Active Surplus – Active Surplus (Pacific Rhythm)
Wenn man sich Musik gewohnheitsmäßig mit Worten nähert, gibt es ja eine Menge Fallstricke. Zum Beispiel, dass man zwar nicht unbedingt auf das Cover (das eventuell auch, klar) hereinfällt, aber auf einen klingenden Namen. Active Surplus ist so ein Name, der einfach sitzt. Kann man machen, was man will. Bei dem Duo aus Toronto, bestehend aus Evan Vincent alias Emissive und Ian Syrett ist es allerdings nicht bloß die semiotische Aufmachung ihres Projekts. Ganz (nun ja) unabhängig von diesem aktiven Mehrwert auf dem Papier hat das, was sie in ihren vier Tracks auffächern, auch im Club einen klaren Mehrwert zu bieten. Entspannte Fender-Akkorde gehen bei ihnen mit einer Vorliebe für Rappelkisten-Beats einher. Dafür nehmen sie nicht die erstbesten Sounds, sondern bearbeiten ihre Becken und Trommeln elektronischer Herkunft mit viel Sorgfalt und Detailversessenheit. Sie wissen anscheinend bestens, was sie tun. Denn die Ergebnisse wirken wie eine Frischzellenkur durch rhythmische Schwingungen – ohne Esoterik-Überbau oder anderen Quark. Dieser affektive Gewinn für Geist und Körper ist der Überschuss, der durch klug gebaute Patterns und Witz beim Produzieren entsteht. Gute Nachrichten aus Kanada! Tim Caspar Boehme
Ground Tactics – Reality Implant (Midgar)
Vom Musikproduzent zum Sound-Alchemisten – dieser Weg hat sich für Colin Tobelem alias Ground Tactics herauskristallisiert. Zur Resonanztherapie patscht er Stimmgabeln zusammen, den tieferen Sinn des Wissens müssen wir schon selbst finden. Immerhin: Tobelems Musik will im Prozess der Transzendenz der Menschheit dienen. Faire Sache, bisschen Eso. Aber seien wir uns ehrlich: da gab’s schon schlimmere Fälle. Dass er Reality Implant als Techno-Prophezeiung bezeichnet und den gesammelten Laden in eine neue Ära führen will, wollen wir dem belgischen Producer nicht weiter ausreden. Blöd nur, dass die Platte auf Midgar Records klingt, als hätte man die Techno-Kelle durch den Selected-Ambients-Topf gezogen und mit Maggi abgeschmeckt, um dann wieder Deep House-Chords über Instantnudeln zu streuen, den Mikrowellen-Apparillo anzuwerfen und die Sonntagssuppe auf Stufe Drei durchzuköcheln. Bestimmt lecker, halt kein Michelin-Stern. Aber das haben wir davon, wenn mehrere Zeitlinien und Realitäten miteinander verschmelzen! Christoph Benkeser
HAJJ – Dédicace à Personne (Brothers From Different Mothers)
Auf einem Anfang dieses Jahr veröffentlichten Mixtape setzte Florent Hadjinazarian Trap neben Klavier-Ambient. Die Releases von Brothers From Different Mothers navigieren meistens auf extrem schmalen Graten über verschiedene Welten, weshalb HAJJ mit seiner Debüt-EP Dédicace à Personne dort bestens aufgehoben scheint. Ausgehend von minimalen Elementen schafft er über die 10” skulpturale Gebilde, die mit den semantischen Codierungen bestimmter Klanglichkeiten spielen: Hier ist es ein Piano-Sample, dort sind es Stimmen und Telefonvibration sowie im dritten und letzten Track eine Art Hardcore-Punk-A-Capella, um welche Hadjinazarian seine Beats baut. Die zitieren Post-Industrial genauso an wie Trap und versuchen sich anscheinend an einer ikonoklastischen Kernsanierung der Genrekonventionen, doch mangelt es schlicht am dramaturgischen Handwerk: Jeder dieser Tracks präsentiert seine Idee, macht sie schmackhaft, dreht dann den Bass auf und weiß schlussendlich auch nicht weiter. Das Miteinander von verschiedenen Klangsignaturen vermag HAJJ allemal produktiv zu machen, es fehlt nur noch am Gespür für Arrangement und Songwriting. Der schmale Grat zwischen der einen und der anderen Welt ist auf Dédicace à Personne zumindest ein sehr wackeliger. Kristoffer Cornils
