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[REWIND2023] Platten der Woche: Fünf für den Klassik-Floor

Dieser Beitrag ist Teil unseres Jahresrückblicks REWIND2023. Alle Texte findet ihr hier.

Experimentell? Ambient? Akustisch, elektronisch, hybrid? Einfach „anders” oder doch „neoklassisch”? 2023 haben sich die früher so wichtigen Genre-Definitionen noch mehr aufgelöst. Die Neue Klassik spielt dabei weiterhin eine tragende Rolle, wobei niemand weiß, wofür dieser Begriff aktuell steht oder jemals stand. Thaddeus Herrmann stellt fünf Veröffentlichungen aus den vergangenen zwölf Monaten vor, für die alle Schubladen zu groß sind. Die Musik ist dafür einfach zu gut.

Claire M Singer – Saor (Touch)

1767, 1872, 1877, 1922, 1925, 2009, 2018: Das sind die Baujahre der Orgeln, mit denen die schottische Komponistin Claire M Singer ihr Album Saor aufgenommen hat – ein zeitlicher Bogen, den der Techno einfach nicht schafft. Singer hingegen schafft auf ihrer fünften Veröffentlichung (wenn wir alles mitrechnen) einiges, wenn nicht sogar alles. „Saor” bedeutet so viel wie „frei”, und um Himmels willen setzt Singer mit ihren dronigen Entwürfen die Segel für die Überfahrt gen Freiheit! Die Musikerin schichtet Harmonien und Strukturen so reduziert-mitreißend, wie es Jóhann Jóhannsson nur selten gelang, selbst vor seiner Hollywoodisierung. Mit einem Wechselspiel zwischen Hell und Dunkel, Episch und Bedrohlich, Leise und Laut zersägt Singer auch die letzten morschen Planken der hölzernen Achterbahn mit Endlos-Loop. Das ist deep und in höchstem Maße emotional, dabei aber nie anbiedernd oder banal, sondern zeitgenössische Stringenz im Dienste eines Flows, der das Versinken in den eigenen Gedanken zum Kategorischen Imperativ macht. Ich habe mein Testament geändert. In der Trauerhalle wünsche ich mir „Forrig” auf voller Lautstärke, zweimal hintereinander.

Bruce Brubaker – Eno Piano (Infiné)

Eigentlich wollte ich dieses Album nicht mögen. Wer braucht schon Eno-Coverversionen? Gelungen ist mir das nicht, ganz im Gegenteil. Denn wie der US-amerikanische Pianist Bruce Brubaker die Musik Enos (solo oder im Original mit Moebius, Rodelius, Hopkins und Abrahams) hier interpretiert, ist tatsächlich beeindruckend. Der musikalische Elefant im Raum – „1/1” von Music For Airports – ist eine schmeichlerische Hommage, die doch – und das ist einer der Leitfäden dieser LP – im Detail vollkommen anders funktioniert, immer wieder verschlungene tonale Verschiebungen sucht und so eine Geschichte neu erzählt, die seit 1978 eigentlich und zu Recht als auserzählt gilt. Die anderen Leitfäden? Respekt, natürlich, vor allem aber das Vertrauen in die eigene Deutung und die Überzeugung, dass die Nähe zum Original die eigentliche Herausforderung ist. Es ist doch so: Die besten Tracks, Songs und Kompositionen sind die, die wir ganz automatisch im Kopf mitsummen. Brubakers Album ist das lauteste Summen, das ich seit langer Zeit gehört habe. Große Einspielungen, die für mich viel besser funktionieren als Brubakers Glass Piano von 2015.

VA – The Complete Obscure Records Collection 75/78 (Dialogo)

Bleiben wir bei Brian Eno, reden aber nicht über seine sieben 2023er-EPs und seinen Soundtrack zu Top Boy (es war kein gutes Jahr in seinem Œu­v­re), sondern über seine Arbeit als A&R und Labelmacher in den Siebzigern. Die zehn Releases auf Obscure sind allesamt legendäre Entwürfe der zeitgenössischen Musik: Enos Discreet Music zum Beispiel, Harold Budds The Pavilion Of Dreams, Michael Nymans Decay Music und natürlich The Sinking Of The Titanic von Gavin Bryars (nicht nur wegen der Aphex-Twin-Remixe).Das italienische Label Dialogo hat das Gesamtwerk nun neu aufgelegt – als Vinyl- oder CD-Box-Set. Die Betonung liegt hier auf Gesamtwerk, denn viele der Veröffentlichungen wurden bereits zahlreich lizenziert und nachgepresst. Als vielstimmiges Ensemble der radikalen Klangforschung von damals entfaltet diese Sammlung heute jedoch eine kompositorische Sogwirkung, die kaum zu toppen ist. Und das beiliegende Büchlein bietet allerhand erhellende Insights der Beteiligten.

Lucy Railton – Corner Dancer (Modern Love)

Hinter dem blutbesudelten PVC-Vorhang des Schlachthofs kämpft sich zwischen zwei ehemals weißen Wandkacheln ein Blümchen den Weg in die vom Neonlicht durchflutete Freiheit aus Beton. Lucy Railton ist eine unberechenbare Musikerin, die in aller konzertanten Verweigerung doch immer das vermeintlich Schöne schimmern lässt.

Auf Corner Dancer muss man diesem Schönen selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnlich lange und intensiv nachspüren, bevor es sich plötzlich und unvermittelt in den Ecken (sic!) aufbäumend andeutet – und im Track „Blush Study” vollkommen unerwartet aufgelöst wird. Railton übertrifft sich auf diesem Album selbst. Und erneut. Das Vinyl sollte mit Schaufel geliefert werden. Zum Graben in der eigenen Ignoranz, zum zerstörerischen Schaben an der Oberflächlichkeit.

Hauschka – Philanthropy (City Slang)

Seit 2023 können wir Hauschka nicht nur Volker Bertelmann, sondern auch Oscar Bertelmann nennen. Ein bewegender Moment und letztendlich eine selbsterfüllende Prophezeiung. Der Musiker hat das, was heute als Neoklassik schmierig an den populärmusikalischen Abenden großer Konzerthäuser durchgereicht und dankenswerter Weise schnell wieder vergessen wird, mit erfunden. Am präparierten Klavier. Sein musikalischer Kosmos ist und bleibt viel größer als das, worauf er heute gerne reduziert wird.

Sein diesjähriges Album Philanthropy beweist das exemplarisch. Hauschka macht einfach Musik. Kompositorisch ist das so klug, vielschichtig und durchdacht, dass die verwendete Technik inmitten seiner dafür verwendeten Techniken schon längst nicht mehr auffällt. In aller wattierten Euphorie wird Hauschkas Musik von einer gewissen sequenzierten Strenge dominiert. Sie setzt den entscheidenden Kontrapunkt und all diejenigen Kolleg:innen schachmatt, die eine Bassdrum mit einem Groove verwechseln.

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