Alle sechs Reissues sind echte Entdeckungen. Solar X zeigen, dass sich IDM und Techno in den Neunzigern auf eine Weise verschränken ließen, auf die bis heute noch niemand anders gekommen ist. Biospheres und Hias Polar Sequences ist eine einzigartige Momentaufnahme der nordischen Landschaft um Tromsø im November 1995. Mannequin pressen einen Industrial-Meilenstein von Nocturnal Emissions, der überhaupt nicht nach Industrial klingt, zum ersten Mal nach der Originalveröffentlichung 1989 wieder auf Vinyl. Auf dem Sähkö-Sublabel Jazzpuu erscheint die visionäre Jazz- und Elektronik-Fusion von Vladimir Tarasov aus Litauen. Und Damon Zucconis Untitled Substance ist eigentlich keine Wiederveröffentlichung, weil das Album ursprünglich nur auf einem obskuren mp3-Label rauskam. Seine Tracks wollen die Grenzen von Techno sprengen und klingen dabei doch extrem kontrolliert. Sie haben also genau das, was man an Techno heute so oft vermisst.

6Damon Zucconi – Untitled Substance (Zero Grow)


Damon Zucconi aus Philadelphia ist vorrangig als visueller Künstler und Programmierer tätig. Mit Untitled Substance produzierte er bereits 2007 ein Album, das atmosphärische wie zurückhaltende Zwischenspiele mit unsteten, extrem variablen Club-Tracks verbindet. Schnell wird klar, dass der Re-Release auf Zero Grow seine Daseinsberechtigung hat, fasst die LP doch in beinahe prophetischer Manier spätere Spielarten elektronischer Musik ins Auge: Das metallische „A.P.I.“ etwa wirkt seiner Zeit meilenweit voraus und klingt zwölf Jahre später wie eine aggressive, schonungslos rohe Blaupause von Vrils frühem Output. Unter den latent nervigen Rave-Beat von „Glasshouse“ schieben sich nach vier Minuten versöhnliche Flächen, die den Track in ein gänzlich anderes Licht tauchen. Chirurgisch trennt Interlude um Interlude die verschiedenen Kapitel, „In My Arms“ an vorletzter Stelle scheint sich als einziger Track am damaligen Zeitgeist zu orientieren und nimmt den kratzigen Simian Mobile Disco-Sound auf. Maximilian Fritz

5Solar X – XRated (Galaxiid/Trip)


Nach Species Of Fish von Trip Trap, einem Album experimenteller russischer Elektronik von 1993, hier nun die zweite Veröffentlichung auf Nina Kraviz’ Label für elektronische Musikarchäologie, Galaxiid.
Solar X’ Album X-Rated erschien ursprünglich 1997 im post-Perestroika Russland, seinerzeit freilich nur auf CD, nun auch auf Vinyl. Es muss sich dabei nicht verstecken, weder vor zeitgenössischen Konkurrenten, noch vor aktuellen Epigonen. Geschmeidig wie ein Fisch in seinem angestammten Wasser gleitet Solar X von melodiösen Techno zu Leftfield House zu atmosphärischer Electronica und Ambient und wieder zurück zu noisigem Techno mit Industrial- und Aphex Twin-Einflüssen.
Das alles wirkt aus einem Guss und frisch, fast so als wäre es gestern produziert worden. Sicherlich eine wichtige Wiederveröffentlichung. Das fantastische neue Artwork des 83-jährigen Japaners Keiichi Tanaami ist da noch das Tüpfelchen auf dem i. Tim Lorenz

4Hia/ Biosphere – Polar Sequences (Biophon Norway)


Bloße Untermalung eines wie auch immer gearteten Ambientes waren Geir Jenssens Produktionen nie. Die futuristisch-ominösen Klänge des Norwegers sind zwar ruhig, räumlich und kühl durchästhetisiert, lassen sich aber nur selten in den Hintergrund drängen, verlangen stattdessen ungeteilte Aufmerksamkeit. Für das Polar Music Festival kollaborierte Jenssen im Oktober 1995 als Biosphere mit Robert Bird, der da schon seit drei Jahren unter seinem Ambient-Techno-Alias The Higher Intelligence Agency (HIA) durch Europa tourte. Nur mittels aufgenommener Umgebungsgeräusche aus Tromsø, sphärischen Drones und schummrigen Pads entworfen, ist Polar Sequences Resultat dieser Zusammenarbeit sowie zeitloses Dokument der entgrenzenden Wirkung, welche die Natur auf uns Menschen und unser Denken ausübt. Die sechs Stücke sind drei Konzertabenden entnommen, veranstaltet hoch oben auf dem Panorama-Deck der Fjellheisen-Gondelstation, am Rande Tromsøs. Kaum vorstellbar, wie entrückend die geisterhafte Geräuschkomposition „Cimmerian Shaft“ oder der inmitten all dieser Kälte doch so seltsam warm pulsierende „Countdown To Darkness“ auf die Besucher gewirkt haben müssen, während ihr Blick die umliegenden Fjorde streifte. Zum ersten Mal wurde dieses Schauspiel nun für Vinyl neu gemastered. Das Unwirtliche des hohen Nordens, der hier seine definitive Vertonung erfährt, nähert sich beim Hören allmählich der Transitatmosphäre eines Weltraumbahnhofs an. Kälte tötet eben nicht nur, sie konserviert auch und wird uns eines Tages im Kryoschlaf den Weg zu den Sternen ebnen. Nils Schlechtriemen

