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Album des Monats: Oktober 2023

Ricardo Villalobos – Alcachofa (Perlon) (Reissue)

Im Oktober ist Ricardo Villalobos’ Minimal-Manifest und Debütalbum Alcachofa als Reissue gemeinsam mit der EP Alcachofa Tools auf Perlon erschienen. Gelegenheit, sich zu fragen, warum wir das gerade jetzt brauchen. Mit dem schnellen, schrillen Sound der Gegenwart hat es wenig zu tun. Zwar hat Minimal nie wirklich aufgehört, nur hat die junge Generation kaum Zugang dazu gefunden.

Anfangs mag es langweilig klingen, wie gemächlich und trocken die Beats auf 125BPM vor sich hingrooven – vor allem in Zeiten des Genre-Pluralismus und gewohnter Trance-Ekstase. Doch vielleicht ist es gerade jetzt wieder so weit, sich auf die Grundlagen zu besinnen, Genre-Grenzen einreißen und sich vom durchgängigen Groove leiten zu lassen. Denn Groove hat das Album nach wie vor, und zwar so einen, dass selbst die gewieftesten Tänzer:innnen immer wieder neue Elemente und Betonungen finden. Alcachofa ist und bleibt ein Universum für sich. 

Ricardo Villalobos 2008 auf dem Merkwürdigen Verhalten in Frankfurt (Foto: GROOVE Archiv)

Eröffnet wird das Album von einer Vocoderstimme zwischen Mensch und Maschine mit der poppigen Wohlfühl-Minimal-Hyme „Easy Lee”. Kaum verständlich werden vage Strophen gesungen, bis sich ein immer vielschichtigerer Beat mit Harmonie und Melodie entwickelt. Die Hi-Hhats grooven mikroskopisch klein, und nur in der Mitte gibt es eine kurze Instrumentalpassage. Ansonsten wird der Maschinengesang wie ein Mantra wiederholt. Ob Villalobos das Vocal selbst eingesungen hat, oder wer hier versucht, sich verständlich zu machen, bleibt offen. Auch in den anderen Tracks kommt oft der mehr oder weniger verständlicher Vocoder-Singsang zum Einsatz.

„Bahaha Hai” hingegen wirkt vertrackter, etwas paranoid und öffnet den Raum für eine House-Erfahrung, die ebenso tief und introspektiv wie Techno sein kann. Unverständliche Vocals versuchen, bis zu den Hörer:innen durchdringen, was nicht gelingt – im zweiten Teil setzt eine markante Acid-Bassline ein. Auch hier zeigt sich, wie schwer es ist, Villalobos’ Musik in Genre-Schubladen zu stecken.

Natürlich verbergen sich im Laufe der LP noch weitere Schätze wie der melancholische Hit „Dexter” oder das wunderschöne „Quizas”, doch zu viel Analyse schadet der Fantasie. Jedenfalls lebt Alcachofa von einer unglaublichen Freiheit, die sich ebenso im permanent verändernden, tänzelnden Groove wie in ungewöhnlichen harmonischen Konstellationen finden lässt.

Alcachofa ist ein dichtes Gewirr und Gestrüpp, in dem sich immer wieder Lücken finden lassen, in denen sich das Ohr entspannen kann.

Überhaupt arbeitet Villalobos auf Alcachofa im Spannungsfeld von Mensch und Maschine und strebt deren Fusion an. Organische Elemente und Samples schmiegen sich an Elektroakustik, Zufall an Rationalität, Technik an Natur. Villalobos’ Musik wirkt dabei wie ein feines, verletzliches, unregelmäßiges Gewebe, in dem sich bestimmte Schichten zu einem bestimmten Zeitpunkt mal mehr, mal weniger durchsetzen. So hat das Album ein kaum bestreitbaren Live-Charakter. Mit Leichtigkeit kann man sich Villalobos vorstellen, wie er am Mischpult sitzt, mit den Maschinen in seinem Studio spielt und ganz und gar im Moment entscheidet, welchem Element mehr, welchem weniger Beachtung geschenkt werden soll. 

Das klingt niemals zu anstrengend, zu voll oder spitz. Hingegen liefern wenige ineinander geflochtene Elemente durch ein kniffliges Arrangement permanent neue Informationen.

Ricardo Villalobos in den 2000ern im Club der Visionäre in Berlin (Foto: GROOVE Archiv)
Ricardo Villalobos in den 2000ern im Club der Visionäre in Berlin (Foto: GROOVE Archiv)

Vielleicht ist es genau das, was das Album so spannend macht: Alcachofa ist eine Reise durch verschiedene Emotionalitäten und Stimmungszustände, die sich verändern und dabei niemals an ihren Ausgangspunkt zurückkehren. Dabei gibt es kein eindeutiges Gut und Böse, wenngleich unglaublich viel dazwischen. Denn es ist keine Maschine, die hier arbeitet, sondern ein Mensch, der spielt und sich dabei bewusst oder unbewusst ausdrückt – mit aller Passion und Hingabe an sein Medium. Dabei schimmert in Villalobos’ harmonischer Minimal-Interpretation auch irgendwie eine Ästhetik mit Band-Charakter durch, wie wir sie sonst von Boards of Canada oder Radiohead kennen. 

Alcachofa ist ein dichtes Gewirr und Gestrüpp, in dem sich immer wieder Lücken finden lassen, in denen sich das Ohr entspannen kann. Auch kann das Album zu verschiedensten Zeiten und an den unterschiedlichsten Orten funktionieren. Am Lagerfeuer mit Freund:innen, auf dem Weg zur Arbeit und natürlich im Club – oder davor oder danach. Wirklich falsch und deplatziert klingt Alcachofa selten, und natürlich am besten auf Schallplatte. Für die macht sich Villalobos in der Originalauflage mit einer Widmung stark: „Lasst das Vinyl am Leben und nicht die Roboter unsere Arbeit tun. Ricardo”

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