Bildunterschrift: Im Hotel Alphavito in Kyiv brachte das Brave! Factory Festival jahrelang Künstler:innen unter, unter anderem Jane Fitz, Marcel Dettmann oder die Zenker Brothers. Am 31. Dezember 2022 wurde es bei einem russischen Raketenangriff schwer beschädigt. (Fotos/ Montage: Brave! Factory)
Dieser Beitrag ist Teil unseres Jahresrückblicks REWIND2023. Alle Texte findet ihr hier.
Seit 18 Monaten führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Tausende Menschen starben. Viele flohen. Die Meisten blieben – auch in Kyiv, der ukrainischen Hauptstadt, die vor dem Krieg als „neues Berlin der europäischen Techno-Szene” bezeichnet wurde. Das ist heute anders. In den Nächten herrscht Ausgangssperre. Fast täglich heulen die Sirenen, wenn russische Drohnen die Stadt angreifen.
Dennoch finden in manchen Kyiver Clubs Veranstaltungen statt. Manche sprechen sogar von einer „Wiedergeburt der Techno-Szene”. Tatsächlich konnte im Sommer einer der bekanntesten Clubs der Stadt ein Festival ausrichten. Wie sich die Events seit Beginn des Krieges verändert haben und warum manche von einer „neuen Geschlossenheit” sprechen, hat GROOVE-Autor Christoph Benkeser recherchiert. Und dabei mit Künstler:innen, Veranstalter:innen und Clubbesitzern aus Kyiv gesprochen.
Die letzte Runde beginnt nach elf. Wer danach noch ausgehen und den Krieg für ein paar Momente vergessen will, muss sich beeilen. In Kyiv herrscht ab Mitternacht Ausgangssperre. Bis fünf Uhr früh müssen alle zu Hause sein, Bars wie Clubs bleiben geschlossen. Ein Nachtleben, wie es in vielen Städten Europas normal ist, ist für die Menschen in Kyiv seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 unmöglich.
„Wenn es um alltägliche Dinge geht, hat sich unser Planungshorizont auf einige Tage reduziert”, sagt Harry Pledov. Der gebürtige Kyiver betreibt mit Polygon ein Breakbeat-Label und veranstaltet inzwischen Festivals wie Art – Weapon!. Kurz nach Beginn der Invasion kündigte er dafür seinen sicheren Job in der IT. „Der Krieg war ein Weckruf”, sagt er. „Er zwang mich wie viele andere dazu, eine Entscheidung über den wirklichen Sinn des Lebens zu treffen.”
Seine Familie habe ihn unter Tränen angefleht, die Stadt zu verlassen. Pledov hatte andere Pläne. Mit einem Bekannten und einer Menge Wut produzierte er in den ersten Kriegstagen kugelsichere Westen. „Da alle Importwege unterbrochen waren und die Zahl der Menschen, die ihr Land verteidigen wollten, die Menge der verfügbaren Ausrüstung überstieg, mussten wir uns schnell in die Feinheiten der Metallbearbeitung und des Nähens einarbeiten.”
Via Instagram startete der Ukrainer eine Crowdfunding-Kampagne, um Geld für das Metall der Westen zu sammeln. Viele große Namen der elektronischen Musik unterstützten das Anliegen. „Als Mall Grab den Beitrag repostete, war mein erster Gedanke: ‚So hab ich mir seinen ersten Post über mich nicht vorgestellt.’” Die Reichweite half dennoch: Es kam genug Geld zusammen, um das Metall zu kaufen – „ironischerweise aus russischer Produktion”, so Pledov.
„Die Arbeit mit Metall war ohnehin nie meine Lebensaufgabe”
Harry Pledov
Über 2.500 Westen habe man in wenigen Wochen herstellen und ebenso viele Soldaten ausrüsten können. Als die Rüstungsimporte zunahmen, verschwand auch der Bedarf an selbstproduzierten Westen. „Die Arbeit mit Metall war ohnehin nie meine Lebensaufgabe”, sagt Pledov. „Ich beschloss also, einen Weg einzuschlagen, der mir immer wichtig gewesen war: die Unterstützung der Kultur, mit der wir Geld für unsere Armee sammeln.”
