In Genres wie Jungle, Drum’n’Bass, UK Garage und Dubstep stolpert man immer wieder über den Begriff Dubplate – eine spezielle Schallplatte, die nicht gepresst, sondern geschnitten wird. In den Neunzigern war sie in London, dem Epizentrum der Dubplate Culture, wie auch in Berlin ein wichtiges Tool, um unveröffentlichte Musik in Clubs zu spielen. Heute benutzen sie hingegen nur noch wenige DJs, die CDJs machten sie überflüssig.
Was machte Dubplates einst so besonders für Jungle und Techno? Woher kamen sie? Und warum verschwand die Dubplate-Kultur wieder? Diesen Fragen spürt unser Gastautor Yannik Berger in seiner Geschichtsstunde zur Dubplate nach.
Auf der Suche nach den Anfängen der Dubplate Culture beamen wir uns zurück ins London der Neunziger. Die britische Hauptstadt ist zu dieser Zeit eine Hochburg der Ravekultur. Mit fließenden Übergängen und szenischen Gemeinsamkeiten wie Soundsystemen entwickeln sich Jungle, Drum’n’Bass, UK Garage, Grime und Dubstep mit all ihren Subgenres. An der Stadtautobahn M25 werden Wochenende für Wochenende bisweilen gigantische Raves gefeiert, die mindestens ebenso wichtig sind wie die Clubs der Stadt.
Um die Bedeutung der Dubplate zu verstehen, muss man sich die analoge Infrastruktur der Szene in der Zeit vor dem Internet vor Augen führen. Von den Veranstaltungen erfahren die Raver:innen in der Regel durch Flyer, die zum Teil paketweise am Ende von Partys verteilt werden. Neben den Raves und Plattenläden bilden Piratensender wie rinseFM oder KoolFM eine weitere Säule, auf der die Szene fußt.
Auf den Hochhausdächern der council estates, dem sozialen Wohnungsbau, tauchen immer mehr Antennen von Piratensendern auf, die sich einen harten Konkurrenzkampf um die Höher:innen und ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Ofcom (Office of Communications) liefern. Der britische Staat versucht bald, das nicht-lizenzierte Senden zu unterbinden – durch Geldstrafen oder das Beschlagnahmen von Sendern und Equipment.
Trotzdem entstehen zahllose Kollektive, crews genannt, die mit ihren DJs, MCs und Soundsystems in den Venues der Stadt auftreten. Die riesigen Raves finden in Clubs wie dem Bagley’s statt – in einer Gegend um den ehemaligen Bahnhof King’s Cross, die heute gentrifizierter Einkaufsbezirk ist. Um sich im London der Neunziger als DJ abzuheben, braucht man die neuesten Tracks. Weil es noch keine Promo-Mails oder USB-Sticks gibt und CD-Spieler erst langsam in den DJ-Booths auftauchen, greifen Producer:innen auf Dubplates zurück. In der jamaikanischen Soundsystem-Kultur waren sie bereits in den Siebzigern verbreitet, durch karibische Einwander:innen kommen Dubplates nach London. DJs und Producer:innen entdecken bald ihre Vorteile, schließlich lassen sich die speziellen Schallplatten einfach und vor allem günstig herstellen.
„The music on plate is the freshest you can hear”, schreibt der Autor Brian Belle-Fortune in seinem empfehlenswerten Porträt der Londoner Szene All Crews – Journeys through Jungle/Drum & Bass Culture. Er zeigt auf, dass viele Tracks, die auf Dubplates geschnitten wurden, häufig erst Monate später in den Plattenläden landeten. „Dub plate pressure” bezeichnet in den Neunzigern den Druck, in der schnelllebigen Musiklandschaft relevant zu sein. Für DJs und Produzent:innen ist das nur mit den neuesten Dubplates möglich. Die geschnittene Platte ermöglicht es, Tracks im Club zu testen, bevor sie auf Vinyl erscheinen. Wie reagiert das Publikum? Welche Elemente muss man besser produzieren? Fragen, die man vor CDs und USB-Sticks im Club nur mit Dubplates beantworten konnte.
Ein System ohne große Labels und Vermarktungsstrategien
Um im London der frühen Neunziger die aktuellsten Dubplates auflegen zu können, muss man die richtigen Leute kennen. Crews und Produzent:innen achten penibel darauf, wem sie ihre Dubplates geben und wer sie spielen darf. Einer der bekanntesten DJs der Jungle-Szene, Shy Fx, gab seine Tracks etwa nur DJ Brockie und DJ Ash, alle anderen gingen leer aus – ein absolutes Alleinstellungsmerkmal und eine Ansage seitens des Produzenten. Denn: Oft landeten spezielle Versionen eines Tracks, sogenannte Dubplate Specials, mit einem individuellen Shoutout für den DJ oder dessen Crew auf der Dubplate.
