30drop – Insight Into Mind And Space (30D)
Insight Into Mind And Space von 30drop beginnt mit der Fragestellung, wie noch unbekannte Formen von Intelligenz wohl klingen mögen, und bedient sich in Titeln und Mythologie des Feldes der Chemie. In „Saprophyte” tickt ein uhrenhafter Schlag, „Insert” spielt mit knisternden Oberflächen und Bass-Drones.
Durch Interludes kriegt 30drop erzählerische Spannung ins Album. In die statischen Gebilde graben sich Banger wie ^Accepting The Future”, „Audrey III” mit seinen ängstlichen Akkorden oder „Halophilic Paracitosis” mit seinem Schwarm aus unerfreulichen Insekten.
Die Tracks dieses gelungenen Albums waren in den zurückliegenden Jahren digital auf Axis erschienen, nachdem dessen Betreiber Jeff Mills die Parole ausgegeben hatte, in Zukunft auch Klassik, Jazz und Filmmusik zu veröffentlichen. Insight Into Mind And Space ist klassischer Techno mit dem leeren und vollen Warehouse als Sehnsuchtsort. Es folgt ebenso aber auch der Leitlinie, den Bewusstseinsapparat zu erweitern. Detroitig, quadratisch, gut. Christoph Braun
DJ Trystero – Castillo (Incienso)
DJ Trysteros Debütalbum könnte ein unfaires Schicksal ereilen. Beim Skippen durch die Tracks wirken etliche ruhig und moderat, aber nicht allzu außergewöhnlich. Dieser flüchtige Eindruck täuscht jedoch. Castillo entpuppt sich bei genauerem Hören als nicht nur stilistisch äußerst vielfältig, sondern auch von großer Bandbreite in Sachen Sound und Stimmungslagen.
In den ersten vier Tracks wechseln sich langsame und clubbige Beats ab. Der Opener „Ashlar” verrät in seiner Zurückhaltung tatsächlich noch nichts von den folgenden Stimmungswechseln. „Oriel” übernimmt diese Atmosphäre, führt sie aber direkt auf die Warm-up-Tanzfläche mit stoisch-massiver Kick und gnadenlosen Sechzehntel-Hi-Hats. „Ludus” tut dann so, als würde das Eingangsflair wieder reaktiviert, aber in dem kurzen, beatlosen Track schlummern klimatische Abgründe, die vom folgenden, technoiden „Beneath” mit seinem angesäuert vor sich hinknarzenden Bass aufgegriffen und nun vollends in Clubenergie umgewandelt werden. Es folgen fünf weitere Tracks, die das Wechselspiel von Downtempo und Club zwar nicht weiterverfolgen, dafür aber dessen variierende Aussage-Palette. Die beiden klar als Ambient-Stücke Identifizierbaren verfallen dabei nicht in Yogastudio-Rührseligkeit, ihre Stimmungslagen sind komplex und nicht auf Andacht ausgerichtet – durchaus ähnlich wie etliche Stücke von Markus Güntner. Der Slo-Mo-Electro-Track „Chamber” wiederum erinnert melodisch-harmonisch an Yellow Magic Orchestra und verweist mit elegantem Understatement auf DJ Trysteros Wohnort Tokio. Mathias Schaffhäuser
Flaty – Intuitive Word (ГОСТ ЗВУК/Gost Zvuk)
Evgeniy Fadeev ist seit gut einem Jahrzehnt als Solokünstler und in verschiedenen Projektkonstellationen aktiv, wie der Betreiber des Labels ANWO auch als Tontechniker und Produzent an verschiedensten Veröffentlichungen anderer mitgewirkt hat. Am bekanntesten sind wohl seine Arbeiten unter dem Pseudonym Flaty, unter dem der Sankt Petersburger seit dem Jahr 2016 vier Alben veröffentlicht hat. Intuitive Word erscheint auf ГОСТ ЗВУК (Gost Zvuk) und ist recht ausladend: 19 Stücke auf einer Doppel-LP sind, insbesondere von einem dermaßen produktiven Produzenten, zweifelsfrei eine Ansage. Überwältigend fühlt sich das allerdings keineswegs an.