Aus diesem Gedanken sei das Festival „Art – Weapon!” entstanden – ein Event, das vergangenen Februar in der Alten Münze in Berlin stattfand und von DJ-Sets über Rap-Sit-ins und Actionpainting bis hin zur Verköstigung von Borschtsch zeigte, was die ukrainische Kultur hergibt, wenn keine Bomben fallen. Über 1000 Tickets konnte man über das Wochenende verkaufen, so Pledov. Ein Zeichen der Solidarität. Und eine Bestätigung, dass Kunst durchaus als symbolische Waffe eingesetzt werden könne.
Übrigens auch für die Menschen in der Ukraine, in Kyiv, fügt Pledov an. Schließlich brauche es auch während des Kriegs Räume, in denen man zusammenkommen kann. Das Bedürfnis, eigene Erfahrungen und Emotionen zu teilen, sich gegenseitig zu unterstützen und zu spüren, dass man nicht allein ist, das alles könne Kultur einlösen.
Früher zählten nur Geld, Ruhm oder Spaß
Ausgelöst hat der Krieg hingegen eine Erneuerung der lokalen Szene, die gerade eine „Auffrischung erlebt”, wie Alisa Mullen sagt. Die ukrainische DJ und Producerin hat früher für den Kyiver Club Closer und für das Festival Brave Factory gearbeitet. Heute betreibt sie von Berlin aus die Agentur Strela. Weil die Ausgangssperre kein Nachtleben zulässt, haben sich die Partys von der Nacht in den Tag verlagert, so Mullen. Eine Veränderung, die durchaus positive Auswirkungen habe, wie sie sagt.
Die Events seien nüchterner als vor dem Krieg. Sie konzentrieren sich mehr auf das Zusammensein und die Musik als auf Alkohol und andere Dinge. Außerdem nutzen junge Künstler:innen aus Kyiv ihre Chance, denn: Viele, die bereits vor dem Krieg im Ausland gespielt haben, sind nach Kriegsbeginn nicht mehr zurückgekehrt. Dazu komme, dass so gut wie keine ausländischen Gäste anreisen. Die großen Namen legen gerade nicht bei uns auf. Wahrscheinlich schätzen die Ukrainer:innen ihre einheimischen Künstler:innen deshalb mehr als früher”, so Mullen.
„Die Events verfolgen nur noch zwei Ziele.”
Alisa Mullen
Im Mai sei sie als Künstlerin zum Strichka Festival in Kyiv eingeladen gewesen. Das Festival organisierte ihr ehemaliger Arbeitgeber, der Club Closer, es fand aber in sieben Locations statt. „Kyiv hat sich zwar schon immer leichter als andere ukrainische Städte an die Gegebenheiten angepasst. Dass eine junge Generation von Veranstalter:innen so gut zusammenarbeitet, hat mich dennoch überrascht”, sagt Mullen.
Vor dem Krieg hätten die Leute verschiedene Gründe gehabt, eine Veranstaltung zu hosten – „Geld, Ruhm oder Spaß”, so Mullen. Inzwischen habe sich das geändert. Die Events verfolgen zwei Ziele: Spenden zu sammeln, um der ukrainischen Armee zum Sieg zu verhelfen. „Und die Szene vor Ort zu unterstützen.” Schließlich entwickle die sich gerade im Breakbeat-Bereich, wie Mullen nicht nur wegen ihrer Vorliebe für Bass Music festhält. Vor allem Polygon, das Label von Pledov, setze in diesem Bereich viel um.
