DJ Q – All That I Could (Local Action)
Lockdown! Da könnte man fast lobpreisen, dass wenigstens das Nineties-Revival unbeirrt weitermacht. Zu welchem Zweck? Das weiß niemand, denn die Clubs bleiben geschlossen und private Raves sind ebenfalls verboten. Nachdem der bayerische Ministerpräsident Söder vor Monaten ironisch das Tanzen zu Hause empfahl, rief er vorletzte Woche zur Bespitzelung der Nachbar*innen auf. Ab jetzt heißt es erstmal alleine tanzen. Mit der neuen und lauten Platte von DJ Q, der Musikproduzent gehört zur zweiten Generation des UKG-Genres, erreicht die Trocken-Raver*innen jetzt eine völlig vergessene Fußnote der Musikgeschichte. Denn DJ Q packt tatsächlich wieder den Speed Garage von Todd Edwards, Industry Standard oder 187 Lockdown zwischen 1995 und 1997 aus. Speed Garage war das Bindeglied zwischen New Yorker Garage-House der frühen 1990er Jahre a lá Strictly Rhythm und dem End-90er-2-Step-UK-Garage. Diesen Sound zeichnete zwar noch ein um die 130 BPM schneller 4-To-The-Floor-Jack-Beat aus. Allerdings enthielt er bereits die genretypischen hochgepitchten R’n’B-Stimmsamples. „It’s You” ist ganz klassisch eine originalgetreue Replik dieses Musikstils. Die A-Seite „All That I Could” kommt historisch korrekt und massiv als soulige, wild transponierte R’n’B-2-Step-UKG-Nummer daher. Das ist nicht neu. Aber wenigstens sind die Tracks handwerklich gut gemacht. Früher klangen UKG-Tracks tontechnisch oft mies. Die damalige Szene war schnelllebig und drehte sich um eine Handvoll Londoner Clubs und Plattenläden, allen voran Black Market Records in Soho. Dort wurden im Wochentakt Unmengen von rotzig-schnell produzierten Dubplate- und White-Label-Pressungen an europäische DJ-Touristen und Londoner Acts verscherbelt. Ziel der hochfrequenten Produktion von eingängigen Hits war es, aus dem Underground-Bedroom-Producer-Studio via Pirate Radios wie Rinse FM die Mainstream-Charts der BBC zu erobern. Mirko Hecktor
Fort Romeau – The Mirror (Permanent Vacation)
Michael Greene hat im Frühjahr mit seiner Fantasia-EP für Permanent Vacation die Discokugel über die DJ-Kanzel gejagt. Inzwischen erscheint mit The Mirror das dritte Gastspiel auf dem Münchner Label – und Greene alias Fort Romeau stellt die Rave-Ideologie des Vorgängers auf den Kopf. Die Kicks pumpen zwar immer noch so knackig wie Schwarzenegger-Lookalikes im örtlichen McFit. Allerdings sind die 90s-Klavierchords für Hände-in-die-Höhe-Breaks verschwunden. Die 303 knattert auch nur mehr auf zwei Zylindern und der Italo-Schuppen ist längst ein Fall für die Versicherung. Dafür steigen die Basslines in Siebenmeilenstiefel, um über zerhäckselte Vocal-Samples zu stapfen, im Stechschritt Tempo zu machen und gleichzeitig geil rüberzukommen. Blöd, dass die A-Seite zackige Schatten wirft und auf dem Highway für Progressive House die Abzweigung nach Chicago verpasst. Gut, dass die B-Seite mit Nachdruck eine neue Route anbietet. Was sich auf The Mirror über neun Minuten zwischen Pads und Shakern zusammenbraut, ist für manche Menschen die Matthäus-Passion zur Ostersause. Sakraler Shit für alle, die mit dem Teufel zwei Lütten zu viel gesoffen haben. Christoph Benkeser
Quadratschulz – Pudelprodukte 33 (Pudel Produkte)
Die kleine neue EP vom Hamburger Quadratschulz hat es in sich. Irgendwo angesiedelt zwischen Aphex Twin und einer Weltraum-Disko mit tanzenden Robotern, nämlich genau auf der Insel des Fürstentums Seeland – dort lebt der „Duke of Sealand”. Klassische AFX-Drums plus schöne Harmonien plus leichtes Synth-Wave-Feel. „Gestalt” geht in die gleiche Richtung und umschmeichelt wärmstens Ohren und Herzen mit eindringlichen, sanften Sounds. Die kraftwerkeske Nummer „Telegram / DFÜ” ist herrlich albern, weil sie die mittlerweile doch leicht in die Jahre gekommenen Texte der bierernsten Elektronik-Pioniere persifliert und dabei so angenehm klingt, als würden stattdessen die drei Herren von Fraktus hinter den Computern stehen. Hinweis: es ist aber Rocko Schulzoni selbst, der da sprechsingend zu hören ist. „I don’t believe” hat was von Ibiza, zumindest in Gestalt einer ansprechenden Wandtapete, während man nebenbei günstige Cocktails schlürft und bei angemessenen Abstand die Tanzbeine schwingt. Echt ‘ne prima Scheibe. Lutz Vössing
Richard Devine – Systik EP (BL_K Noise)
