Das Abrupt Festival ist ein mehrtägiges Festival für zeitgenössische und experimentelle Musik in Brüssel. Es präsentiert Live-Konzerte, Clubnächte und Diskussionsrunden an verschiedenen Orten in der Stadt, darunter auch sakrale Räume wie die Kathedrale Saints-Michel-et-Gudule. GROOVE-Autor Christoph Benkeser war im sogenannten Herzen von Europa und hat sich bei Konzerten von Kali Malone, upsammy und im Pop-up-Underground umgesehen.
Wie weit bringen dich acht Jahre Schulfranzösisch? Nicht sehr weit, sagt der Belgier und redet weiter, als würde man sich den Arsch mit Seide abwischen. Ich nicke höflich, bestelle irgendwas, was wie „Baguette” klingt, bekomme aber eine Quiche Lorraine. Willkommen in Brüssel, denke ich. Die Stadt der Halbglatzen, der Rucksäcke im Slim-Fit-Anzug, der Schlüsselanhänger-Menschen. Überall laufen sie herum, mit wichtig aussehenden Kärtchen um den Hals, mit denen sie sich irgendwo reinbiepen.
Ich bekomme keinen Schlüsselanhänger. Dabei bin ich extra für das Abrupt in der Stadt. Ein kleines Festival, das 2025 zum zweiten Mal stattfindet. Und ein schnuckeliges Programm präsentiert: Kirchenorgeln, Jazz, auch für Nicht-Jazz-Menschen, upsammy in analog, ein bisschen Pop-up-Clubbing und so weiter. Während ich also herausfinde, wie die tolle Festival-Homepage funktioniert, kreisle ich drei Mal ums Hotel.

Denn Brüssel ist Baustelle. Eine Stadt, die sich gerade selbst aufreißt. Vielleicht, um zu schauen, ob darunter eine Zukunft ist. Derweil, in der Gegenwart: Zäune, Kräne, Beton. Und überall dieses EU-Blau, das aussieht wie Corporate Wellness. Aber hier ist nichts Wellness. Die EU frisst eher ihre eigene Hauptstadt auf. Sie wächst in sich hinein, errichtet immer neue Glaskästen, in denen Europa geprobt wird, als wäre es ein Musical mit zu wenig Publikum. Die Stadt riecht nicht umsonst nach Diesel und Diplomatie. Hinter mir telefoniert einer laut: „Je suis en retard!” – das Brüsseler Mantra.
Fettige Finger
Am Abend, endlich: Kali Malone, die Kirchen wieder cool macht, spielt auf der Orgel. Nicht irgendeine, die größte natürlich. Cathédrale Saints-Michel-et-Gudule. Klingt schon nach Gottesfurcht. Sieht auch so aus. Das Publikum steht Schlange, als hätte Luther gerade wieder was ans Portal genagelt. Drinnen, dann: kein Kerzenlicht, kein Weihrauch, nur sehr viele Pfeifen.

Langsam, feierlich, wie ein einziger Atemzug, geht es los. Ein paar wischen sich schon Tränen aus den Augen. Ich würde jetzt gerne einen Satz sagen: Man fühlt sich in solchen Momenten ganz klein, als Mensch. Aber ich lasse es bleiben. Neben mir checkt einer seine Mails. Dann LinkedIn. Dann Candy Crush. Die Frau vor mir schneidet sich die Fingernägel. Deep Listening heißt das hier. Brüssel eben: immer kurz davor, sich zu konzentrieren.
Am Ende Applaus, kurz und höflich, als hätte jemand eine Präsentation über Ethik gehalten. Kali winkt von weit oben und verschwindet. Ich auch. Fahre zu Maison Antoine, der Pilgerstätte für belgische Fritten. Längere Schlangen für fettige Finger habe ich sonst nur vor dem Berghain gesehen. Nur dass man hier statt Absolution zwei Kilo Fritteusenfett bekommt. Dazu riecht es nach verbrannter Romantik. Vor mir ein Typ, auf dem Rücken „Climate Neutral Staff Trip 2024”. Er bestellt „extra sauce, please”. Europa in einer Nussschale: die richtigen Absichten, doppelt Mayo.
Alles für die Wurst
Der nächste Tag beginnt mit langen Gesichtern im Speisesaal. Danach habe ich einen Termin im EU-Parlament. Na ja, damit man mal dort war. Oder aus Soli für die vegane Wurst. In der Eingangshalle verteilt man Lächeln wie Broschüren. Ich nehme eine, lese „Europe starts with you”. Drinnen: ein riesiger Halbkreis, viele Fahnen. Ich mache ein Selfie, um zu beweisen, dass ich Demokratie gesehen habe.

Wirklich groß, später: HIIIT, die irgendwann mal Slagwerk Den Haag geheißen haben sollen. Auf der Homepage steht was von „sonischen Dialogen” und „boundary-pushing repertoire”. Ich sehe nur: Bum, klack, zischelpeng. Es klingt, als wäre hier jemand in den Ethno-Instrumentenladen gelaufen und hätte gesagt: „Alles einpacken. Wir hauen drauf.” Und das ist: chaotisch, schweißig, völlig überdreht. Insgesamt? So wie upsammy, aber als Excel-Tabelle, die sich selbst gesprengt hat.
Danach, im Foyer, typisches Festivalnachglühen. Jemand fragt mich nach einem Feuerzeug und spricht dann von „Klangarchitektur”. Es liegt sofort eine angenehme Verlegenheit in der Luft, als wüsste niemand genau, ob man jetzt noch was sagen soll. Oder darf. Neben dem Ausgang verkauft zum Glück einer Vinyl, freundlich, andächtig – wie jemand, der weiß, dass Musik auch ohne Worte funktioniert.

Am Samstag empfiehlt die Hotelbroschüre einen Besuch im Museum. Magritte, der mit der Pfeife. Oder auch nicht. Ich denke mir: immerhin Kultur! Und kaufe Postkarten mit Tabakpfeifenpenissen als surrealistische Souvenirs für zu viel Realität. Im Museumscafé trinkt man Espresso aus Glastassen. Die Leute reden leise, als könnten die Bilder mithören.
True Romance
Nachts dann: Reset. Ein leerstehendes Bürogebäude mitten in der Stadt, jetzt umfunktionierter Club. Und was für einer! Betonwände, nackte Kabel, kalte Luft. Drinnen flackert das Licht, als wären die Neonröhren überfordert vom eigenen Comeback. Rrose legt auf, ein Meeting daneben: dBridge. Der Bass knüppelt so hart, dass man glaubt, die Decke wölbt sich. Reset ist das Gegenteil von Brüssel und gleichzeitig seine logische Fortsetzung: ein temporäres System, das von der Überforderung lebt.

Später rauche ich vor dem Club eine Zigarette. Ich blicke hoch, auf der gegenüberliegenden Seite brennt noch Licht. Ich denke mir, toll, dass hier zwischen Bürokomplex und Kathedrale, zwischen Fritteuse und Orgel, zwischen EU-Logo und Kickdrum noch was passieren darf. Und dass acht Jahre Schulfranzösisch am Ende reichen, um ein Bier zu bestellen. Mehr braucht man für Europa ja eigentlich auch nicht.
Die Reise wurde unterstützt von Visit Brussels.