Titelbild: GROOVE
Der Hauptsaal des Berliner HKW ist voll besetzt, die fieberhafte Antizipation der Besucher*innen im Raum scheint fast greifbar – schließlich ist CTM und nicht weniger als eine Weltpremiere angekündigt. Dann: Action! Langsam schlurft mit hängenden Schultern ein Brite aufs Podium, stapft unter tosendem Applaus hinter Synthesizer und Laptop, die rechtwinklig aufgebaut sind. Die überdimensionale Leinwand neben seinem Setup erwacht zum Leben, über sie stolpert, rennt, quält, schläft sich in der nächsten Stunde eine mittelprächtig animierte, glänzende Figur. Der Clou: Die atonale wie seltsam arhythmische Darbietung resultiert aus einer Symbiose zwischen Mensch und Maschine, gewissermaßen der Vervollkommnung elektronischer Musik, der endgültigen Einlösung des Versprechens, mit dem Kraftwerk in grauer Vorzeit zur Revolution antraten: Hier ist künstliche Intelligenz im Spiel! Das Problem: Von einem anregenden, geschweige denn interessanten Hörerlebnis ist das weit entfernt. Actress und sein artifizieller Spielkamerad Young Paint verklären Künstliche Intelligenz zum Selbstzweck, ein greif- beziehungsweise hörbarer Mehrwert der Performance bleibt größtenteils aus.
Vielmehr drängt sich eine Frage geradezu unausweichlich auf: Was geschieht da überhaupt auf der Bühne? Und weiter: Wie funktioniert das denn? In diesem Punkt eröffnen AI-Performances tatsächlich neue Dimensionen; kann man bei vielen Live-Sets im Club nur vage erahnen, was die Produzent*innen hinter ihrer Wagenburg aus Kabeln und Maschinen so anstellen, bleibt die Transparenz im Zusammenspiel mit Künstlicher Intelligenz für üblich vollkommen auf der Strecke. Das gilt freilich nicht nur für Actress alias Darren Cunningham, der bei der erwähnten Performance im Februar dieses Jahres die Zuschauer eher ratlos zurückließ – sofern sie ob der unkontrollierten, unangemessen lauten Schockmomente nicht einem Herzinfarkt erlagen.
Spätestens 2019 avancierte der Rückgriff auf Künstliche Intelligenz, die am Schreiben der Musik möglichst demokratisch beteiligt wird, zum künstlerischen Statussymbol. Auch die US-Amerikanerin und Wahlberlinerin Holly Herndon produziert mithilfe Künstlicher Intelligenz, obgleich das Ergebnis fundamental anders klingt als Cunninghams randomisierte Stakkato-Salven, die sich mit ausuferndem Ambient abwechseln. Eine Erklärung dafür liegt offensichtlich in ihrem musikalischen Hintergrund: Geboren im christlich geprägten Tennessee und während ihrer Kindheit deshalb laufend mit sakraler Musik konfrontiert, verschreibt sich Herndon einem opulenten Pop-Entwurf, dem das dezidiert Fortschrittliche auf den ersten Blick gar nicht innewohnt. Dennoch hat die Stanford-Absolventin in Music and Acoustics – Wasser auf den Mühlen geifernder Conceptronica-Milizen – für ihr Album PROTO aus dem Mai nicht nur ein Vokalensemble um sich versammelt, sondern obendrein eine KI namens Spawn darin integriert.
Schon darüber, wie eines der wichtigsten Alben für progressive wie popkulturelle Kontexte 2019 entstand und wie es Herndon und Co. im Zusammenspiel mit Spawn live darbieten, kursieren verschiedene Versionen. Irgendwo zwischen Sender und Empfänger geht die Expertise für KI-erzeugte Musik offenbar verloren. Stellenweise ist von einer Imitation des Ensembles durch die KI die Rede, andernorts gibt Herndon unumwunden zu, dass Spawn noch keineswegs so weit ist, um in Echtzeit performen zu können. Dass sich Künstler*innen artifizieller Intelligenz annehmen, um ihre Visionen voranzutreiben, ist nur legitim und im Sinne des unaufhaltsamen Fortschrittsgedankens eine logische Entwicklung. Irritation ruft vielmehr die Auseinandersetzung mit und die gesellschaftliche Verhandlung des Phänomens hervor.
