Die Nation of Gondwana feierte 2024 ihre 30. Festivalausgabe. GROOVE-Autor Nathanael Stute hat die Festivalinstitution in diesem Jahr zum ersten Mal besucht. Lest hier von seinen Eindrücken als Nation-Neuling, von visuellem Spektakel, musikalischer Grandeur und einer Sonne, die der Realitätsflucht eine ganz neue Bedeutung verliehen hat.
Bevor die Bändchen um die Arme gelegt und festgezurrt sind, bekommen alle Neuankömmlinge ein Glas Sekt in die Hand gedrückt: „Willkommen auf der 30. Ausgabe der Nation! Viel Spaß und schön, dass ihr da seid!” So fühlt sich das also an, auf eine dreitägige Party zu kommen und gleich am Einlass ein Gefühl des Gewollt-Werdens suggeriert zu kriegen. Ich bin noch nicht mal auf dem Gelände, aber: Nation, ihr habt mich schon.
Das Festivalgelände wirkt im Gegensatz zu dieser Begrüßung eher nüchtern: Es ist ein akkurat rechteckig in die Tannen geschnittener Acker, eingeteilt in ein gutes Dutzend Campingflächen, durchzogen von provisorischen Wegen, die Namen tragen wie „Monika-Kruse-Allee” oder „Dritte-Raum-Straße”.
Mehr Licht für ein Spektakel
Das Zeltlager im Rücken, nehme ich meine ersten Eindrücke des Festivals erst auf, nachdem die Sonne bereits untergegangen ist. Jetzt ist das Festival in das künstliche Licht der festen Lichtinstallationen sowie der selbstgebastelten „Licht-Objekte” der Gäst:innen getaucht. Die Nation of Gondwana, das wird mir erst mit der Zeit klar, ist das Festival des Lichts und der schimmernden, häufig nicht statischen Objekte über dir. Wie der Sound den Resonanzraum des eigenen Körpers nach innen hin vergrößert, zieht das visuelle Spektakel den sichtbaren Außenraum ins Weite.
Der erste Abend nimmt im angenehmen Wirrwarr der Seebühne seinen Lauf. Der Freitag, erklärt ein Kumpel, sei eher ein gediegenes „Reinkommen”, richtig losgehen würde es erst am Samstag. Das erinnert, ähnlich wie das atemberaubende Lichtkonzept, an die Rituale eines berühmten Berliner Clubs.
„Für mich bitte einmal alles!”
Musikalisch beginnt das Festival für mich mit Hunee, der mit einem gewohnt versierten Disco-House-Set die erste Nacht einläutet. Im Anschluss zieht Or:la das Tempo gekonnt an. Soulwax’ vor popkulturellen Referenzen strotzendes „NY Lipps” im „Kawazaki Dub” sorgt für ein Meer an fliegenden Händen. Mit fein austariertem Changieren zwischen House und Techno bringt Narciss die Seebühne schließlich erstmals auf gesunde Betriebstemperatur.
Stulle, Ei, Feuer frei!
Wer meint, der inoffizielle Auftakt der Nation würde am Samstag mit einem Chor eingeläutet, irrt: Er beginnt für viele (trotz bzw. neben einem reichen Angebot für wirklich jede Vorliebe und Verträglichkeit) beim Essensstand der Freiwilligen Feuerwehr. Halbe belegte Brötchen mit Käse oder Salami, zwei Gurken von schier unglaublicher Größe, ein hart gekochtes Ei, ein solider Kaffee mit wahlweise Hafer- oder Kuhmilch, und das alles für unter 10 Euro – für mich bitte einmal alles.
Derart gestärkt versammelt sich die Gemeinde unter großem Andrang zur eigentlichen Eröffnung. Auf der Seebühne stimmt schließlich zum zehnten Mal der Grünefelder Frauenchor den Festakt ein und löst mit Nicoles „Ein bisschen Frieden” oder „Guantanamera” Schunkelmomente und große Sympathien aus.
Zusätzlich zur wieder anlaufenden Musik bestimmt von diesem Zeitpunkt allerdings eine andere Macht die Realität des Geschehens. Neben dem künstlichen Licht bei Nacht ist es tagsüber die Kraft der Sonne. Die Nation of Gondwana brütet 2024 in einem wahren Höllenfeuer. Es ist so heiß, dass ein Großteil der organisatorischen Eigenleistungen darin besteht, sich so gut wie möglich vor der Hitze zu schützen. Turbane, Regenschirme, Mützen jedweder Form und allerhand Objekte, die vor Strahlung von oben schützen sollen, übernehmen erneut (wie in der Nacht die Lichtobjekte), die Schirmherrschaft über das Geschehen.
Jedes Anstehen an der Bar, jeder Weg zum Dixi, jeder Gang ins Zeltlager wird doppelt abgewogen. Überall riecht es nach Sonnencreme, die Feuerwehr richtet regelmäßig den Wasserstrahl über den Dancefloor. Gefeiert wird hauptsächlich dort, wo Schatten zu ergattern ist. Es ist ein geradezu existenzielles Erlebnis, das surreale Szenerien kreiert, zum Beispiel: tanzende Menschentrauben, die sich exakt bis an die Kanten der durch die Baumkronen gezogenen Schattenwürfe bewegen, aber keinen Schritt darüber hinaus.