3Nocturnal Emissions – Spiritflesh (Mannequin)


Im Jahre 1988 brachte Nigel Ayers – man ist versucht zu glauben, der erdrückenden Politik der eisernen Lady Margaret Thatcher zum Trotz – ein visionäres, durch analoge Dronefahrten, Glockenspiel und Vogelgesang geprägtes Album in die Plattenläden. „Spiritualität durch Musik“ könnte die Überschrift zu dieser Periode der Schaffenskraft von Nocturnal Emissions sein. Das ist offensichtlich konträr zu den frühen Post-Industrial Jahren der Gruppe, mit denen sie hauptsächlich assoziiert wird. Tatsächlich aber sind es zwei Seiten ein und derselben Medaille. Zahlreiche Elemente aus Musique Concréte und Ambient sind mitunter auf Spiritflesh zu finden. Und das zu einer Zeit, als nur wenig andere diesen Weg beschritten, regierte doch König Acid House die Insel. Mannequin Records reissuet jetzt zum 30-jährigen Jubiläum des Albums dieses Spiel aus Licht und Schatten. Ein stringenter Longplayer, der für sich spricht. Damals wie heute. Andreas Cevatli

2Repeat – Repeats (Delsin)


In der Welt der Rockmusik hätte man Repeat in den Rang einer Supergruppe erhoben. 1995 produzierten sie das wunderschöne Album Repeats. Dass es dazu kam, war dem Umstand geschuldet, dass bei Mark Broom Gäste ein- und ausgingen, um gemeinsam im Studio abzuhängen. Zu diesen Gästen zählten neben seinem Studiopartner Dave Hill auch immer wieder Andy Turner und Ed Handley von Plaid, damals waren sie auch noch Teil con Black Dog Productions. Es blieb nicht beim Abhängen, die vier merkten, dass sie musikalisch bestens harmonierten. So entstand dieses Album, das beim einflussreichen Electronica-Label A13 erschien. Repeats ist eine Platte, die für eine Stunde die Zeit stillstehen lässt. Die Arrangements sind lose, alles ist im Fluss und klingt nach Jam-Session. Knappe, jazzige Basslines zeigen maximale Präsenz. Dazwischen mal ein paar Rhodes-Sprengsel oder schwelgerische Synthesizer, allzu sentimental wird es dennoch in keinem Augenblick. Erst auf “Hurrican Felix”, dem zweiten Track der C-Seite, zieht das Tempo an, Jeff Mills-hafte Synthesizer treffen auf Beats, die auf der Flucht sind. Auf den letzten drei Stücken lässt das Londoner Quartett, die Sounds vollends ausfransen. Stolz dürfen die vier Herren insbesondere auf die ersten sechs Tracks dieses Albums sein. Auch heute noch. Holger Klein

1Vladimir Tarasov – Atto IV (Jazzpuu/ Sähkö)


Seit Mitte der 1970er veröffentlicht der russische Schlagzeuger Vladimir Tarsov Musik, die durch Improvisation entsteht und sich im weitesten Sinne als Jazz klassifizieren lässt. Ein Klassiker seines Werkes sind die zwei epischen Tracks Atto IV, die erstmals 1990 auf dem russischen Label Melodia erschienen. Tarasov hat sie mit Schlagzeug, Percussions, Jagdhorn und Electronics 1989 in seinem Wohnort Vilnius eingespielt. Sie zerren unmittelbar an der Seele und leben von einer Spannung aus Nervosität und Gelöstheit. Sein Schlagzeugspiel mäandert von leisen Tupfern zu kräftigem Trommeln und kreiert einen groovenden Balanceakt, in dem sich die Rhythmen zauberhaft übereinander schichten. Unter der Zugabe von elektronischen Sphären entsteht so ein seriell flirrendes Destillat aus Improvisation und Experiment, das sich als aufsaugende „Journey-Music“ charakterisieren lässt. Michael Leuffen

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