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Motherboard: Oktober 2023

Der Réunioner Produzent Jérémy Labelle hat indes zurück zur Tanzmusik gefunden. Das war bisher eine spezifische und elektronisch runderneuerte Form des Réunioner Maoyla, einer kreolischen Musiktradition zwischen Ostafrika und Indien. Auf Noire Anima (InFiné, 13. Oktober) migrierte diese (offenbar nicht zuletzt dank der Frauen in seinem Leben, Ehefrau und Mutter werden explizit als Einfuss genannt) noch mehr in eine offene Techno-Electronica. Techno, weil zupackend bollerige Bässe und gerade Beats im mittleren bis oberen BPM-Bereich, Electronica, weil sämtliche Klänge, obwohl ultimativ hüftbewegend und brillant wie direkt produziert, immer eine gewisse avancierte Softness, eine anschmiegende Weichheit auszeichnet, die nichts weichzeichnet, sondern alles klarer macht.

In den Tracks von Deena Abdelwahed hat sich der Alarmzustand verstetigt. Klarheit aus dem Chaos ist das ultimative Ziel. Nicht so einfach unter Lebensumständen, die ungefähr alles schwierig machen für Menschen, die sich in das Raster der Mehrheitsgesellschaft weder einpassen können noch wollen, weder in Frankreich noch in Tunesien, den Ländern, in denen Abdelwahed lebt und arbeitet. Es sind aber auch Bedingungen, die Experimente provozieren, die erfordern, die Dinge anders anzugehen als gewohnt, nomadisch und queer, in Musik und im Leben. Welch unmittelbar großartigen Ergebnisse ein solches versuchsweises Dasein zwischen den Welten zeitigen kann, lässt sich auf Abdelwaheds zweitem Album Jbal Rrsas (InFiné, 8. September) hören. Es sind nicht nur dekonstruierte Tradition und rhythmisierter Konflikt, es ist nicht nur der Stress der Straßen von Tunis und Paris, es sind ebenso die Liebe, Gemeinschaft, Glück, die ihre Stücke durchziehen.

Sonnenuntergangsmilde gestimmt kommt zum Ende der Nachsaison der russische Premium-Synth-Wizard Vladimir Karpov heraus. Die jüngste Kassettenveröffentlichung Memory Tapes (Fuselab/Not Not Fun, 1. September) seines bekanntesten Alias X.Y.R. erzeugt unverhohlene Spätsommer-Nostalgie in dunstverhangenem Strandambiente. Klangliche Restwärme gegen melancholische Zukunftsaussichten, ganz ohne Soundmystizismus diesmal. Also einfach nur allerbester Kraut-Synth-Ambient.

Der argentinische Dungeon-Synth-Produzent Acid Twilight trägt die Dämmerung bereits im Namen, psychedelisch gewendet allerdings. Er gibt sich auf dem Tape Shadow Wrangler (Not Not Fun, 6. Oktober) ebenfalls betont freundlich, die substanzinduzierte Weirdness tritt zurück zugunsten einer Wärme, die gerne an die goldenen Zeiten der hiesigen Krautsyntheten zurückdenkt. Mit einer Prise Ennio Morricone gewürzt, ein recht mildes Kraut zum Genießen.

Vast Habitat ist ein brandneues Label aus Los Angeles, dass sich – international bereits jetzt schon exzellent vernetzt – den experimentelleren Aspekten dessen widmet, was sich hinter Dark Ambient und Neoklassik verbirgt. Die ersten drei Laufnummern versprechen und halten schon einiges. Als da wären die Soloarbeiten der beiden Labelmacher: Entheogen von Daniel Lea und Dawn von Michael Deragon und die Labelcompilation VAST HABITAT SERIES (alle: Vast Habitat, 13. Oktober). Wie schon in Leas und Deragons Duoprojekt Heliochrysum, das mit Veröffentlichungen bei der isländischen Label-Institution Bedroom Community definitiv als etablierter Name in ihrem Bereich zu zählen ist, zeichnet die Veröffentlichung eine gewisse Offenheit im Sound aus. Die Stücke lassen sich nie auf ein spezifisches Genre festklopfen, bleiben glücklich im Unreinen, kommen mit oder ohne geraden Beat, mit oder ohne akustische Instrumente. Was alle drei Arbeiten sehr eng zusammenhält, ist einerseits ihr Temperament: eine moderne Klangästhetik der Dunkelheit, die, brillant und tiefenscharf produziert, kaum bis gar nicht in alten Idiomen wie Dark Ambient, Industrial, Gothic oder Minimal-Wave plündert. Zum anderen scheinen viele der Stücke von Austausch und Kollaboration beschwingt, gegen Isolation und produktionelle Anomie. Beste Voraussetzungen für stetes Wachsen und Gedeihen.

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