Sonne, Mond und Sterne
Die vor der Sonne ungeschützte Wiese, die größte Bühne der Nation, ist deshalb anfangs nur übersichtlich besucht. Ab 15 Uhr ist es hier DJ Di Linh, die mit einem punktgenauem und technisch perfektem Minimal-Techno-Set ein fulminantes Warm-up abliefert. Eines, dem viele nur aus dem Schattenschutz der Bäume zuhören.
Zu fortgeschrittener Stunde – die Sonne lässt langsam Gnade walten – ist es am Abend Joel Mull, der nach einhelliger Meinung eines der besten Sets des Festivals spielt. Es ist ein relativ klassisches Techno-Set, aber nuanciert, immer wieder überraschend Genres ausreizend, fortgesetzt Gänsehaut erzeugend. Einen nicht geringen Anteil an dieser Wucht hat das Soundsystem der Wiese, dem die Soundingeneur:innen besonders in den Höhen ihr Fingerspitzengefühl gewidmet haben. Bei Joel Mull donnern und blitzen in der frühen Samstagnacht wahre Staccatogewitter aus Heads und Claps über den brandenburgischen Acker.
Als Überfan zieht es mich um Mitternacht zu Octo Octa auf die Seebühne. Hier gibt es ein in jüngerer Vergangenheit eher seltenes Phänomen zu bestaunen: Octo Octa lässt sich Zeit. Sie baut ihr Set ganz bewusst langsam auf – und das zur Peaktime. Nicht wenige aus der Gruppe, die ich mit großen Tönen überzeugt hatte, mit hierherzukommen, wollen bald wieder gehen, weil es etwas „zu lahm” ist. Ich frage mich: War das schon immer so, oder haben die Menschen heutzutage einfach keine Muße mehr, der Entfaltung eines Sets seine Zeit zu geben?
Ich lasse mich mit auf die Wiese zurückreißen, kehre allerdings eine Stunde später zurück. Octo Octa hatte die Zwischenzeit gut genutzt und genau das weiterbetrieben, womit sie angefangen hatte: ganz einfach sehr gute House-Musik zu spielen. In Verbindung mit der mitreißenden Art, als DJ hinter dem Pult zu performen, hatte sich die Seebühne in der Zwischenzeit zu einem Tollhaus entwickelt.
Twerken für die gute Laune
Am Sonntagvormittag zieht die Spelunke in einer sonst eher ausgedünnten und sedierten Festivalwelt die Aufmerksamkeit auf sich. Die kleine Bühne ist Ort für ausgefallenere DJ- und Live-Sets, interaktivere Konzepte und Auftritte. Exotisch klingende Künstler:innennamen wie Zum Kuckuck, das Abhalten einer „Liebeszeremonie” oder Performances feiern ihr ganz eigenes wildes Paralleluniversum innerhalb des großen Paralleluniversums. Am Sonntagmorgen sorgen 3BsCoonexion für ein Highlight inmitten des überfeierten Partyvolks.
Angetrieben durch mündliches Anfeuern und karibische Bass Music wird hier der Tag begrüßt. Und zwar mit einer Ganzkörpertanz-Aktivierung inklusive Twerking-Anleitung. Wer die Scham überwindet und sich traut mitzumachen, wird mit großer Sicherheit belohnt: Auf keinem Dancefloor habe ich an diesem Wochenende so viele grinsende Gesichter gesehen.
„Wer die Scham überwindet und sich traut mitzumachen, wird mit großer Sicherheit belohnt.”
Bald brütet wieder die Sonne. Acts wie Shinedoe auf der Wiese oder Maryisonacid auf der Seebühne teilen das Schicksal, Slots in der Mittagshitze erwischt zu haben. Das ist schade, denn beide liefern hochwertige Vinyl-Sets ab. Maryisonacid mit einem von bestechendem Gespür zeugenden New-York-Deep-House-Set und diversen Nummern, bei denen Shazam ein ums andere Mal versagt. Shinedoe wiederum verwöhnt die Ohren zeitgleich mit einem aalglatten, hochfunktionalen, auf den Punkt orchestrierten Dub- und Big-Room-Techno-Set. Wegen der Hitze wiederholt versagende Turntables und ein sich weitestgehend im Schatten tummelndes Festivalvolk tun dem nicht den geringsten Abbruch.
Auf der Nation of Gondwana ist es 2024 angenehm klassisch zugegangen. Auf das Bedienen gewisser musikalischer Moden hat man grown-up-mäßig verzichtet. Gleichzeitig ließen Lichter das Festival mystisch über den Köpfen stattfinden.
Die Nation war aber auch brütende Hitze, die sogar zu Wasserknappheit in den Sanitäranlagen führte. Und das Publikum mit folgender Frage konfrontierte: „Scheiße runterspülen oder duschen können?” Nicht zuletzt deshalb war die Nation die Suche nach dem verlorenen Platz im Schatten, um von dort das schönste Treiben zu beobachten. Und schließlich, mit genug Sonnencreme im Gesicht, selbst miterleben zu können.