BAUGRUPPE90 sind einer der erfolgreichsten jungen Techno-Acts aus Deutschland. Dabei fallen Paul Vogler und Louis Köhler nicht nur mit ihrem lebendigen und stilistisch offenen Sound auf, sondern durch die Baustellen-Outfits, in denen sie auflegen. Ein Branding mit Substanz: Denn die beiden verfügen tatsächlich über handwerkliche Fähigkeiten: Sie verfolgen einen konsequenten DIY-Ansatz, der Studio, die gesamte Musikproduktion, Labelarbeit, Grafik, Merch und Veranstaltungen umfasst.
Groove-Autorin Katharina Pittack hat Paul und Louis in einem Moment in ihrer Karriere getroffen, in dem eine ganze Menge passiert: Gerade haben sie einen weitläufigen Studio-Komplex im Herzen Berlins fertiggestellt, den sie komplett selbst entworfen und gebaut haben. Außerdem ist am 12. September die erste EP Laser Cut auf ihrem neu gegründeten Label MONTAGE erschienen. Beim Ortstermin im neu gebauten Studio geht es um ihren Spaß am Erschaffen von Dingen, ihren Wunsch nach Unabhängigkeit und den nicht zu bremsenden Tatendrang, der sie demnächst aus Europa in die ganze Welt führen soll.
Mein Termin mit BAUGRUPPE90 beginnt ein wenig unheimlich, denn die beiden bestellen mich in den „hintersten Hinterhof” in einem Gewerbekomplex in der Nähe des turbulenten Kottbusser Tors in Berlin. Ich lande zunächst im falschen Gebäude, kein Studio in Sicht. Aber Louis hat mich schon erspäht und holt mich ab.
Wenig später stehe ich im minimalistischen, modernen Studio, das Paul und Louis erst vor kurzem in Eigenregie fertiggestellt haben, wie sie mir stolz erzählen. Die beiden sind Techno-typisch schwarz gekleidet und wirken authentisch und lässig. Paul bietet mir etwas zu trinken an und zeigt mir auf seinem Handy alte Bilder und Videos, die das Studio vor dem Umbau zeigen. Zu sehen: Ein unfertiger Rohbau mit industriellem Charme. Louis ist der offene und redefreudigere, Paul wirkt ruhiger und bedachter. Nun ist die Etage im Erdgeschoss eines großen Gebäudekomplexes kaum wiederzuerkennen. Ein langer Flur mit Fensterfront trennt die verschiedenen Räume voneinander. Dazu gehören zwei Studios, ein großer Küchenbereich und auch ein Keller. „Wir sind große Fans von Wertschöpfung, einfach davon, Dinge selbst anzupacken.” sagt Paul.

Hinter BAUGRUPPE90 steckt mehr als nur der witzige Name eines DJ- und Producer-Duos. Zwar sind die beiden keine Handwerker im eigentlichen Sinn. Ihre Skills und ihr Interesse kommen aber aus ihren Elternhäusern, in denen aktiv geheimwerkt wird. Wodurch sich eine Faszination für das Handwerk selbst, dessen Ästhetik, die Workwear-Stilistik sowie für Werkzeuge, Maschinen und deren Nutzung entwickelte. Dieses Interesse spiegelt sich nicht nur in der Musik, sondern auch in ihren Artworks wider.
Die bis ins kleinste Detail durchdachten Flyer und Plattencover sind oft im Look technischer Zeichnungen gehalten, sie zeigen Architektur-Grundrisse oder Maschinen. Auch als es dann an die Namensfindung ging, war schnell klar, was beide verbindet, erzählen sie. Weil sie unbedingt eine Zahl im Namen haben wollten und beide in den Neunzigern geboren sind, stand fest: Sie nennen sich BAUGRUPPE90.
Ganze acht Monate haben die beiden also Wände verkleidet, Böden verlegt, geschraubt, gehämmert und gestrichen. Davor standen vier Monate Planung. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Es ist beeindruckend, mit wie viel Herzblut sich die beiden in dieses Projekt gestürzt haben.Dieses Studio soll die Grundlage für ihre Projekte bilden, ein Fundament für die kommenden Jahrzehnte. „Wir wollen das so lange machen, wie wir können. Das ist, was wir am besten können und am meisten lieben”, sagen sie entschieden.
„Unser Kopf dreht sich die ganze Zeit nur um dieses Projekt.”
