Kenny Larkin – Azimuth Extended (Art Of Dance) (Reissue)

Kenny Larkin – Azimuth Extended (Art Of Dance) (Reissue)

Gestern war heute noch morgen – und da hatte Kenny Larkin schon alles vorweggenommen, was sich aus dem Detroit-Sound je würde herauskitzeln lassen. Azimuth erschien im Frühjahr 1994 via Warp und Wax Trax!, emulierte jedoch schon damals die finale Version eines bahnbrechenden Stils zwischen Chicago House, Electro und Industrial, ohne den es Techno vielleicht nie gegeben hätte. Dass er eleganter produzierte als die meisten anderen Vertreter der ersten oder auch der zweiten Welle Detroiter Clubklänge, war damals lediglich Diggern in der Szene bekannt. Selbst heute macht Larkins früher Output eher als Nischen-Tipp die Runde, ohne dass er die Credits für seinen rückblickend enormen Einfluss auf die Entwicklung des europäischen Techno bekommt. Vielleicht weil er sich zu Zeiten, als die Belleville Three, Jeff Mills und Robert Hood die Motor City aufmischten, fürs Militär verdingte und ab Ende der 90er lieber Stand-Up machte. Mit dem Expanded Reissue von Azimuth auf Larkins eigenem Label Art Of Dance bekommt dieser Klassiker nun endlich seine angemessene Würdigung und wird sogleich auch in den USA mehr denn je zelebriert, wo er damals etwas unterging. Remastered von den originären DAT-Tapes und dem feinen Händchen Lawrence Dunsters (Curve Pusher), schwirren die flirrenden Loop-Kapriolen von „Track” jetzt jedenfalls noch vitaler durch die Luft, klingt das säurehaltige Sampling von „Funk In Space” noch wagemutiger und die Druckformel des unwirklich groovenden „Wondering” noch abgefahrener. Zwischendrin holt „Tedra” auf verträumten Klangteppichen für ein paar Minuten in eine Zeit, als manches vielleicht doch besser war, getrieben von delikatesten Synkopen und Melodien mit mindestens einem feuchten Auge. Das ist Hi-Tech-Kopfhörer-Kino zum grenzenlosen Abheben und Schwärmen – seiner Zeit um einige Flugstunden voraus. Nils Schlechtriemen

Lawrence – Birds On The Playground (Mule Musiq)

Lawrence – Birds On The Playground (Mule Musiq)

Früher nuckelten Herrschaften im Salon an Zigarren. Heute rüsseln sie Bier, das nach Mango schmeckt, während im Hintergrund Vinyl über den Teller rauscht. Potzblitz, auf die Idee muss man erstmal kommen! Aber die ins Detail Verliebten haben da schon das 5000-Euro-Kabel für die Lautsprecher verlegt, sich zurückgelehnt und verzückt gelächelt: „Was für ein Klang, man hört da jetzt wirklich jedes Detail raus!” Das Konzept Listening Bar ist für eine Welt, in der ohnehin alle permanent hören, offenbar das letzte Refugium für Erbschaftsschwindler, die für Konzerte zu alt und für Noise-Cancelling-Earpods zu jung sind. Der Mule-Musiq-Chef hat trotzdem eine in Tokio eröffnet. Und Lawrence, Mitgründer von Dial Records, hat für ihn und sein neues Hipster-Tschocherl eine Platte geschrieben, die jedem ausgegrabenen Reissue aus den 70ern den Wasserhahn zudreht und die Räucherstäbchen abdämpft. Das Piano pofelt einen Ofen, die Pads plätschern über eine Balustrade aus Plüsch, Vöglein zwitschern, wie es sich für den Trip ins Träumeland gehört. Kein Wunder, Birds On The Playground klingt, als hätte sich Hiroshi Yoshimura ein paar Krautrock-Platten von Cluster reingezogen, während Roedelius im Nebenraum in einen Kimono schlüpft, um nach der Teezeremonie ein paar Runden im Zen-Garten zu drehen. Genau die richtige Untermalung, um sich das erste Craft Beer des Tages aufzumachen. Christoph Benkeser

·

Louisahhh – The Practice Of Freedom (He.She.They)

Louisahhh – The Practice Of Freedom (He.She.They)

