Im Grenzland der elektronischen Tanzmusik bewegt sich gerade einiges. Wie vor kurzem in der globalfuturistischen Kollaboration von Nídia & Valentina zu hören war, gelingen die kleinen und mittelgroßen halbgeraden Beats immer dann besonders knusprig und resch, wenn sie sich nicht in produktionstechnischer Endperfektion gefallen. Und sich bei etwas anderen Breaks und Cuts bedienen als ausgeleiertem Drum’n’Bass- oder IDM-Geknatter. Bei der Japanerin Sakura Tsuruta, die 2023 ein vielversprechendes Mini-Album auf Studio Mule veröffentlichte, lösen sich diese Versprechen nun im von Track-Edelsteinen durchwirkten Langalbum Gemz (All My Thoughts, 26. November 2024). Die Inspiration zu diesen Drum-Exkursionen nimmt die Produzentin aus Tokio von House, Footwork und Juke, setzt sie aber in ein ganz eigenes, von klassischer Neunziger-Electronica informiertes, harmonisches Gefüge ein. Das macht sie einfach besser und interessanter als der Rest.
Anhand einer so nahtlos ineinanderfließenden Klangästhetik und eines so kongenialen instrumentalen Songwritings wie auf dem Album Split Scale (Thrill Jockey, 24. Januar) stellt sich wirklich die Frage, warum etwas in der Art nicht schon längst passiert ist. Immerhin sitzen die Brueder Selke & Midori Hirano alle in Berlin und arbeiten jeweils an ihrer ganz eigenen suchend-findenden Variante von Electronica in Neoklassik und umgekehrt. Für das gemeinsame Album hat Hirano, die in ihren Berliner Jahren immer wagemutiger, elektroakustisch ausprobierender agierte, sich auf ihre frühen, noch in Japan entstandenen Alben rückbesonnen und spielt zart-schön federwolkig Piano und Synthesizer, während Daniel und Sebastian Selke zwar gelegentlich ihre klassisch gelernten Instrumente hervorholen, sonst aber ebenfalls elektronisch-synthetisch agieren. Das gemeinsame Album der Drei ist die genaue Schnittmenge dieses Sounds und doch viel mehr. Denn der technisch klingende Titel täuscht. Es geht hier um ruhige wie emotionale, oft richtig schöne Musik-Musik.
Ich muss zugeben, den guten alten Bristol-Sound der beginnenden Neunziger doch ein wenig vermisst zu haben. Wobei Soundsystem-Nostalgie in Dub oder retrofizierter Trip-Hop auch keine Lösung sind. So war das leise, aber bestimmte Auftreten des Young-Echo-Kollektivs (Motherboard berichtete 2023 und 2024) mit dem Label Do You Have Peace? und dem Leuchtturmprojekt Jabu eine echte Offenbarung. Denn die Bristoler Nachwuchsproduzent:innen haben die langsame, bassschwere Stimmung der Stadt nicht nur wiederbelebt, sondern mit Dream-Pop und Shoegaze in Lowest-Fi-Produktion zusammengedacht und somit ganz neu erfunden. Die jüngste Evolutionsstufe dieses immer noch spezifischen, lokalen und doch überaus individuellen Sounds lässt sich auf A Soft and Gatherable Star (Do You Have Peace?, 18. Oktober 2024) nachhören. Diese auf Sirup-Konsistenz heruntergekochte, bittersüße Variation weist in die Zukunft und vermittelt zugleich eine Ahnung, was aus dem Genre hätte werden können, weit abseits des Mainstreams.
Ebenfalls gut in die Zukunft der Vergangenheit aus der Gegenwart gerettet erscheint die von Jazz, Trip-Hop und Lounge-Klängen informierte Indie-Electronica des Kanadiers Moshe Fisher-Rozenberg alias Memory Pearl. Seinem ersten Solowerk Cosmic-Astral (Altin Village & Mine, 31. Januar) hört man die Erfahrung an, die er in diversen Indiebands in Toronto gesammelt hat, etwa als Sessionmusiker für die Shootingstars Alvvays. So selbstverständlich und lässig, wie hier die fluffigen Melodien aus den Synthesizern und Gitarren perlen, das eignet man sich nicht mal so eben an. Da steckt trotz der smooth-leichten Oberfläche immenses Können und große Sorgfalt hinter jedem Sounddetail. Die Stücke sind zwar durchweg instrumental, aber letztlich doch viel mehr Song als Track, zeigen sehr erwachsen-elegantes Formbewusstsein und Intention im super angenehmen Vor-sich-hin-Plätschern und Fließen.
Das Berliner Ehepaar Brudi hat als Local Suicide definitiv schon öfter den Hang zum emotional abgedunkelten Post-Punk bei gleichzeitiger Affinität zu Italo-Disco ausgelebt. Dass sie aber ausgerechnet in der Kollaboration mit Indie-Techno-Producer Kalipo waschechten Dark-Wave produzieren würden – wer hätte das gedacht? Vor drei Jahren debütierte die unwahrscheinliche Kombination als Dina Summer mit dem reduziert-unterkühlten Rimini, das aber definitiv noch in Electro, EBM, Disco-Boogie und Euro-Dance heimisch war. Auf dem Nachfolger Girls Gang (Iptamenos Discos, 24. Januar) sind dann jegliche Hemmungen zur kaltschwitzigen Hit-Produktion gefallen. Neonkühl und koksweiß bekommt Disco-Goth (wie auch der Slogan auf dem Merch der Kombo lautet) wieder einen guten Namen. Das ballert wahlweise wie „This Corrosion” oder „Fade to Grey” mit Healthgoth-Emo-Update. Toll.