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Motherboard: November 2023

Hybrider Pop aus hybrider Kultur. Im besten aller möglichen Sinne verbinden sich (und clashen) Welten in den frankophonen Songtracks der zwischen Kamerun und Lyon lebenden Cindy Pooch im Namen des Körpers, In Nomine Corpus (Infiné, 29. September) auf Latein. Feinste Texturen aus Field Recordings und experimenteller Elektroakustik bilden den unaufdringlichen, oft kaum hörbaren, aber doch stets präsenten Hintergrund zu fragilen Songs und Chansons, in denen Cindy Poochs Stimme das wichtigste Instrument darstellt. In Erweiterung der Ästhetik ihrer ätherischen ersten EP finden hier zunehmend Post-Club-Beats in die Stücke hinein. Dennoch bleiben sie durchgehend zart und flüchtig. Wie aus sehr wenig (Sounds und Strukturen) sehr viel entstehen kann, ohne Klischees irgendeines der vielen Minimalismen zu reproduzieren, ist die große Kunst und nur eine der ungewöhnlichen Eigenschaften dieses starken und außergewöhnlich erwachsenen, durchlebten Debüts. Einfach mal kurz den Artschool-Pop (auf Französisch) neu erfinden? Ja, so geht das!

Kurz zusammengefasst: Agata Melnikova ist ein musikalisches Genie. Die lettische Produzentin mit dem schönen Alias Sign Libra kann noch die abstruseste Idee, den seltsamsten Noise zu genuiner Popmusik machen, ohne dass es im Geringsten gewollt oder angestrengt wirkt, geschweige denn ist. Auf ihrem zweiten Album Hidden Beauty (RVNG Intl., 3. November) vielleicht sogar noch etwas selbstverständlicher und lockerer als zuvor. Tolle, tiefenwirksame Songs und hyperverspielte Klangexperimente sollten keine Gegensätze sein. Und wenn es jemanden gibt, der die Widersprüche versöhnt, die Hindernisse überwinden kann, dann Sign Libra. Worum es geht: Feminismus,  Individualität, Selbstbefragung, Freiheit. Die guten Dinge.

Wer nix wird, wird weird, und wer was werden will, macht Dub. Die Weisheiten aus dem vorigen Jahrtausend gelten selbstverständlich noch immer und der Australier Hugh B hat davon gleich eine Riesentüte inhaliert. Live From The Gonsch (Not Not Fun, 6. Oktober) versetzt das Soundsystem-Massiv in das Produzenten-Schlafzimmer und wird so zu etwas wie Domestic-Pop in Bedroom-Dub. Eine interessante Kombination, die ein wenig nach einem Best-of aus Sundowner-Balearic, Instro-Beatz, Hobby-Hip-Hop-Headz-Kram klingt, aber letztlich doch ganz woanders hinwill. Die Rauchwaren sind aber vermutlich dieselben.

Nüchtern und fokussiert, doch kaum weniger ausgreifend und raumschweifend, kommt Fourth Face (Noorden, 22. September) von Alex Ketzer daher. Die gerade noch so oder gerade eben nicht mehr tanzbare Mini-LP eines der Noorden-Labelmacher bedient sich gerader und gebrochener Beats, um etwas Krummes aus dem eigentlich Geraden zu bauen, etwas, das es ohne Techno und Electro nicht geben könnte, aber dann doch nie wirklich zu Techno, Electro oder etwas anderem unmittelbar Identifizierbaren wird. Was ja eine tolle Qualität für sich ist.

Ist der Dub erst mal mürbe geworden und in tausend winzige Teile zersprungen, könnte er sich so anhören wie The Celebration (Hausu Mountain, 27. Oktober) von Tim Thornton alias Tiger Village aus Cleveland, Ohio. Also beste Midwestern-Weirdness, die mindestens so viel Dub wie Glitch wie IDM wie Free Jazz wie komische Neunziger inhaliert hat. Da haben abgebrochene Stimmsamples ebenso etwas zu sagen wie Instrumenten-Loops und scharf geschnittene Microsamples von, tja, irgendwas. Also von allem – einfach freie Musik für freie Menschen.

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