Schwestern im Chaos. Dass sich Anadol & Marie Klock getroffen haben, konnte nicht folgenlos bleiben. Ob die Welt bereit ist für diesen Clash zweier musikalischer Freidenkerinnen? Sollte kein Thema sein! Denn La Grande Accumulation (Pingipung, 1. November) häuft nicht nur Marie Klocks absurdistische Textjenseitigkeiten auf Gözen Atilas experimentell psychedelischen Heimorgelfunk. Es kombiniert auch beider Genie in moderner Chanson-Kunst und vor Ideen überbordendem Songwriting. Nicht zum ersten Mal wirken Klocks verschrobene, oft lustige und gerne leicht verstörende Poesien wie eine zeitgemäße, heute noch funktionierende Variante der klassischen Moderne. Etwa der frühen Avantgarde von Raymond Roussels, dessen „Methode” um zufällig gewählte, jeweils ähnlich klingende Wörter eine Geschichte herumzuspinnen, in ebenso großer Kunst wie fantastischem Quatsch enden konnte wie La Grande Accumulation. Gerade im Kontrast mit der üppigen Melodik und dem instrumentellen Ideenreichtum Anadols ergeben sich „Wow”- und „Uff”-Momente en masse. Aber: Es sind alles Popsongs, frappierend reife Popsongs.
Der Norweger Jonas Howden Sjøvaag hat schon eine weit über 20-jährige Karriere als Sänger und Schlagzeuger in zahllosen Projekten zwischen Modern Jazz und Nordic Folk hinter sich, als er beschließt, in Musikologie zu promovieren und die bislang für selbstverständlich gehaltenen künstlerischen und persönlichen Ausdrucksformen noch einmal gründlich zu überdenken. Ein erstes Ergebnis davon ist Spirit of Rain, eine nichtbinäre, digitale Avatar-Persona, die hyperfragile wie verrätselte Kunstschul-Popsongs zu minimalistisch gehaltener, in aller Einfachheit aber komplexer, nichttrivialer Synthesizer-Begleitung darbietet. Zudem in eine retro-moderne Vaporwave/Cyberpunk-Ästhetik gepackt (zum instrumentellen Talent ist Sjøvaag noch Grafikdesigner) und im Schreibprozess eine KI involvierend, lässt das daraus hervorgegangene Ganze namens Spirit of Rain (Shipwreckords, 25. Oktober) jegliche Kategorien, die in die Arbeit eingingen, weit hinter sich.
Es ist tatsächlich gar nicht verwunderlich, dass Blake Lee, langjähriger Gitarrist und Arrangeur von Lana Del Rey, in der Lage ist, exquisiten Ambient zu machen. Dazu bedarf es wenig mehr als eines Finetunings des ozeanischen Songwritings, einer Introversion, eines nach innen Richtens des Dramas und einer gewissen Zurückhaltung in der orchestralen Üppigkeit des Gesamtsounds unter Beibehaltung der technischen Raffinesse. Und schon wird, was ein melodramatisch tragischer Crooner-Song hätte werden können, zu einem gleißenden Stück instrumentalen Drone-Ambients. Auf Lees Debütalbum No Sound In Space (OFNOT, 15. November) gelang das durchwegs. Es ist nicht weniger schillernd umgesetzt und schmerzlich eingefühlt als Lana Del Reys beste Songs.
Es braucht wohl immer wieder einmal eine Erinnerung daran, wie frei und ergebnisoffen Ambient und Electronica eigentlich sein könnten, wenn sich die Künstler:innen nur trauen würden. Ein ganz starkes Argument für die Freiheit macht Dear Alien (Melodic, 8. November) von Lili Holland Fricke & Sean Rogan. Das Duo aus Manchester nimmt sich einfach alle Möglichkeiten, die zwischen Folk und Song, Neoklassik und Experiment liegen, und baut daraus zart-fragile Weder-Track-noch-Song-Stücke, die in sich ruhen. Und eigene Welten in einer erstaunlichen Einfachheit und Reduktion der Mittel entwerfen. Selten ist mehr als eine Stimme, ein Cello oder hintergründig flirrende Lo-Fi-Elektronik zu hören. Und doch ist alles da, was da sein muss.
Danielle de Picciotto und Alexander Hacke haben einige sehr schöne Studioalben gemacht. Nicht wenige tolle Songs geschrieben. Und eine legendentaugliche Vergangenheit aufzuweisen. Am meisten zu Hause sind hackedepicciotto allerdings unterwegs. So ist nur folgerichtig, dass das Jubiläumsalbum zum circa Zwanzigsten der Musik- und Lebenspartnerschaft keine einfache Kompilation oder ein durch die Jahre wanderndes Best-of sein sollte. Sondern, natürlich: ein Livealbum. The Best of hackedepicciotto (Live in Napoli) (Mute, 1. November) macht unmittelbar klar, warum: Im reduzierten und doch offenen Tour-Setup weiten sich die Stücke, holen Luft, atmen aus und landen in einem epischen Spannungsbogen wieder im Hier und Jetzt. Dadurch bekommen ältere und neuere Stücke einen ungeahnten Zusammenhang, in dem sich Indie-Rock, Dark Country, Drone-Doom und Space-Elektronik gleichermaßen wohlfühlen dürfen.