Kyiv ist Fusion
Die Veränderung hin zum Gebrochenen nimmt auch Sergey Yatsenko wahr. Als Mitgründer des Closer war er jahrelang für das Booking zuständig und etablierte die Location als Ort für „minimalistische Sachen”, wie er sagt. Seit der russischen Invasion lebt Yatsenko nicht mehr in der Ukraine. Er ist wie viele seiner Freunde in den europäischen Westen geflohen, arbeitet von unterschiedlichen Orten aus aber weiterhin für seinen Club.
„In Kyiv treten derzeit viele Künstler:innen auf, die in Europa niemand kennt”, sagt Yatsenko. „Sie denken über ihr Leben im Krieg nach und verarbeiten diese Gedanken in ihrer Musik, vielleicht produzieren viele deshalb Breakbeat und Drum’n’Bass – weil sie einem zerbrochenen Leben etwas Zerbrochenes gegenüberstellen. Gleichzeitig wollen sie ihre Energie auf den Dancefloor bringen und nicht wie Berliner bei Techno-Veranstaltungen mit Lederjacken rumlaufen.”
An Techno komme man – ob beim sogenannten Aufbau-Rave oder zur Daytime-Party im Kriegsalltag – trotzdem nicht vorbei. Den harten Sound finde man aber woanders, sagt Yatsenko. Dafür seien neben Disco-Events auch Jazz-Konzerte gut besucht. „Die Jazzszene in Kyiv ist im Aufwind. Vor allem Fusion, also wenn elektronische Musiker:innen und ausgebildeten Jazzer:innen zusammenspielen, kommt gerade gut an.”
„Jetzt ist vieles verloren.”
Sergey Yatsenko
Eine Veränderung, die vor allem dem Krieg geschuldet ist, meint Yatsenko. Schließlich wurde das Closer seiner Eröffnung 2012 – zumindest in westeuropäischen Augen – eher als Club und weniger als Konzertlocation für Bigbands gesehen. Kein Wunder: Laurent Garnier, Helena Hauff, Moodymann – viele große Namen aus Techno, House und dem Dazwischen haben vor dem Krieg im Closer aufgelegt. Dabei habe man schon damals immer mal wieder auch die Booth rausgekarrt, um den Schlagzeugteppich auszurollen und ein paar Verstärker zu verkabeln.
„Im Closer waren und sind wir offen für alle und alles”, sagt Yatsenko, sieht aber auch, dass der Zeitgeist nicht vor dem Kriegsalltag haltmacht. „Wir haben nie gesagt, ‚Diese Party ist für diese oder jene Leute.’ Wir haben einfach Musikveranstaltungen gemacht. Die Leute haben entschieden, ob sie zu uns kommen wollen oder nicht. Das hat sich geändert. Im Closer gibt es jetzt eine Party ausschließlich für LGBTIQ-Menschen. Wir wollen auch das abbilden.”
Vor dem Krieg habe es in Kyiv auch Szenen für Synthwave und Electro gegeben. „Jetzt ist vieles verloren”, sagt Yatsenko. Viele Veranstalter:innen aus diesen Musikrichtungen seien nicht mehr in Kyiv, andere wollen keine Partys mehr veranstalten. Der Krieg hat die kulturelle Vergangenheit bereits zerstört, bevor er zu Ende ist. Junge Künstler:innen müssen gegenwärtig, so der Closer-Chef, nicht nur eine, sondern mehrere Lücken füllen.
Eingeschränkte Entwicklung
Eine dieser Lücken füllte Oleksii Makarenko mit der Gründung von Gasoline Radio kurz nach Kriegsbeginn. Das Community-Radio sollte eine Startrampe für Künstler:innen sein, die sich gegen den „Minderwertigkeitskomplex der Ukrainer:innen” richtet, so Makarenko. „Auf Partys gab es nämlich die Tendenz, ausländischen Artists die meiste Aufmerksamkeit zu schenken. Einheimische Künstler:innen wurden von uns erst wahrgenommen, wenn sie nicht mehr bei uns spielten. Gasoline sollte den Fokus auf das lenken, was im Land passiert, und zeigen, wie vielfältig unsere Communitys sind.”
