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Fusion: Ein Palimpsest, das jedes Jahr aufs Neue überschrieben wird

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Vom 25. bis 30. Juni fand die Fusion statt. Einmal mehr feierten etwa 70.000 Menschen auf dem ehemaligen Flugplatz der Sowjetunion in Lärz den proklamierten „Ferienkommunismus”. Für einige ist sie die Mutter der deutschen Festivals, für andere ein identitätsstiftender Ort der Wiederkehr, ganz im Sinn eines Klassentreffens, und für wieder andere ist sie die „Wursthaar-Hölle”. Die Strahlkraft der Fusion geht weit über ihre Teilnahme hinaus und selbst diejenigen, die sich noch keine Auszeit vom Kapitalismus genommen haben, meinen oft zu wissen, was sie da verpassen.

Groove-Autor Julian Fischer durfte als Teil der Bassliner-Crew in dieser Ausgabe die Fusion zum ersten Mal kennenlernen. Neben dem Kontrollieren von Tickets und dem Ausschank an der Bar im Wartebereich der Busse war reichlich Zeit, das Festivalgelände zu erkunden, gar nicht mal so schlechte Musik zu genießen und auf Tuchfühlung mit den eigenen Vorurteilen zu gehen.

Es ist Mittwochmorgen, sechs Uhr. Ich mache mich auf den Weg zum Berliner Ostbahnhof, wo sich bereits Hunderte von Menschen sammeln. Obwohl es aus Eimern gießt und der wolkenverhangene Himmel seine ganze Palette an Grautönen zeigt, sieht man lachende Gesichter, hört belebte Gespräche und bereits das ein oder andere Zischen eines frisch geöffneten Bieres. Alle sind vollgepackt, alle warten gespannt auf ihren Bus nach Lärz und alle scheinen bereit für Ferien, vielleicht auch für Kommunismus. Trotz chaotischer Bedingungen wegen etwaigen Verspätungen liegt insgesamt eine entspannte Stimmung von Vorfreude in der Luft.

Zwar wirkt der eine oder die andere Busfahrer:in etwas genervt, doch angesichts der Menge an Gepäck und dem bereits angeschalteten Ferien-Modus der Fusion-Gäst:innen scheint das verständlich. So weit das Auge reicht, stehen Klappräder, Bollerwagen, Wurfzelte, Wanderrucksäcke und Campingzubehör. Auch solches, das man eigentlich in den Rucksäcken vermutet. Beim Einladen der Kofferräume wird klar, was die Leute stattdessen gepackt haben: Drei Flaschen Sekt mussten noch rein, erzählt ein Gast, bevor er das Gepäck verstaut und sein Ticket zeigt.

Weil das Gelände der Fusion in Privatbesitz ist und die Reglements bezüglich Alkohol und anderen Substanzen niedrigschwellig sind, können die Besucher:innen ihre eigenen Getränke und Mischungen mit auf das Gelände nehmen. Für einige nicht nur ein Aspekt, der die Fusion besonders macht, sondern auch Anlass dafür, Isomatte und Schlafsack lieber in die Hand zu nehmen. Nach 200 abgefahrenen Bussen ist am Mittwoch dann Schluss in Berlin.

Bevor ich aber aufs Neue einigen Lisas und Toms alles Gute für die Fahrt wünschen werde, nutze ich die Gelegenheit, das Festival am Freitag und Samstag selbst zu besuchen. Es ist mein erstes Mal auf der Fusion. Gehört habe ich schon viel, und ein Bild von ihr habe ich auch. Die Fusion ist wahrscheinlich eines der wenigen Festivals, das über die Teilnahme hinaus die Strahlkraft besitzt, sich mit ihm auseinanderzusetzen zu müssen. Selbst Personen, die nie dort waren, haben oft eine klare Meinung von ihr – wenn auch nicht die beste. Zigtausende Druffis gibt es auch auf anderen Festivals. Das war nie etwas, was mich sonderlich gestört hat. Es war eher der heilige Anklang des linksalternativen Idealismus einer besseren Welt auf der Fusion, der mir naiv, wenn nicht sogar reaktionär vorkam. Hinzu kam, dass die Musik eine untergeordnete Rolle zu spielen schien. Ich bin dementsprechend gespannt auf zwei Tage Realitätscheck.

Zwei Tage Realitätscheck? Abwarten.

Auch wenn das Gelände riesig ist, tragen einen die Füße schneller von A nach B als erwartet. Der 20-Minuten-Marsch mit Kaltgetränk vom Camp zum Spektakel bietet bereits so einige Ansehnlichkeiten: Vorbeifahrende Fahrrad-Kolonnen und Autos, die vollgesprüht und vollgepackt mit Beifahrer:innen an Mad Max erinnern, Wünsche-Feen, die fragen, ob du Süßigkeiten brauchst, und jede Menge Menschen, die in verschiedene Richtungen schwirren.