Avant-Pop und R’n’B, Harold Budd und Cocteau Twins nennt das Label in seiner Beschreibung der Platte als Referenzen, mit dem Begriff R’n’Bient ließe sich das wohl auf den Punkt bringen. Bisweilen erinnern die von wattigen, sanften Texturen eingehüllten Rhythmen (von Beats lässt sich in den wenigsten Fällen sprechen) und ätherischen Vocals (mal herbeigesamplet und stark manipuliert, mal synthetisiert und artifiziell im Klang) an die Musik auf Brian Leeds’ Label West Mineral Ltd., auf dem Fadeev im Jahr 2020 mit dem Trio Serwed eine LP veröffentlichte, oder die Ambient-Collagen Ulla Straus’, in ihren klassizistischsten Momenten sogar an neuere Werke von Wojciech Rusin oder John Bence. Oder eben doch an schemenhafte Gespenster ausgedienter Cloud-Rap-Beats. Sehr viel auf einmal, das sich wunderbar flüchtig anfühlt. Kristoffer Cornils
Jan Jelinek – Seascape – polyptych (Faitiche)
Jan Jelineks LP SEASCAPE – polyptych ist der Soundtrack für ein gleichnamiges Medienkunstwerk, das in einjähriger Kollaboration mit dem kanadischen Künstler Clive Holden entstanden ist. Es basiert auf Material aus dem Filmklassiker Moby Dick (1956), der von Jelinek und Holden zersetzt und wiederaufgebaut wurde. Beide Künstler arbeiten stark mit Wiederholung und Variation, Holden im Visuellen, Jelinek im Klanglichen.
Der Berliner nutzt die Stimme der zentralen Filmfigur Kapitän Ahab, um damit ein Synthesizer-System anzusteuern. Lautstärke und Klang von Ahabs Reden agieren so als Puls einer konvulsiven Blackbox, deren Output in zehn schleichende, mysteriöse, teils beklemmende, teils ahnungsvolle Klangkompositionen gegossen wurde. Die hohe klangliche Qualität der Musik enthebt sie allerdings aus ihrem bloßen Dasein als Soundtrack. SEASCAPE – polytech kann problemlos als rein musikalisches Werk rezipiert werden – und darf darum auch nach rein musikalischen Gesichtspunkten beurteilt werden. Ernst, unterschwellig, nebulös, verwaschen und doch präzise, organisch, und doch unbekannt wirkt die Musik. Und sie vermittelt das, was man sich von guter (Klang-)kunst erhoffen darf: Die Ahnung des Fremden im Alltäglichen, des Beängstigenden, Rätselhaften, Unkontrollierbaren und doch Verbindenden hinter den Dingen.
Schon im Opener „The Water Seems Changed To Mist And Vapor” verschwimmt der Boden unter den Füßen, eine Atmosphäre wie nach einem Knockout, schief, verquollen, diffus. In den folgenden Passagen überstreichen immer wieder warme, unwirkliche Böen die stets präsente Spannung. In „Waiting And Watching – Version” wird erstmals eine menschliche Stimme erkennbar, bleibt aber unsprachliches Sample. Gegen Ende ein fliegender Szenenwechsel zu nostalgischen Streichern. In „Warm Murmur in the Room” wird das Ohr immer wieder von unfassbar milchig-weichen Dünsten umhüllt, im Hintergrund rostig Schwingendes. Im stärksten Track „It Moves Swiftly Forward, Throwing Up Great Waves” dringt ein entsetzendes Uncanny-Gefühl ganz nah an die Hörenden heran.