Auf The Practice Of Freedom kommt einiges zusammen, was das Techno- und House-Puristenherz in wüste Rhythmusstörungen versetzen kann: Punkiges inklusive verzerrter Gitarren, Einflüsse von Nine Inch Nails, stimmliche Verwandtheit zu Siouxsie Sioux (jedoch ohne deren Pathos, das im Banshess-Kontext wiederum genau richtig ist), dazu düstere Bassmusik-Gene und Tracks, die als Songs klassifiziert werden wollen und müssen. Der Deutschlandfunk nennt sie „Antipatriarchaler Klangtornado”, im Musikexpress wird ihr Album als „starkes politisches Tool für die Underground-Community” bezeichnet. Dass die Musik Louisa Pillets alias Louisahhh diese Medien überhaupt erreicht, liegt nicht an einer Mega-Marketingkampagne, sondern an der Kraft und Klasse des Albums. Denn wie der gebürtigen New Yorkerin, die in Paris zusammen mit Maelstrom das Label RAAR betreibt, dieses Stil-Crossover gelingt, ist außergewöhnlich und jenseits des Erwartbaren bei den oben aufgezählten Eckdaten. Ihre Fusion vermeidet alles Krawallige, bei aller zeitweiligen Brachialität verlieren die Stücke nie die Balance, stehen immer in Kontakt mit ihren Dancefloor-Roots und lassen gleichzeitig einen geschickt dosierten Pop-Anteil zu. Da, wo andere gerne zu dick auftragen und alle Regler auf Zwölf drehen, nimmt sich Louisahhh immer wieder elegant zurück, reizt das musikalisch Vorstellbare nicht bis zum Anschlag aus – was den nächsten Wumms, die nächste Krassheit natürlich umso wirkungsvoller macht. Schönes Beispiel dafür ist der Breakdown und gleichzeitige Höhepunkt des großartigen „Hunter / Wolf”, wo Louisahhh den Anfang der dort einsetzenden Voca-Sequenz hoch und strahlend singt. Statt – wie es wohl 99 Prozent aller Künstler*innen machen würden – in genau dieser Tonhöhe und mit diesem Ausdruck weiterzusingen, steigt sie für den nächsten Satz in eine unvermutete kehlige Tiefe hinab und nimmt gut die Hälfte der Energie aus ihrer Stimme, was viel mehr überrascht und berührt als die naheliegende Vollgas-Inszenierung. Oder am Ende, wenn die von dem balladesken „Not Dead” erzeugte versöhnlich-finale Stimmung vom brutalen „Numb, Undone” rücksichtslos vom Tisch gefegt wird und das Album – natürlich – aufgewühlt und kämpferisch endet. Mathias Schaffhäuser

Maelstrom – Rhizome (RAAR)

Maelstrom – Rhizome (RAAR)

Elektronische Musik kommt ja gern mit theoretischer Handreichung daher. Die Idee, dass mit Klängen aus Strom ein erhöhter Grad an Abstraktheit einhergeht, was verstärkten Deutungsbedarf nach sich zieht, ist inzwischen längst eine Konstante dieser Musik. Vorausgesetzt, man hat sich nicht stillschweigend darauf geeinigt, dass dieser und jener Beat einfach prima zum Tanzen geeignet ist. Der französische Produzent Joan-Mael Péneau alias Maelstrom liefert auf seinem zweiten Album das Konzept gleich im Titel: Rhizom knüpft mit seinem Wurzelstockverweis an den von Gilles Deleuze und Félix Guattari inspirierten Diskurstechno von Labels wie Mille Plateaux an. Die Musik löst diesen Anspruch allemal ein. Behagliche Viererbeat-Routinen oder andere als Konventionen der Clubmusik etablierte Klangsignaturen meidet der Mitgründer des Labels RAAR, auf dem er auch seine zweite LP herausgebracht hat. Passend zur generalisierten Tanzflächen-Quarantäne nutzt Maelstrom sein scheinbar chaotisches Zusammenspiel von Frequenzen, um mit Tönen über die Clubs der Zukunft nachzudenken. Mehr oder minder geradlinige Repetition darf hin und wieder sein, doch stellt sie in seinem sich in alle Richtungen vernetzenden Kosmos einen Zwischenzustand innerhalb eines Prozesses dar, einen Teil von etwas Vielfältigerem, das Anläufe und Abbrüche ebenso wichtig nimmt – und keinesfalls bloß als gepflegten Breakdown abspult. Electro-Anleihen sind, wie früher schon bei ihm, weiter gestattet, wenngleich seltener. An irgendetwas muss man schließlich anknüpfen. Tim Caspar Boehme

Malasod – Tomorrow has been canceled (MIRROR ZONE)

Malasod – Tomorrow has been canceled (MIRROR ZONE)

Malasods Albumpremiere auf dem Delfter Trance-Label MIRROR ZONE, gegründet von Spekki Webu, kann sich sehen lassen. Nicht nur optisch macht die Doppel-LP mit Poster-Inlay und Artwork von Joshua Wiley, Art Director beim Boiler Room, einiges her.  Bereits der – angesichts des aktuellen Zeitgeschehens wohl kaum passender wählbare – Titel des Albums suggeriert die Absenz jeglicher Planungssicherheit. Vorhersehbar ist auf Tomorrow has been canceled“ nichts – und genau das macht so viel Spaß.  Mit nebulösen, verzerrten und von Vocals gespickten Bass-Schwaden eröffnet sich mit „Men Eat Men” ein knapp 55-minütiges Hörerlebnis, das sich über insgesamt neun Tracks hin ausdehnt. „it’s meant to feel like slipping” heißt es im Text auf der Rückseite der Platte, und das tut es auch, und zwar in überaus gelungener Form.