Lorenz.Audio – Klangpilot (Clone Basement Series)
Es ist die 25. Minute seines Boiler-Room-Sets in der Bar Rotterdam, als der Oberkommandeur von Clone Records, Serge Clone, die Bombe platzen lässt. Auf Drexciyas „Intensified Magnetron” folgend, fadet der DJ-Veteran gefühlvoll und butterweich den Acid-Banger des Abends ein. Und – holla, die Waldfee – geht der ab! Jetzt kommt der bis dato unbekannte und mysteriöse Track, der für viele der eindeutige Höhepunkt dieser Performance war, in die Plattenläden. Endlich wurden die Gebete all der „Track ID!?”- Kommentator*innen auf YouTube erhört. Amen! Man ist nicht allzu verwundert, dass Klangpilot auf dem hauseigenen, auf straighte Peak-Time-Schieber fokussierten Sub-Label, ein Zuhause gefunden hat. Die B-Seite ist übrigens mindestens ebenso spielbar. Chicago-Ghetto-House-Vocals, breakige Beats und natürlich wieder die jute alte 303 dominieren hier und werden von ekstatischen Dance-Stabs ergänzt. Auch wenn erstmal ein Geheimnis bleibt, wer eigentlich Lorenz.Audio ist, eines kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen: Nicht nur die Gäste des damaligen Auftritts werden wohl mehr von ihm hören wollen. Andreas Cevatli
RV Trax Vol. 5 (R&S)
Renaat Vandepapeliere, der Gründer des legendären belgischen Labels R&S, das mittlerweile von Dan Foat und Andy Whitaker geführt wird, will mit der RV-Trax-Serie seine DJ-Karriere wiederbeleben. Nach 500.000 verkauften Exemplaren von Jaydees Plastic Dreams ist es vielleicht kein Wunder, dass der Macher des wohl einflussreichsten europäischen Techno Labels – nach einigen Jahren Pferdezucht – sich erst seit 2018 wieder auf seine musikalischen DJ-Wurzeln in den 1970er Jahren besinnt. Der fünfte Teil der RV Trax versammelt neun internationale Newcomer sowie unbekanntere Techno-Veteranen. Die Gemeinsamkeit der Tracks – bei aller Beat-Diversität – ist die hypnotische Trance-Ästhetik. Dabei erinnert die Veröffentlichung nicht an hektisches Techno-Hippie-Gedudel aus tiefer gelegten VW-Polos auf dem Weg in eine Provinz-Disse der wiedervereinten BRD. Eher ähnelt sie der düsteren Psychoakustik von AFX-Produktionen und der ersten europäischen Technowelle. Der Kolumbianer Hermetics sampelt stilsicher indianische Cosmic-Gesänge („Escaping Samsara”). 6SISS, ein belgischer New-Beat-Producer der ersten Stunde, rollt mit Big-Beat-Industrial in die nicht enden wollenden Livestream-Nächte, als wäre gerade The Junction, das Epizentrum der Brixtoner Bigbeat-Szene aus Jahr 1998, in das Tonstudio von Front 242 gekracht („Gentle”). Optmst halluziniert Portishead im atmosphärisch schwebenden Trip-Hop-Stimmen-Breakbeat-Gewand und Enigma-Chor-Melancholie („Oracle”). Tensions Track wird als herunter gepitchte UKGarage-Soul-Stimmen-Exzess-Erinnerung zum Paradebeispiel des endlosen Comedowns aus Mark Fishers Buch Ghosts Of My Life („Pure Black Skies”). Und Hala Bahma, ein Projekt des sardinischen Amam-Labelgründers Alessio Mereu, erfindet eben mal Dark-UK-Garage („My:Emi”). Ohne altbacken zu klingen, ist das DJ-Kompendium ein Kniefall an die glorreichen Experimente der Midi-Sequencer-Geschichtsschreibung. Mirko Hecktor