Makarenko zeichnet ein „gemeinsames Bild der ukrainischen Kultur”, eine, wie er meint, „solide Grundlage auf Basis unseres Erbes.” Deshalb stand er in den ersten Monaten des Radiobetriebs nicht nur im Studio. Das kleine Team habe eine Expedition unternommen und einen Dokumentarfilm über die traditionelle Musik der Karpaten gedreht. Außerdem konnte man via Gasoline ein Sample-Pack mit ukrainischen Instrumenten und eine Compilation veröffentlichen, auf der heimische Künstler diese Instrumente mit moderner Musik kombiniert haben.
„Unser kulturelles Erbe stagniert.”
Oleksii Makarenko
Aktuell sendet Gasoline nicht live – „die Umstände zwingen uns dazu”, so Makarenko. „Wir sind eine Gruppe von Enthusiasten, die an die Wichtigkeit dieser Sache glauben. Wir wollen nicht aufhören, nur weil uns das Geld fehlt. Uns ist aber auch klar, dass ein freies Kulturprojekt wie Gasoline Radio nicht ohne Förderungen existieren kann. Deshalb suchen wir nach neuen Möglichkeiten, um unsere Aktivitäten zu monetarisieren.
Die Regierung müsse erkennen, dass der Weiterbestand der Ukraine auch von der Existenz ihrer Kultur abhängt. „Bekommen die Szenen keine Unterstützung und tritt man mit den Communitys nicht in einen Dialog, stagniert unser kulturelles Erbe”, so Makarenko. „Schon jetzt fehlt es – nicht nur in Kyiv, aber auch dort – an ausreichenden Veranstaltungsorten und sozialen Räumen für Künstler:innen. Zwar entstehen aktuell neue Festivals und Eventreihen. Allerdings stoßen wir uns an den begrenzten Möglichkeiten. Wir sind nicht in der Lage, den nächsten Schritt in der Entwicklung zu machen.”
Die Entstehung der modernen Ukraine
„Leider ist die Szene geschrumpft”, sagt Slava Lepsheev, Gründer der Veranstaltungsreihe Cxema, mit der er seit 2014 Raves in Kyiv organisiert. Aus verständlichen Gründen seien viele Künstler:innen geflüchtet und bisher nicht wiedergekommen, weil sie an anderen Orten besser leben können. Große Veranstaltungen könne man zur Zeit schließlich nicht planen. Das hindere die Szene am Wachstum. Allerdings sei, so Lepsheev, die Gemeinschaft in der elektronischen Musik vor Ort geschlossener geworden.
Mit Cxema veranstaltete er jahrelang eigene Events, vernetzte sich mit Labels wie PAN oder stellte DJs wie Stanislav Tolkachev vor die Kameras des Boiler Room. Dann kam die Pandemie, schließlich der Krieg. Erst vor einigen Monaten sollte wieder eine Cxema-Party stattfinden. „Ich verließ Kyiv nämlich am ersten Tag der russischen Invasion”, so Lepsheev. „Zuerst wollte ich das Land verlassen, wusste aber nicht, was ich in Europa tun sollte. Ich wollte ja nicht das Nachtleben von Berlin weiterentwickeln, sondern die kulturelle Entwicklung meiner Heimatstadt vorantreiben, vor allem jetzt, wo wir einen bedeutenden Moment in der Entstehung einer modernen Ukraine erleben.”
Mittlerweile ist Lepsheev nach Kyiv zurückgekehrt. Er empfinde „tiefe Dankbarkeit” gegenüber „unserer Armee”. Sie ermögliche es, dass wir zu Hause leben und weiterhin das tun können, was wir lieben. Das heißt für ihn und Cxema auch: Partys zu veranstalten. Ein Event im Collider, einer Location am Stadtrand von Kyiv, findet demnächst statt. Lokale, junge Artists wie Ross Khmil und Facheroia legen auf, Einlass ist, wie aktuell immer: nach dem Mittagessen.