Wabernde, düstere Basslines definieren das Gerüst, in das M. Knops alias Malasod treibende Synths, schneidende, grelle Sounds und ephemere, widerhallende Vocals spinnt. Dafür lässt er sich Zeit: Meist erst ab der Hälfte der Spielzeit wird der Bass durchkreuzt, und man ertappt sich selbst dabei, dem Überraschungsmoment komplett aufgesessen zu sein. Tomorrow has been canceled lässt sich in kein Genre-Korsett quetschen. Apokalyptische Downtempo-Beats verschmelzen mit atmosphärischem, oft beinahe hypnotischem Ambient, und schließlich findet alles dann doch einen völlig unerwarteten, wilden Ausgang. Absolut hörenswert! Pia Wamsler

Meese X Hell – Hab keine Angst, hab keine Angst, ich bin deine Angst (Buback Tonträger)

Meese X Hell – Hab keine Angst, hab keine Angst, ich bin deine Angst (Buback Tonträger)

Kunst und Techno haben schon viele mehr oder weniger fruchtbare Kollaborationen hervor gebracht, hier kommt eine von berühmten deutschen Künstlern. Jonathan Meese und DJ Hell haben eine emotionale Dokumentation oder sogar eine Therapie gegen den Grusel der Corona-Pandemie geschaffen. Der ausgewiesene Provokateur Meese performt grundlegende Emotionen und ihre Auflösung in ausdrucksstarkem Sprechgesang mit vielen teils dadaistischen Wortspielen. Grusel, Angst, Aggressionen und Liebe, und die Kunst als Katharsis. „Dr. No is back, he is so back!” Avanti Dilettanti!, DAF, die Performancekunst der 80er ist zurück, auch die Musik dieser Zeit: Oldschool Electro und House sind häufig das Klangbett für Meeses repetitiv produzierte Satzfetzen und Weisheiten.

Selten, dass elektronische Musik zum Lachen ist; noch seltener, dass nach dem Lachen das Denken einsetzt. Dass aus Meeses Performancekunst überhaupt gute Musik wurde, ist Hells großer Verdienst. „Erzliebe” ist eine Hommage an Portisheads 90er-Hit „Roads”. Meese ist still, seine 91-jährige Mutter Brigitte übernimmt das Mic. Gut, dass sie in der zweiten Hälfte des Albums als Gegenspielerin erscheint, denn auf Albumlänge ist Meeses ausdrucksstarker Sprachstil herausfordernd. Sein Sprechgesang ist inhaltlich, metrisch und emotional maßlos, auch aufgrund der Performativität – wie seine Kunst. Eindrucksvoll toll. Hab keine Angst, hab keine Angst, ich bin deine Angst ist eine Performance im Albumformat. Nicht leicht konsumierbar, aber eindrucksvoll zu erleben und musikalisch inszeniert von DJ Hell, sind die meisten Tracks dieser LP auch in DJ-Sets sehr gut vorstellbar. Denn „Kunst tut not”, auch in elektronischer Musik. Also tanz’ deine Angst, oder: „Dance the mother”. Martina Dünkelmann

Modern Ruin – Unemployment Line Disco (Höga Nord Rekords)

Modern Ruin – Unemployment Line Disco (Höga Nord Rekords)

Discos und Clubs als die lost places von morgen: ein treffliches Bild für den traurigen Zustand der Gegenwart – und eines, das auch über die Tage der Pandemie hinaus Bestand haben könnte. Den Soundtrack zur dystopischen Diagnose liefern Modern Ruin mit Unemployment Line Disco. Als hätte Scientist die DNA von Suicide, Throbbing Gristle, Psychic TV und Coil in seinen Echokammern zu einem Hybrid-Klon verschmolzen, um dessen Output dann von Andrew Weatherall als Score für Liquid Sky II produzieren zu lassen, ungefähr so klingen die acht Tracks dieses Debütalbums. Letzteres ist so ziemlich das einzige, was sich faktisch gesichert zu diesem Release sagen lässt: Alles andere – ob es sich um einen Solo-Act oder eher um ein Bandprojekt handelt, ob diese Musik aus dem näheren Umfeld des schwedischen Labels Höga Nord Rekords oder überhaupt von einem bestimmten Ort auf dieser Welt stammt – bleibt im Dunkeln. Was sich zur Finsternis, die von diesen Industrial-Dub-Wave-Tracks ausgeht, weitgehend kongruent verhält. Dass mit „Cement Dust” hier sogar eine Art Dancefloor-Hit zu finden ist, geht als beißender Sarkasmus durch. „Nothing Blues” bringt die Lockdown-Klaustrophobie auf den Punkt, das grandiose „No Place” als sinistres Highlight des Albums dehnt das dann auf sämtliche Aspekte der Deprivation aus – wahrlich creepy. Als nihilistischer Kommentar zur Lage bis dato eine der Platten des Jahres. Harry Schmidt

Vorheriger ArtikelDebba: Trackpremiere von „Solus”
Nächster ArtikelCharts From the Past: Daniel Wang (Februar/März 2001)