Von der Musik leben können die beiden seit 2023, etwa drei Jahre nach der Gründung des Duos: Louis hatte sein Studium abgeschlossen und Paul seinen Teilzeitjob aufgegeben. Ständig kreisten ihre Köpfe um neue Ideen für neue Musik, um einen möglichen Live-Act, Partys oder Veröffentlichungen auf ihrem Label. Bald war klar: Sie brauchen ein Headquarter, eine Werkstatt, in der sie all ihre Konzepte umsetzen können. Aus diesem Bedürfnis entstand ihr Studio, das für sie die bisher größte Errungenschaft ist. „Unser Kopf dreht sich die ganze Zeit nur um dieses Projekt.” Und tatsächlich kann ich mir vorstellen, wie die beiden hier monatelang von früh bis spät gewerkelt haben, dass diese Räume für die beiden mehr sein sollen als der Ort, an dem ihre Musik entsteht. Kleine Einblicke dazu finden sich auf ihren Social-Media-Kanälen.

Dabei arbeiten Paul und Louis ohne feste Rollen, es geht nicht um Reibungsfläche, sondern eher darum, sich gegenseitig zu verstärken. Ihr kreativer Prozess läuft meistens wie ein „Ping-Pong”, erklären sie mir: Einer startet eine Idee, der andere entwickelt sie weiter. Durch diesen ständigen Austausch hören sie neue Versionen immer mit frischen Ohren und können so objektiver entscheiden, was sie gut finden. Dabei hat Louis noch das etwas „feinere Öhrchen”, wie Paul sagt.
„Man könnte uns 50 Tracks geben, und mit großer Wahrscheinlichkeit werden wir dieselben Favoriten raussuchen”
Letztlich geht es aber nicht um die Diversifizierung von Kompetenzen, ihr Musikgeschmack ist nahezu identisch. „Man könnte uns 50 Tracks geben, und mit großer Wahrscheinlichkeit werden wir dieselben Favoriten raussuchen”, sagt Paul. Das überrascht vielleicht deshalb nicht, weil sie ihre musikalische Entwicklung gemeinsam durchlaufen haben. Entscheidungen fallen daher selten als Kompromiss, sondern eher auf Basis gemeinsamer Überzeugung – Streit um Sounds gibt es praktisch nicht.
Tatsächlich sind Paul und Louis fast immer einer Meinung. Das Ideal von Unabhängigkeit scheint die beiden anzutreiben, und zwar schon von Tag eins an. In der Vor-BAUGRUPPE-Zeit frustrierte sie die Branche: Sie verschickten Demos an Labels und erhielten oft keine Antwort. Ihr erster Release als BAUGRUPPE90 erschien 2020 auf Anja Schneiders Label Sous Music – die Kontur EP war ein wichtiger Startschuss, für den sie noch heute sehr dankbar sind. Dennoch war klar, dass es nicht immer einfach ist, mit jeder Veröffentlichung direkt das Traumlabel zu erreichen. Also beschlossen sie, den Faden ihrer Self-Releases wieder aufzunehmen. Digitale Veröffentlichungen unter dem Projektnamen Capacity ohne Label-Overhead erwiesen sich als erfolgreiche Strategie: Viele Tracks fanden Anklang.
Groovy und eindeutig Nex-Gen
Mit der Groove Constructor EP bei Molekül folgte ihre erste Vinyl-Veröffentlichung mit vier Tracks. Zuvor waren die beiden bereits auf einer Compilation des Labels vertreten. Die Erfahrung machte ihnen deutlich, wie wichtig physische Releases für die Community sind – besonders für Vinyl-DJs und Fans, die Musik als greifbares, wertiges Produkt schätzen. Deshalb übernahmen sie von da an das Pressen selbst und arbeiteten eng mit Partner:innen aus ihrem Umfeld für Grafik, Fotografie und Gestaltung zusammen. Für BAUGRUPPE90 ist das visuelle Konzept nämlich genauso wichtig wie die Musik selbst. „Wir hatten Grafikdesigner, Foto- und Videographen, Freunde um uns herum, mit denen wir alles visuell ausklügeln konnten. Das Visuelle ist für uns ein riesiger Punkt – wir feiern Grafik und Design total ab, und das prägt auch, wie sich unsere Arbeit entwickelt hat.”
„Es wird krank aussehen, wenn irgendwann sechs Releases nebeneinander stehen – Montage eins bis sechs, und man erkennt sofort die Verbindung”
Aus dieser Erfahrung entstand ihr eigenes Label MONTAGE, benannt nach ihrer Eventreihe. Bislang haben zwei Events in Frankfurt und Münster stattgefunden. Sie zeigen auf das Plakat der Frankfurter Party, ein Spanngurt hält darauf Backsteine und Betonplatten zusammen. Neben ihnen selbst haben dort Zeynep und Horsegiirl gespielt. Wegen des Studio-Ausbaus liegt die Reihe aktuell jedoch auf Eis. Und auch mit ihrem Label vereinen sie alle Elemente, die ihnen wichtig sind: Musik, Design, physische Objekte. Auf MONTAGE soll vor allem ihre eigene Musik erscheinen, langfristig soll das Label aber auch Raum für Kollaborationen bieten. Für den zweiten Release schwebt ihnen bereits eine ganze Reihe von Künstler:innen vor, darunter FANK, Ned Bennett, DJ Swisherman, 1MORNING, Ruiz OSC1 und Vilchezz. Aber die Liste ist noch lange nicht fertig.