Mein erster Eindruck: Die Leute auf der Fusion sind so unterschiedlich wie die Musikrichtungen, die ich auf den zahlreichen Bühnen noch zu hören bekomme. Von jung bis alt ist alles vertreten – eine bunte Mischung aus Generationen und Stilen. Zwar begegnet man hin und wieder einem barfüßigen Besucher in schlabbriger Hose, doch der oft kritisch beäugte linksalternative Hippie-Kitsch erscheint hier eher als nostalgische Reminiszenz denn als dominantes Bild. Die auffälligste Gemeinsamkeit ist wohl die deutsche Sprache. Mir begegnen, verglichen mit anderen Festivals, wenige Personen aus anderen Ländern. Das verblüfft, wenn man sich die Größe und egalitäre Ausrichtung des Festivals vor Augen hält. Selbst der englischsprachige Teil der Programmhefte ist an mancher Stelle nur sparsam ausgearbeitet. Ansonsten sind es wohl die Glitzersteinchen und -farben in den Gesichtern vieler Gäste, die den erfolgreichen Eintritt in den Ferienkommunismus anzeigen.

Nachdem ich die Verkaufs- und Essensstände hinter mir gelassen habe, versuche ich mich in der zusammengewürfelten Anordnung der Bühnen zurechtzufinden. Verschiedene Bässe wummern aus allen Himmelsrichtungen, die Lichter tanzen von allen Seiten und die Ein- und Ausgänge sind oft uneindeutig. Obwohl die meisten Bühnen professionell betrieben werden, scheint die DIY-Ästhetik überall durch. Was mich überrascht, ist die räumliche Nähe der Bühnen zueinander, besonders in Anbetracht der Lautstärke und Menschenmengen. Diese Nähe wirkt stellenweise chaotisch, fügt sich jedoch in den besten Momenten zu einer Art organischem Ineinanderfließen verschiedener Menschen und Musikstile.

Ein organisches Ineinanderfließen: Die Fusion bei Nacht.

Ein erstes musikalisches Eintauchen erfolgt bei Mani Festo am Querfeld. Wie ein alienartiges Raumschiff windet sich die futuristische Verkleidung der Bühne an den dahinterstehenden Bäumen entlang. Mit satten Bässen schleudert der Brite der Menge Breaks entgegen und weiß durch gekonnt eingestreute Four-To-The-Floor-Beats immer wieder aus dem Halftime-Schwank zu holen. Weder der knallige Sound der Hornanlage noch die Menge auf der Tanzfläche sind zu viel. Man hat Luft für kurze Gespräche und Platz, um sich zu bewegen.

Futuristisch anmutend: Das Querfeld.

Das musikalische Highlight des Abends ist Chontanes Closing auf der Extravaganza-Bühne. Während man zuvor bei Beatrice und Norman Nodge kaum Platz fand, ist der zirkusrunde Dancefloor nun deutlich luftiger. Mit technischer Präzision manövriert der Berliner DJ die Raver:innen durch die ersten Morgenstunden – absolute Crowd Control. Jeder Handgriff sitzt, und jeder Einsatz zieht weiter in den perkussiven Rhythmus seines hypnotischen Techno-Sets hinein. Mal ist es die Clap, mal ein einfaches Ride-Becken, das den Spannungsbogen ausfüllt. „Am Ende ist es ja immer das Gleiche bei Techno”, sagt eine tanzende Person neben mir. „Und trotzdem wird hier eine Geschichte erzählt, unglaublich!”

Die musikalische Bandbreite und der wirklich gute Sound der Bühnen überraschen. Wohltuend fällt auch auf, dass keine oberkörperfreien Männer und wenige Handys zu sehen sind. Der Eindruck soll übers Wochenende bestehen bleiben und wird von Gästen, die seit Jahren die Fusion besuchen, bestätigt. „Vor drei Jahren haben die Leute weitaus mehr gefilmt und fotografiert”, erzählt eine Besucherin. „Es ist wohl nicht mehr so trendy, links zu sein.”

Das Publikum am Samstagabend zeigt sich deutlich jünger und queerer. Vielleicht ist es aber auch nur mein Eindruck, geprägt von Ort und Zeit der eigenen Koordinaten auf dem Gelände. Vermehrt schleicht sich der Gedanke ein, dass es die Fusion gar nicht gibt. Die tanzende Menge am Haupttresen, einer Stage direkt neben der großen Turmbühne, gibt beim Hoe Down Throw Down-Showcase alles. Abwechslungsreich spielt die FLINTA*-Crew hinter den Decks neben Breakbeats und bouncy Techno auch Trap. Nur sexy und frech soll es sein. Um zehn Uhr ist dann allerdings Schluss mit lustig. Ganz leise plätschern jetzt nur noch ein paar Töne aus den Boxen am Haupttresen. Die Turmbühne nebenan braucht die umliegende Luft für ihre eigenen Bassfrequenzen, wohl ein Nachteil der Nähe der einzelnen Bühnen zueinander. Aber wer plant denn so was, frag ich mich?