Grenzüberschreitend intim atmet oder, besser, schnüffelt es am Ohr. Was ist das? Mensch, Maschine, Geräusch? Es pulsiert, versucht sich hochzudrücken, aber bricht nie durch. Dieser verborgene Sinn, dieser eine Sinn, er bleibt ein Etwas, und die ganzen knapp 40 Minuten von SEASCAPE – polyptych spielen mit der verstörenden wie verlockenden Imagination, dieses Etwas könnte sich im Hörenden einnisten. Die letzten beiden Tracks deuten bereits Möglichkeiten der Entspannung an, eine Ahnung davon, was blüht, wenn sich der Dunst löst. Moritz Hoffmann
Maara – The Ancient Truth (Step Ball Chain)
Mit dieser LP debütiert Maara auf dem von Rosa Terenzi 2020 gegründeten, inzwischen renommierten Label Step Ball Chain. Durch ihren beständigen Output hat die aus Montreal stammende Künstlerin sich inzwischen eine breite Palette an Tracks aufgebaut, die mal raviger, mal breakiger dahinsteppen. Was sie alle eint und Maaras Stil beschreibt, sind zum einen die Verbindungen, die sie zwischen den Genres schafft, und zum anderen das Spiel mit Filtern und Resonanzen, wodurch ihren Stücken oft eine besondere psychedelische Qualität entspringt. Bestes Beispiel für beides ist wohl der Track „Highrollerz” auf der Fancy Feast EP auf dem Brüsseler-Amsterdamer Label Kalahari Oyster Cult.
Auch auf the The Ancient Truth mixt Maara verschiedene Genres und verbindet Trip-Hop und Bass mit Trance und House. Überrascht wird man auch mal mit melodischen Drum’n’Bass-Krachern wie „Just Give Me Time”. Insgesamt ist die LP aber eher ruhiger gehalten und eher weniger Stücke sind für den Dancefloor konzipiert. Vielmehr als persönlicher Begleiter für den dieses Jahr etwas zögerlichen Sommerbeginn. Vincent Frisch
Mark Hawkins — Venn Diagram (Aus Music)
Schon seit Anfang der Zweitausender ist Mark Hawkins als Produzent unterwegs. Anfangs im Technobereich tätig – als Juxtaposition ist er in diesem Genre immer noch erfolgreich – wurde er später, als Marquis Hawkes, vorwiegend bekannt für packend-treibenden House, von Acid bis Deep. Zahlreiche Veröffentlichungen auf Labels wie Dixon Basement Avenue, Clone, Aus Music oder Unknown To The Unknown sprechen eine deutliche musikalische Sprache.
Zu Beginn dieses Jahrzehnts kehrte er zu seinem Geburtsnamen zurück. Und vollzog damit einhergehend auch eine deutliche Stilwende, weg vom House, hin zu mehr Electro- oder gar Electronica-artigen Produktionen. Das neueste Produkt dieses Genre-Wechsels ist Venn Diagram.
Es beginnt mit schweren, glitchy Beats, die an den frühen Aphex Twin erinnern, um die herum schmerzvoll-schöne Melodien schwirren. Der zweite Track ist dann eine melancholische Ballade, die ganz von den Vocals lebt. Noch nie zuvor hat Hawkins weibliche Vocals – in seinen House-Tracks eher rhythmisch-euphorisch eingesetzt – so umarmt. Nach zwei brillanten Electronica-Tracks (wobei der zweite, „Siegfried Benaultibaum”, das einzige Stück des Albums ist, das eine der für Marquis-Hawkes-Produktionen so typischen Basslines hat). Im Zentrum des Albums angekommen, schimmern drei Stücke in Synthwave-artiger Achtziger-Eleganz, bevor ein weiteres Downbeat-Vocal-Stück diesen Part abschließt. Auch Downbeat wird später noch eingesetzt.
Es ist also einiges los auf diesem Album, das zum größten Teil eher zum Zuhausehören geeignet ist als für den Club. Aber warum auch nicht, veritable Dancefloor-Bomben hat Hawkins ja schon genug im Repertoire. Und noch nie hat er sich so vielfältig gezeigt – bei gleichbleibend hoher Qualität! Tim Lorenz