Diese geht mitunter blauäugig und ganz im Sinne des wohlwollend goutierten Spektakulums vonstatten: Actress’ Sound hörte sich auf seinem Album AZD von 2017, das auf dem Cover die Liaison mit Young Paint bereits angedeutet, schon ähnlich an. Rein klangästhetisch finden sich zwischen Holly Herndons Platform von 2015 und der von medialer Seite propagierten musikalischen Revolution PROTO genügend Gemeinsamkeiten, um aufgrund des KI-Einsatzes nicht in kollektive Schnappatmung verfallen zu müssen. In beiden Fällen scheint es mehr das bedeutungsschwangere, überbordend philosophische Narrativ zu sein, das die Faszination ausmacht. Actress humanisiert seine verchromte KI mittels Visuals, Herndon dichtet ihrem zusammengeschusterten Gaming PC mit dem vielsagenden Namen Spawn einen Geburtsmythos an und behandelt ihn wie ein Kind – einschließlich Patentante Jlin.
Der Grat zwischen auf die Spitze getriebenem Maschinenfetisch und befreiender Emanzipation der Technik ist da ein schmaler. Beim Konzert in der Berliner Volksbühne Mitte Juni animierten Herndon und Ensemble das Publikum beispielsweise dazu, Choräle wiederzugeben, um diese aufnehmen und Spawn als Lehrmittel zur Verfügung stellen zu können. Bei normalen Konzerten eine ebenso normale Maßnahme zur Herstellung von Immersion, von Interaktion zwischen Act und Zuschauer*innen. Hier, zu diesem besonderen Anlass, ein merkwürdig anmutendes Ritual zum Wachstumsprozess eines elektrischen Findelkindes.
Auch auf visueller Ebene weiß Herndon ihre Musik in Szene zu setzen. Ob im Video zur Single-Auskopplung „Eternal”, das mit allerlei Unschärfe-Effekten und omnipräsenter Technologie die Grenzen zum Transhumanen gekonnt aufbricht. Oder aber bei den begleitenden Visuals von Partner Mat Dryhurst, die Utopien, Dystopien und stinknormale Wohnzimmer in Einklang bringen. Ähnlich verhält es sich übrigens auch bei Young Paint, der phasenweise entspannt auf seinem Bett liegt, nur um sich am Ende der CTM-Performance aufspießen zu lassen. Selbst entscheidende Epochen der Menschheitsgeschichte verkommen plötzlich zu adäquaten Vergleichsgrößen: „Es [KI] ist wie eine Form von Evolution, wie die Industrielle Revolution. Menschen waren vor Zügen auch nicht an den Lärm von Dampf gewöhnt. (…) So verhält es sich auch mit dem Digitalzeitalter.”, gibt Cunningham mit maximaler Gravitas zu Protokoll.
„Jede Generation, jeder Moment sollte sich mit dem Jetzt auseinandersetzen. Wenn ich nicht einmal die Gegenwart raushöre, wie soll ich mir die Zukunft vorstellen?”, äußert Herndon gegenüber Arte TRACKS und tut damit ihre Abneigung gegenüber unzeitgemäßer Musik kund. Fraglich bleibt letztendlich aber, inwiefern man die Gegenwart beispielsweise PROTO unverkennbar anhört. Die Bedeutung des Longplayers scheint sich eher daraus zu konstituieren, dass er dank der AI-Gehversuche im Vorhinein mit ebensolcher bis zum Umfallen aufgeladen wurde. Was man ohne die fortwährende Kontextualisierung tatsächlich hört, ist konzeptionell gelungener, interessanter Pop. Das gilt im Übrigen auch für die Live-Erfahrung. Das Vokalensemble um den Avantgardisten Colin Self klingt gut, Herndon selbst ebenso und die Musik dröhnt wiedererkennbar aus den Lautsprechern. Wo sich aber der nennenswerte AI-Dreh verbirgt, bleibt offen.
Betrachtet man die exaltierten Reaktionen, die das Stichwort Künstliche Intelligenz hervorzurufen vermag, denkt man dabei auch unweigerlich an ihr Marketing-Potenzial. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis Künstler*in um Künstler*in den Entstehungsprozess seines*ihres Albums mit diesem Etikett – oder besser: Gütesiegel – ausschmückt. Dass Actress und Holly Herndon das absolut nicht im Sinn gehabt haben dürften, ist dabei zweitrangig. Denn solange das Thema KI mit unreflektierter Hysterie angegangen wird, ändert sich an deren Wahrnehmung nichts. Oder, um es mit einem Kommentar unter dem Video von Arte TRACKS zu sagen: Thank you A.I., very cool!