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Tapestry: 10 Tapes für Flower Rain und Frühjahrsputz

Sechzig ist das neue Vierzig, Frühling der neue Sommer und Kassetten sind die neuen Tapes. Alles wird jünger, was älter werden sollte. Nur Taylor Swift bleibt für immer 21 und verkauft in einer Minute so viele bunte Spulen wie eine rauschunterdrückte Bandcamp-Band in Echtzeit überspielt. Ist so. Wird immer so sein. Kann man nix machen. Außer bei Tapestry in der GROOVE, wo endlich mal wieder zehn Tapes für das Jetzt-wird’s-langsam-Zeit-für-die-Adidas-Shorts-Gefühl aus dem Beckenboden sprießen.

Schönfeld – Interconnected Lip Vibes (Kontrapunkt)

„Und, wann hast du das letzte Mal geblasen?” ist eine Frage, die Thomas Schönfeld ziemlich genau beantworten kann. Als ausgebildeter Tröter holt er bisweilen kräftig Luft, presst die Lippen fest zusammen und sammelt in Dresdner Jazzkapellen seinen Speichelschlatz. Wobei: Tröten ist natürlich eine unverfrorene Unverschämtheit. Spätestens seit Johann Sebastian und seinem Kumpel Miles ist die Trompete das coolste Instrument der Welt. Dass also noch niemand von den fast so coolen Techno-Leuten auf die Idee gekommen ist, einfach mal mitzuröhren, ist die größere Überraschung. Dafür macht das jetzt Schönfeld. Und wenn man genau sein will, macht er das sogar schon eine ganze Weile, also: Titten, Techno und Trompeten. Ohne die Titten, die braucht man hier nämlich nicht. Und wenn man es ganz provokant sagen will, kann man auch die Trompete weglassen, so oft kommt die eh nicht vor.

VA – XDR (VeryDeepRecords)

Manchmal ist es schön, wenn man den Recorder laufen lässt und nach dem Motto lebt: Was kommt, darf bleiben. Denn irgendwann landet der Bums schon auf einer Kassette. Muss ja nicht immer Very Deep sein. Darf aber natürlich! Das Nürnberger Label feiert jedenfalls Geburtstag, und weil das ein runder ist, gibt’s die Gelegenheit, alles draufzupacken, was so rumliegt an very deepem Zeug von Kumpels und Konsorten. Den Jubiläumskram kauft man nämlich eh, da muss man jetzt nicht groß rumspacken – aus Wertschätzung für die Sache, von mir aus auch aus Mitleid. Dafür gibt man sein Geld her und bekommt nach drei bis vier Werktagen ein Tape zurück. Das steckt man ein und vergisst es erstmal zwei, drei Wochen neben den restlichen Postwurfsendungen. Bis man es doch rausnimmt und komplett vergisst. Was schade wäre bei dieser schönen Zusammenstellung, für die viele mitgetan, das heißt: alle Nischen ausgenistet haben. Bum-Bum-Bum und Pop-Pop-Pop und Dub-Dub-Dub, dazu die besten Hits der Achtziger, Neunziger und Nullerjahre! Sofern man very deep mag.

Patrick Holland – Infra (Verdicchio Music Publishing)

Patrick heißt zwar Holland, kommt aber aus Kanada. Weil Musik aber keine Grenzen kennt und Glasfaser verbindet, landen Disco, House und Täterä auch in den entlegensten Ecken. Kanada ist immerhin das zweitgrößte Land der Welt (wer wusste?), und trotzdem kennen wir es nur von bärtigen Männern, die auf DMAX ihren LKW über zugefrorene Seen in der Größe von Nordrhein-Westfalen lenken. Das heißt, wir wissen fast nix, aber hören halt mal hin. Patrick hat beim letzten Verhör zwar noch 2009er-Indie-Pop produziert, aber davor auch schon Sommerhits für Sommerfestivals. Das heißt: Das Leben ändert sich, und wenn es dir Zitronen gibt, quetschst du die nicht alle auf einmal aus, sondern freust dich über die Abwechslung – die kanadischen Winter sind schließlich lang und finster. Vielleicht ist Infra deshalb ein Mixtape geworden, das den Serotoninspiegel von lebenslangen Abstinenzlern besitzt.

High Park Funk – Permeate EP (Blaq Numbers)

HPF hat sie alle bedient. Oder bedienen lassen. Der Schotte mit dem Hochpassfilter orchestriert einen zur Musik geronnenen Lusttropfen von Vintage-Retro-Äh-Altwarenmusikgeräte-Sammlungen. Damit macht man Musik, die nach Discokugel klingt, die manche aber auch Funk nennen, was zumindest so funky ist wie der Name High Park Funk. Jedenfalls ist das Musik, für die Musikmagazine schon mal das schöne Wörtchen „tanzbar” auspacken. Ist bestimmt auch eine Wahrheit – in einer dieser Welten, wo man unter neonlichtdurchfluteten Arkaden auf Rollschuhen durchfährt und es für immer 1982 ist. Ach ja, damals waren Saxophone übrigens der letzte Schwanenschrei. Und die Maschinen, auf denen High Park Funk hier rumleiert, gerade frisch aus Japan eingetroffen. Heute schreiben Musikmagazine dann, dass eine junge Generation diesen Sound neu entdeckt, gekonnt interpretiert. Oder so.

