort herrscht. Nur der Inhalt ist ein anderer.
Die Arena scheint ja mit Präferenz Leute aus dem Nachtleben einzustellen. Wie kommt das zustande?
Das Impfzentrum Tegel und die Arena werden durch das Deutsche Rote Kreuz Müggelspree betrieben. Weil das über den erwähnten und andere Newsletter rausging, hat sich das über gewisse Kontakte in den jeweiligen Freundeskreisen herumgesprochen. Und dadurch ist man sich einfach sehr vertraut, weil man dieselbe Sprache spricht und die gleiche subkulturelle Identität hat.
Ich bin in einer Situation, die mich mein bisheriges Leben noch mehr wertschätzen lässt.
Was machst du genau im Impfzentrum? Wie sieht dein Arbeitsalltag aus?
Mein Tag beginnt ziemlich früh im Vergleich zu meinem normalen Alltag, denn wenn man freischaffend tätig ist, genießt man die Freiheit, mehr oder weniger aufzustehen, wann man möchte. Derzeit stehe ich jeden Morgen um sechs Uhr auf. Ich habe auch noch zwei Katzen, das sind meine pandemic kittens, die ich Anfang 2020 bekommen habe. Das war auch ein glücklicher Moment, dass ich ab dann zwei Tiere hatte, um die ich mich kümmern muss.
Ich wohne tatsächlich nur zehn Fahrradminuten von der Arena, Dienstbeginn ist 7:30 Uhr. Erst gibt es ein Teamleiter-Meeting, bei denen tagesaktuelle Neuigkeiten besprochen und an die Teams weitergeleitet werden. Man darf nicht vergessen, dass in kürzester Zeit circa 800 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eingewiesen wurden, von denen ungefähr 200 gleichzeitig vor Ort sind. Damit wir so effektiv arbeiten können, ist alles sehr strikt durchorganisiert.
Welche Stationen durchläuft jede*r Besucher*in?
Erst kommen die Leute in den Einlassbereich zu den Anmeldekabinen, wo erstmal viel Papierkram wartet – wie beim Arzt. Das Impfen ist an sich auch ein sehr politisches Thema. Die Menschen werden erstmal aufgeklärt und müssen Impfkarten und andere Dokumente ausfüllen, auf denen vermerkt wird, dass sie geimpft wurden. Das machen die Teams. Dann bekommt man die Impfung von einem Arzt verabreicht. Wir als Teamleiter kümmern uns darum, dass unsere Teams wissen, was an dem Tag ansteht. Welche Neuerungen es in gewissen Arbeitsprozessen gibt, wie die Einteilungen der Teams sind.
Wir sind auch dafür da, um in besonderen Situationen eine Lösung zu finden, zum Beispiel wenn eine Person einen Monat zu früh zum Impftermin erscheint. Solche Dinge und Personalfragen. Das Impfzentrum schließt um 17:30 Uhr, danach gibt es organisatorische Nachbereitungen, und ungefähr um 18:30 Uhr ist man dann draußen. Ich bin dann auch im Eimer. Und das habe ich eben durch diesen Job auch kennengelernt. Mein Respekt vor Menschen mit einem 9-to-5-Job ist dadurch wesentlich größer geworden. Das nehme ich aus dieser Pandemie mit. Ich bin in einer Situation, die mich mein bisheriges Leben noch mehr wertschätzen lässt. Das hat vieles verändert, aber ich würde sagen eher zum Positiven.
…mache das wahrscheinlich Sinnvollste, was ich in meinem Leben je gemacht hab,…
Welche Sache am neuen Job findest du besser als bei der Arbeit, die du vor Corona gemacht hast?
Ich weiß nicht, ob man das vergleichen kann, weil zurzeit ja so eine Art Pausentaste gedrückt ist. Das, was ich vorher geliebt habe, liebe ich immer noch, und das, was ich jetzt mache, finde ich auch megacool. Zum einen ist das für mich auch eine Art soziales Experiment. Durch die Arbeit habe ich mich auch mit Kollegen angefreundet, wie zum Beispiel mit Sebastian Schwarz von Tiefschwarz. Ich hatte mit ihm und seinem Bruder nie was zu tun, obwohl man natürlich Tiefschwarz kennt, und auf einmal trifft man sich dort bei der Arbeit und hat unglaublich viel Spaß zusammen. Man lernt zwar durch das Musiker-Dasein auch viele Leute kennen, aber hier nochmal in einer anderen Dynamik und Menge. Ich stehe als Bindeglied zwischen dem Unternehmen und eben den Teams, die sehr individuell sind, weil viele aus freischaffenden Berufen kommen und jeder sehr viel Charakter mitbringt. Solche Strukturen sind da ungewohnt.
Was hat dich dazu bewegt, einen Job anzunehmen, der so einen Kontrast zum vorherigen aufmacht? War die Entscheidung auch eine wirtschaftliche?
Natürlich ist das ein Fulltime-Job, der dementsprechend gut bezahlt wird. Und es ist auch so, dass du als Künstler*in, Musiker*in, Veranstalter*in im Moment kein Geld verdienst. Und deswegen war ich froh, dass es so schnell geklappt hat. Ich kam zwar ganz gut durch die Pandemie und würde mich als Mensch bezeichnen, der schon mittel- bis langfristig denkt. Aber klar, ich gehe lieber arbeiten und mache das wahrscheinlich Sinnvollste, was ich in meinem Leben je gemacht hab, wenn ich das so sagen kann. Weil wir am Ende wirklich alten Menschen das Leben gerettet haben und Freude und Dankbarkeit seitens der Patient*innen erfahren haben.
Vermisst du das Auflegen überhaupt noch?
Es gab eine Zeit, da habe ich es gar nicht vermisst. Als die Pandemie begann, war das so ein Durchatmen, weil man sich mal um Sachen kümmern konnte, die immer vernachlässigt wurden. Wie die Wohnung auf Vordermann zu bringen. Der letzte Sommer war dann, obwohl es ein paar Bookings gab, schon sehr hart. Genau wie der Winter mit dem Lockdown. Dann kam aber der neue Input durch den Job, da hab’ ich das alles wirklich komplett verdrängt, weil meine mentale Kapazität wirklich sehr gefordert und ausgelastet war. Jetzt, wo sich aber eine Routine langsam eingestellt hat und Frühling, Sommer und die Hoffnung auf weitere Lockerungen kommt, juckt es doch wieder in den Fingern.