Der Haupttresen sei ursprünglich eine Bar gewesen und habe sich erst später zur eigenen Stage entwickelt, sagt eine Person. Im vergangenen Jahr wären sich die Soundsysteme zu sehr in Quere gekommen, sodass nun runtergeregelt werden muss. Weil die einzelnen Bühnen von verschiedenen Kollektiven betrieben werden, entwickeln sich diese unabhängig voneinander. Deshalb sind die Bühnen und das Gelände der Fusion ständig im Veränderungsprozess und geben dem Festival mit jedem weiteren Jahr einen neuen Anstrich. Die einzelnen Bühnen wirken für sich oft wie Artefakte unterschiedlicher Zeiten oder Räume. Verglichen mit dem Querfeld am Vorabend, fühle ich mich am Haupttresen fast wie auf einem anderen Festival.

Nach zwei Tagen Realitätscheck beginnt nun meine Arbeit auf der Fusion mit der Ticketkontrolle an den Bussen. Als am Sonntagabend die ersten Besucher:innen die Abreise antreten, ist die Stimmung so unterschiedlich wie die Menschen selbst: Während viele erschöpft, aber glücklich nach Hause fahren, gibt es durchaus körperliche Ausfälle, die die Heimfahrt verhindern oder verzögern. So schafft es ein Mann noch gerade rechtzeitig aus dem Notzelt, um als Letzter den Bus in Richtung Süden zu nehmen. Die Herzfrequenz sei wieder stabil, sagt er unbekümmert, als er das Ticket zeigt. Insgesamt macht sich ein Gefühl der Endlichkeit breit. Obwohl der gleichmäßige Beat der großen Bühnen weiterhin zu hören ist, vermitteln die abfahrenden Massen die Gewissheit, dass es bald vorbei ist.

Das Ende der Fusion: Ein großes Warten, für manche im Schatten.

Am Montag stehe ich hinter dem Tresen an der Bar im Wartebereich der Busse, wo die Erschöpfung der Gäste deutlich spürbar wird. So zeigen einige Leute nur noch mit den Fingern auf das begehrte Getränk, weil die Stimme versagt. Während die meisten sichtlich durch sind und nach einer alkoholfreien Erfrischung suchen, bestellen ein paar Nimmersatte noch ein letztes Bier. Zwei Männer, die ihr Handy an der Bar laden, wünschen sich sehnsüchtig Pop-Klassiker von Nelly Furtado oder Britney Spears – wohl der Wunsch nach etwas Leichterem, nach Tagen der Ekstase.

Die Bassliner-Bar.

Mit dem letzten Bus nach Berlin geht meine erste Fusion dann nur vermeintlich zu Ende: Während sich der halbe Bus in eine ausufernde Afterparty verwandelt, unterhalte ich mich auf der Heimfahrt mit einer Person, die seit 16 Jahren die Fusion besucht. Es sei jedes Jahr anders, erzählt sie. Mal bist du mit einer Gruppe unterwegs, mal bist du Einzelkämpfer, mal lernst du neue Leute kennen, die deine Freunde werden, oder stehst ein ganzes Festival nur am Bachstelzen-Floor, heute Panne Eichel, rum. Dass die Person noch heute zur Fusion fährt, hätte sie früher nicht gedacht. Doch die Fusion wächst mit, sagt sie, und die jüngere Generation schreibt nun ihre eigene Version.

Ende Gelände? Nicht im Bassliner.

Auch mir fällt es schwer, die Fusion nach dem Wochenende auf den Punkt zu bringen. Dabei hatte ich noch vor meiner Anreise ein klares Bild von ihr: linksalternative weiße Hippies mit Dreadlocks, die barfuß tanzen und an Workshops über ökologisches Zusammenwohnen teilnehmen. Doch weder die verschiedenen Besucher:innen noch die unterschiedlichen Bühnen oder die Bandbreite der Musik bestätigen das Bild in Gänze. Die Fusion wirkt eher wie ein Palimpsest, das jedes Jahr aufs Neue überschrieben wird. Der linksalternative Idealismus mag wohl als Gründungsdokument vorliegen, doch mutet er durch die hinzugekommenen Schichten schon fast nostalgisch an.

Geteiltes Leid ist halbes Leid, vor allem beim Warten auf den Bus.

Es gibt so viel Verschiedenes zu erleben und zu entdecken. Seien es die zahlreichen Bühnen mit unterschiedlichem Programm, von Peaktime-Techno à la Victor Ruiz an der Turmbühne über ausgewählte Bass Music in UK-Manier am Querfeld bis hin zu Punk-Konzerten wie von der Band Team Scheisse. Oder Workshops, Theater oder das Kino, mit einer Handvoll Filmen des verstorbenen Regisseurs David Lynch im Programm. Jede Person bekommt hier die Möglichkeit, aus den Regalen zu ziehen und ihre eigene Geschichte zu schreiben. Wenn es aber ein verbindendes Element geben müsste, dann sind es vielleicht die Glitzer-Backen.

Warten als intellektuelle Übung.

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