DJ Strawberry – Beyond (outlines)

Ich verneige mich, ich salbe ihm die Füße: DJ Strawberry hat wieder ein Album gemacht! Das muss ich gar nicht hören, ich weiß jetzt schon, es ist beyond. Schließlich war das erste Tape des Türken – vor zwei Jahren ebenfalls auf dem sehr, sehr guten outlines aus Polen abgespult – nichts weniger als eine göttliche Erleuchtung. Zumindest wenn man an so was glaubt, denn: Footwork und Dub Techno zusammengepanscht macht einfach Bock auf Jesus. Das ist so wie zerbröselte Oreo-Kekse im Vanillepudding; schmeckt beides für sich geil, ist in Kombination aber Brainfuck 3000. Na ja, ihr merkt schon, die Erwartungen sind gerade auf Weltrekordniveau. Muss man sich also rantrauen an die Achtmeterfuffzig aus dem Stand, das heißt: 140 BPM zum Dehnen, 160 für die Mittelstrecke und 200 zum Durchdrehen!

Solipsism – In A Not So Distant Future (Móatún 7)

Ich war noch nie auf (oder in?) Island, aber genau so stell’ ich es mir vor: weit und breit nur Schafe, Seen, Solipsismus. Jedenfalls keine Menschen. Und wenn, dann nur ein paar, zum Beispiel 268. So viele leben in Tálknafjörður. Das können Bayern-München-Anhänger unmöglich aussprechen, deshalb sagen wir: Es ist weit weg von der Allianz-Arena. So weit, dass man tagelang in eine Richtung gehen kann und niemanden trifft, bis man dann doch jemanden trifft (gibt’s ja gar nicht, du auch hier?), der Kassetten aufnimmt und ein Label macht und genau die Musik spielt, die man hören will, wenn man auf einer Klippe stehend in die Ferne starrt, um dann nach einigen Sekunden vollkommener Ergriffenheit zu sagen: Da merkt man erst, wie klein man ist – so als Mensch.

VA – 10 Years of Dancing (Organic Analogue Records)

Einen guten Song erkenne ich inzwischen daran, dass ihn mein Schwellenbewusstsein unbemerkt als Übergangsmusik in eine Drei Fragezeichen-Folge basteln könnte. Das heißt: Es ist Stimmungssound, aber eben wie ein echter Song, den man in den letzten Sekunden vor dem Träumeland hört und sich dann denkt: Schade, dass der gerade nur zehn Sekunden gelaufen ist! Bei den Geburtstags-Tapes von Organic Analogue Records hab’ ich das Problem nicht. 31 Songs in Sonntag-Abend-lass-uns-Tatort-schauen-Länge machen meine Nacht zu einem guten Tag. Nicht Gott, sondern Nadia Struiwigh, Gacha Bakradze oder Doc Sleep sei Dank! Außerdem tun da noch eine Reihe an anderer Musiker:innen mit, die man vielleicht kennt, wenn man sich gut auskennt mit dem Nachtflug oder den Drei Fragezeichen.

blue build – Adaption (Patching Flowers.)

Patching Flowers. aus Leipzig ist kein Label, eher ein Kollektiv, aber weil das so blöd klingt, sagen wir einfach: eine Gruppe von Leuten, die Synthesizer gerne haben und mit ihnen Musik machen. Immer wieder springt dabei auch ein Tape raus. Wie zum Beispiel von blue build. Wer das ist, bleibt ein Geheimnis. Man muss ja nicht alles wissen. Sonst verpasst man noch das Wichtigste, was ja die Musik ist, die mich in ihrer genialen Räudigkeit an das One-Album-Wunder von Lndrcroy auf 1080p erinnert. Synthimukke mit schönen Effekten und Melodien, die so bröckelig daherkommen wie drei Tage altes Nussbrot aus der Backbox – und genau deswegen eine ganze Gedankenkaskade lauschiger Vergänglichkeit lostreten. Wäre ich im Theater, würde ich jetzt aufstehen und klatschen!

Leise im Kran – Leise im Kran (Rib Disques)

Habt ihr euch schon mal gefragt, was Kranführer eigentlich so machen, wenn sie nix zu tun haben, hoch droben, 3500 Meter über dem Wasserspiegel? Sie drehen das Radio auf. Und schon ist es nicht mehr Leise im Kran. Tja, könnt ja selbst nachfragen. Leise im Kran lenkt zwar keine Kräne, aber verschiedene Kabel und Kolben. Dabei geht’s so heiß zu, dass der Ausflug zu Hornbach nicht nur aus ästhetischen Gründen Sinn macht. Kurzschlussknaben wissen Bescheid: Mit Acid ist nicht zu spaßen! Deshalb pappen wir hier gleich drei Gefahrenschutzplaketten drauf. Achtung! Handle with care! Lauter durch Kran!

David Wallraf – The Commune Of Nightmares (Karlrecords)

Seine Albträume möchten wir haben. Als Kassette zumindest. Die hat Graf Dunkelheit des Noise unlängst zusammengeschnibbelt. Darauf kann man sich dann anhören, was einigermaßen unheimlich ist – immer wieder denselben Loop, in unterschiedlicher Ausführung zwar, aber eben doch so, als flüstere einem andauernd eine Stimme ins Ohr, dass man immer schon der Caretaker gewesen sei. Deshalb klingt The Commune of Nightmares auch wie ein Desaster, das schon stattgefunden haben wird, wenn wir es gehört haben werden. Kann Spuren von Kompliziertheit enthalten! Und so ähnlich oder ganz anders ist es David Wallraf dann auch angegangen; da und dort eine musikalische Hinterlassenschaft gefunden; sie eingelegt, manipuliert, aufgespult. Irgendwas kommt immer dabei raus, will man meinen. Muss man aber nicht, weil diese Fahrt durchs Geisterhaus in seinen Händen in eine trostlose, und ich meine: TROSTLOSE Welt voller Abgründe und eigentlich des Nichts führt – wenn es dieses Nichts denn jemals gäbe!

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