Weil man in den Neunzigern auf Exklusivität achtet, schneiden Produzierende außerdem nur wenige Dubplates ihrer Tracks. Der Wert einer Dubplate misst sich deshalb an Individualität und Seltenheit. Die Platten werden so zu einer Art Währung, die in das von Crews, DJs und Produzent:innen erschaffene DIY-Ökosystem eingespeist wird. Dieses System kommt in London ohne größere Labels und Vermarktungsstrategien aus, im Gegenteil: Die klassischen Vertriebs- und Vermarktungswege der Musikindustrie sind zu langsam für die sich schnell entwickelnde Jungle-Szene der britischen Hauptstadt.
Eine der wichtigsten Institutionen der Dubplates-Culture in London befindet sich in der Holloway Road im Stadtteil Tottenham. Das Music House ist ein kleines, unscheinbares Mastering-Studio, aber Dreh- und Angelpunkt für alle, die etwas mit Jungle zu tun haben. Toningenieur:innen schuften dort teilweise zehn Stunden am Tag in zwei kleinen Studios. Es gibt klaren Hierarchien: Je mehr Fame man als DJ oder Producer:in hat, desto eher sind die Dubplates fertig. Unbekanntere DJs warten dagegen oft stundenlang auf durchgesessenen Sofas – viel Zeit, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und neue Kontakte zu knüpfen.
Was das Hard Wax mit Dubplates zu tun hat
Während weniger bekannte Junglists in einem Londoner Keller auf ihre Dubplate warten, entwickelt sich Berlin in den Jahren nach dem Mauerfall zu einem aufregenden Spielplatz für eine junge, deutsche Technoszene. Viele Clubs eröffnen – und mit ihnen Plattenläden. Den Mittelpunkt der Szene bildet ein Geschäft in der Reichenberger Straße: das Hard Wax.
„Da hat man fünf, sechs Stunden im Plattenladen rumgestanden und mit anderen Leuten über das Wochenende gequatscht”, sagt Sebastian Eberhardt. Anfang der Neunziger ist er als Bassdee einer der umtriebigsten Jungle-DJs in Berlin. Die ersten Dubplates habe er ebenfalls im Hard Wax gesehen – „bei René [Pawlowitz, besser bekannt als Shed, Anm.d.Red.] und Pete [Peter Kuschnereit, besser bekannt als DJ Pete, d.Red.]”, erinnert er sich. „Die hatten sich einen ihrer Tracks als Dubplate geschnitten, und der ragte ein bisschen heraus. Man hat dann schon mal nachgeguckt oder nachgefragt, und es war dann eben keine Testpressung, sondern etwas anderes.”
Mit Dubplates & Mastering gibt es ab 1995 in Berlin die Möglichkeit, Dubplates zu cutten – wenn auch ohne wartende DJs vor dem Studio. „Das war jahrelang ein geheimes Studio, wo kaum jemand wusste, wer da arbeitet”, so Stefan Betke. Damals war er Toningenieur bei Dubplates & Mastering, seit Jahren ist er unter dem Pseudonym Pole als Dub-Musiker aktiv. Betke spricht von einem „gewissen Understatement”, das man aufrechterhalten wollte – in Berlin habe man sich schließlich nur wenig aus dem Pop gemacht, der die englische Ravekultur für viele Protagonist:innen in der deutschen Hauptstadt gewesen sei.
Zwar gab es in Berlin auch Crews und Kollektive, allerdings schien Coolness dort Mitte der Neunziger anders definiert zu sein als in London. Während in der englischen Hauptstadt die Street-Credibility von enormer Bedeutung für DJs war, herrschte in Berlin eher ein avantgardistisch-technisch perfektionierter Anspruch. Das deckt sich mit einer Aussage von Sascha Dürk, der als Bassface Sascha einer der Drum’n’Bass-Wegbereiter in Mannheim und Berlin war. Dürk spricht davon, dass Christoph Grote-Beverborg, Mastering-Engineer bei Dubplates & Mastering, die britischen Platten von Music House „ganz schön hart gefrontet” habe.
Deutsche Ingenieursarbeit statt Street-Credibility aus London
Dem deutschen Klischee von sehr genauer, mit hohem technischen Verständnis praktizierter Ingenieursarbeit entsprechend, waren das Mastering und Equalizing sowie das perfekte Cutting ein Alleinstellungsmerkmal von Dubplates & Mastering. Sebastian Eberhardt alias Bassdee erinnert sich an ein Gespräch mit Christoph Grote-Beverborg, in dem dieser ihm erzählte, erstmals eine Dubplate auf 106 Dezibel geschnitten zu haben.