Auch beim Artwork folgt MONTAGE, wen überrascht’s, einem klaren System. BAUGRUPPE90 arbeitet eng mit dem Grafiker Nacho aus Valencia zusammen, den die beiden auf Instagram entdeckt haben. Gemeinsam entwickelten sie ein visuelles Konzept, das sich an ihrem markanten Bracket-Logo orientiert, das ausschließlich aus 45-Grad-Winkeln besteht. Sie waren sofort fasziniert davon, wie Nacho Grafikdesign mit handwerklichen Elementen aus der realen Welt verbindet. Kurz darauf luden sie ihn zu einem Gig im Spook in Valencia ein und merkten schnell, dass sie auch sonst auf einer Wellenlänge sind.
Nacho setzte ihre Liebe zum Visuellen um: Das Artwork des ersten Releases bildet die Grundlage für alle weiteren. Legt man die Artworks nebeneinander, entsteht ein Labyrinth – fast wie ein individueller QR-Code pro Release. „Es wird krank aussehen, wenn irgendwann sechs Releases nebeneinander stehen – Montage eins bis sechs, und man erkennt sofort die Verbindung”, erklärt Paul begeistert. Die Leidenschaft für abstrakte Formen fließt auch in andere Projekte ein: Für Flight Tracker entwickelte Nacho ein eigenes Shape, das BAUGRUPPE90 in Aluminium fräsen ließen.
Mit ihrer EP Laser Cut wollen die beiden rhythmische Architektur schaffen, erklären sie mir. Neben dem Vinyl wird es auch ein T-Shirt geben. Außerdem ein besonderes Extra: einen kleinen, aus Aluminium gefrästen Schlüsselanhänger in der Form des jeweiligen Artworks, sodass jede Veröffentlichung auch physisch zum Sammlerstück wird. Die Vinyls haben sie selbst in einer Auflage von 500 bei Intakt in Berlin pressen lassen. Wie lange sie genau an der EP arbeiteten, können sie schwer sagen: Einige Tracks stammen noch aus der Zeit vor dem Studio-Bau, wurden aber bisher nur gespielt und nicht veröffentlicht. Die intensiven Arbeitsphasen summierten sich auf rund sechs Monate. Doch das lohnt sich. Denn: „Wenn sie dann fertig ist, sind wir auch sehr stolz drauf. Wir versuchen bei jeder EP eins draufzusetzen und Dinge so zu machen, dass wir bei jedem Release sagen: ‚Das ist jetzt der heißeste Scheiß, den wir jemals gemacht haben’”, sagt Louis und überlegt: „Wir nehmen uns Zeit und wollen langfristig schöne Musik rausbringen, anstatt eine schnelle Eintagsfliege zu sein.”
Genauso wenig verstehen sich BAUGRUPPE90 aber als „typische Berghain-Fünf-Stunden-Techno-Puristen.” Ein frischer Wind soll in ihren Sets spürbar sein. Dabei helfen auch ihre House-Wurzeln, die in ihren Performances immer präsent sind – mitunter hört man sogar alte House-Klassiker zwischen den eher loopigen Tracks, immer mit dem Ziel, den Sound aufzufrischen. Trotz enormer stilistischer Bandbreite bleibt ihr Sound immer „groovy und eindeutig Next-Gen”.
Dabei müssen sie sich natürlich auch mit den Trends herumschlagen, die kommen und gehen. Gerade zeichnen sich im Techno-Bereich Trends wie Bounce ab. Auch Happy Trance und euphorische Sounds, wie sie aktuell von Acts wie Marlon Hoffstadt oder Malugi geprägt werden, beobachten sie, ohne sich davon leiten zu lassen. „Wir wollen uns nicht von einem Sound einschränken lassen, nur weil der vielleicht gerade gut funktioniert.” Ein Einfluss ist immer vorhanden, er ist jedoch kein Maßstab für ihre Musik. Hard Techno war in den letzten fünf Jahren, seit Covid, einer der großen Trends – doch auch hier folgten sie nicht blind dem Mainstream, sagen sie.

Mein Blick schweift durch das Studio. Neben der Technik gibt es auch kleine Einblicke ins Persönliche: Ein unvollendeter, ferngesteuerter LEGO-Bulldozer, ein Geschenk von Louis‘ Eltern, wartet noch auf seine Fertigstellung.