Egal, ob du deine PS4 einschaltest, mit dem neuen Audi durch die Gegend gurkst, Googles DayDream-VR-Plattform nutzt, Sample-Packs lädst, Apple-Apps bedienst oder dir mit irgendwelchen Hi-Tech-Gimmicks aus dem Silicon Valley deine begrenzte Lebenszeit vertreibst – irgendwo hat Richard Devine dein Gehör schon mal stimuliert, ob wissentlich oder nicht. Kaum ein Soundtüftler der letzten zwei Dekaden kann ein vergleichbares Maß an Expertise vorweisen, wenn es um Modulation und Produktionswerte auf Meister-Yoda-Niveau geht, scheißegal in welchem Bereich: Customer Experience, Usability, Produktdesign, Instrument Patches für u.a. Korg, Native Instruments und Eventide oder Klanggestaltung für die KI-Entwicklung und diverse Game-Soundtracks, you name it. Erst 2018 ließ Devine mit dem radikal abgefahrenen Sort\Lave nebenbei noch durchscheinen, dass er ähnlich wie Sean Booth und Rob Brown die posthumane Maschinensingularität locker mehrfach pro Jahr scoren könnte, wenn er denn wollte. Nischenphänomen bleibt er dennoch auch weiterhin, was vielleicht gar nicht so schlecht ist. Nachdem Devine ein Vierteljahrhundert nichts mehr auf dem Acid-Sektor gemacht hat (wie auch immer der jetzt abgesteckt wird), kam Ende letztes Jahr die Idee, mit vergleichsweise wenig Gear ein neues Live-Set einzuspielen. Schön und gut. Auf der Systik EP, die mit über 40 Minuten mehr Album ist, zeigt sich jetzt jedoch, warum das Vorhaben mehr als einfach nur neues Club-Material nach sich zog. Schon der Opener „Entcid” morpht über 1080 Sekunden hinweg nonstop IDM durch den Acid-Filter und umgekehrt – aber auf einem Level? Nicht mehr feierlich. Es glitcht und gluckert kräftig, Archive von Maschinencodes werden beschworen, von Minute zu Minute operiert Devines seit Jahrzehnten auf täglicher Basis geschultes Gehör für das Gestalten von Klang immer auffälliger. Dabei sind das hier keine atonal abgedrehten Experimente, nein. Eher schon ein maßlos episches Update des tragischerweise angestaubten Braindance-Duktus, der trotz des dominanten Säureanteils hier so klar und zeitgemäß und frisch und abgefahren wie sonstwas klingt. Allerspätestens ab der zweiten Hälfte von „Sinscur” ist die Entscheidung, ob man dazu nun besser barfuß ausrastet oder das Ganze liegend durch die Kopfhörer aufsaugt, trotzdem kaum noch zu fällen. So oder so: „TiMetrics” könnte nächstes Jahr einer der global meistgespielten Livetracks sein – und „5shim” der finale Beweis, dass zeitgenössischer IDM noch lange nicht tot ist. Nils Schlechtriemen
Wordcolour – Juno Way (Houndstooth)
Houndstooth ist das Fabric-Records-Sublabel der Londoner Fabric. Seit über 20 Jahren steht der Club für den Spagat zwischen Kommerz, den Überresten der Underground-Indie-Idee und das Liebäugeln mit der Hochkultur. Das Label veröffentlicht seit 2013 Techno-Veteranen wie Special Request, aber auch jüngere Hypes wie Pariah. Die Labelgründer Rob Booth und Rob Butterworth setzen seit Längerem auch auf Melancholie-getrimmten Betroffenheits–Pop und Ambient. Dazu passt Wordcolour mit einer zerhackt-harmonischen, kristallklaren Soundästhetik. Produktionsästhetisch steht die Platte in der Tradition britischen Bleep-Technos und von 90s-Electronica. Juno Way kann aber auch in der kulturwissenschaftlichen Ecke von Mark Fishers Buch Ghosts of my Life verortet werden. Die Samples erzählen von einem geisterhaften Absenz-Präsenz-Kater und einsam-entfernten Erinnerungsfetzen weit jenseits des energetischen 1990er-Jahre-Partyhedonismus; Die Gegenwart purzelt – nicht mehr gänzlich durch die Vergangenheit jedoch auch nicht von uto-/dystopischen Zukunftversprechen geprägt – im ständigen Verwertungsloop gefangen dahin („I Waited For You This Morning”). In diesem Raum wird scheibenartig und fast unmerklich die Gegenwart in Realtime in Richtung des allmächtigen Grinds und der Privatisierung von Depression verschoben. Auch das Storytelling imaginiert über den Titel im Regnosis-Verfahren das längst vergangene Party-Heute und datiert stattdessen die Klangwelt einer Wellness-Spa-Feel-Good-Oase eiskalt ins Erinnerungs-Archiv („Breathless”). Das Sounddesign der 12” soll die Geschichte des Südlondoner Clubs Juno Cafe quasi-afrofuturistisch fortführen und womöglich neu schreiben („Juno”). So verwurstet die bürgerliche Coolness-Erzählung von Nicholas Worall alias Wordcolour weniger die neoliberale, postindustrielle Verwertungslogik. Dafür presst sie vielmehr umso slicker die naturgegeben Covid-19-Depression im Rahmen von Burial, Squarepusher und dem üblichen Deconstructed-Club-New-Age-CGI-Cover-Design-Kitsch in unheimlicher und funktioneller Nähe aneinander. Mirko Hecktor