Diese Lautstärke sei ein Meilenstein in der Produktionstechnik gewesen. Schließlich erfordere hohe Lautstärke mehr Hitze an der Schneidenadel. Hinzu kommen Bassfrequenzen, die eine große Rillenbreite auf der Dubplate benötigen. Oft sei man deshalb Gefahr gelaufen, den Stichel der Schneidemaschine zu beschädigen. Aufgrund seiner Rarität und der hohen Reparaturkosten von bis zu 15.000 Mark wäre das einer Bankrotterklärung gleichgekommen.
Als Kernstück seiner Arbeit beschreibt Stefan Betke deshalb den Prozess des Masterings und Equalizings, der vollkommen analog und in Echtzeit ablief. Der Vorgang war geprägt von individuellen Regler-Einstellungen, die für einzelne Tracks wie auch den Verlauf der Spuren innerhalb eines Tracks auf Notizzetteln vermerkt wurden. Teilweise mussten so schnelle Einstellungswechsel vollzogen werden, dass es mehr als einer Person bedurfte, den idealen Ablauf der Einstellungen zu bewerkstelligen. So wurden oft Mitarbeitende des Hard Wax wie DJ Boris hinzugezogen, die an den Reglern mitdrehen mussten.
Neben der technischen Finesse kommt Dubplates & Mastering vor allem die Monopolstellung in Berlin zugute. Von einem „unbekannten, kleinen Ort, der ursprünglich nur für den Betreiber [Mark Ernestus von Basic Channel, d.Red.] gegründet wurde, damit er seine eigenen Produktionen schneiden kann”, so Stefan Betke alias Pole, habe man sich zum „angesagtesten Schneidestudio” in Europa entwickelt.
„Die Dubplate war für uns ein Testmedium”, so Betke. „Man konnte überprüfen, ob der Track vernünftig klingt, genügend Druck hat oder auf dem Dancefloor funktioniert.” Sie habe es den Künstler:innen erstmals ermöglicht, von ihrer eigenen Musik eine Dubplate schneiden zu lassen, sie am Samstag im Club zu spielen und dann noch einmal den Track nachzujustieren. Zwar gab es damals schon CDs, aber keine pitchbaren CD-Spieler. „Das war eine Verkürzung der Arbeitsschritte und gleichzeitig eine direkte Bewertung vor Publikum. Wenn jemand etwas gespielt hat, das ich nicht kannte, musste ich das auch haben. Oder ich wusste: In die Richtung will ich auch gehen. Das wird der neue, heiße Scheiß!”
„Okay, Mist, Dubplate. Kein Etikett.”
Stefan Betke
Im Gegensatz zu London sollte in Berlin allerdings nie eine richtige Dubplate-Kultur entstehen. Die Dubplate diente nur ihrem eigentlichen Sinn: der Verbesserung der Produktion. „Weil mehr Producer:innen einen Testcut von ihren Tracks machen konnten, hat das einen wahnsinnigen Produktionsschub ausgelöst”, sagt Bassdee. Stefan Betke nennt die Dubplate deshalb einen Kommunikator, der es ermöglichte, neben der beschleunigten Produktion von Tracks zu zeigen, dass hier gerade etwas Neues passierte. „Du bist ans DJ-Pult gegangen, hast versucht herauszufinden, was für ein Track läuft. Okay, Mist, Dubplate. Kein Etikett. Das war schon das Zeichen: Das ist jetzt wichtig. Also hat man das verfolgt”, so Betke.
Piratensender waren – im Vergleich zu London – in Berlin aber nicht wirklich ein Ding. DJs etablierten sich über ihre Veranstaltungen, die sie in einer der vielen Venues abhalten konnten. Laut Stefan Betke bestand allerdings ein Austausch mit englischen DJs, die sich vor ihren Gigs in Berlin ihre Dubs bei ihm cutten ließen. Auch deshalb konnte sich in Berlin eine global vernetzte Technoszene entwickeln. Außerdem ist die Dubplate ein Symbol dafür, dass ausgefeilte Masteringprozesse zu einem elementaren Bestandteil elektronischer Musikproduktionen wurden.
Als immer mehr CDs in Umlauf kommen und erste CDJs in den Booths der Clubs verkabelt werden, verliert die Dubplate sowohl in Berlin als auch in London schnell ihre Relevanz. Producer:innen von Musikrichtungen wie UK Garage und vor allem Broken Beat beginnen ihre Tracks direkt aus der DAW auf CD zu brennen. Einige wenige Dubstep-Purist:innen sowie manche Reggae-Crews bleiben den geschnittenen, aber ziemlich besonderen Schallplatten treu – bis heute drehen sich Dubplates bei Soundclashes auf den Plattentellern.