Das Sónar Lisboa beginnt in einem tropischen Garten, in dem Videoscreens ein irreales Double der Bäume und Pflanzen erzeugen. „Die Idee von einem Sónar in Lissabon ist schon 2003 entstanden, bei einen Roadtrip zum Sónar in Barcelona”, erzählt Gustavo Pereira, Gründer des Sónar Lissabon, der in Porto seit 2006 das Neopop veranstaltet.
„Irgendwann haben ich die Gründer des Sónar kennengelernt”, fährt Pereira lachend fort. „Vor acht Jahren habe ich ihnen die Idee gepitcht, vor fünf Jahren entstand ein erster Plan. Überraschenderweise wurde es gerade in der Pandemie konkreter.”
So fand das erste Sónar Lisboa im letzten Jahr statt, in diesem Jahr wurde das Konzept verändert, doch dazu später. Pereira will über das Programm reden, ein Highlight ist für ihn das Konzert von James Holden. Vom Album, das an diesem Tag erscheint, hörte er schon Vierspurdemos, so gut kennen sich die beiden.
Wenig später steht Holden auf der Bühne des Botanischen Gartens. Ornamentale Grafik in Primärfarben huscht über eine Leinwand, Holdens schlaksiger Körper folgt in raumgreifenden Bewegungen der Dynamik der Musik, in der weiche, konturlose Synthesizerklänge ineinanderfließen. Während der namenlose Perkussionist, der neben Holdens Tisch im Schneidersitz vor verschiedenen Trommeln auf einem Teppich sitzt, von Holdens überbordenden Klängen und dem Festival-Buzz ein wenig überfordert wirkt, lässt sich der Meister von seiner eigenen Musik, die die Möglichkeit jeglicher scharfen Kante zu widerlegen scheint, davontragen.
Das Sónar Lisboa findet wie gesagt zum zweiten Mal statt. Im letzten Jahr war es auf vier Locations in der ganzen Stadt verteilt. „In diesem Jahr ist es nicht kleiner, aber kompakter. Die Leute verlieren weniger Zeit, in der sie unterwegs sind”, erklärt Pereira dazu. Auf dem Mainfloor des Festivals, dem Pavilhão Carlos Lopes, bewegt Max Cooper mit seiner neu entwickelten A/V-Show. Der Musiker verschwindet als winzige Gestalt zwischen zwei riesigen Leinwänden. Die Vordere besteht aus durchsichtigem Gaze. So können die Bildebenen unabhängig voneinander genutzt und in Dialog gebracht werden. Die Weichheit von Coopers Klängen erinnert zunächst an Holden, hat mit dem Ibiza-Tech-House von Afterlife aber doch einen wesentlich eindeutigeren Referenzrahmen.
Was das Pathos angeht, stehen die Bilder der Musik in nichts nach. Mit sich teilenden Zellen oder Berglandschaften bekommen die Festivalbesucher:innen hier die ganz großen Themen aufgetischt. Dieses Spektakel fesselt sie, mit offenen Mündern verfolgen sie das Geschehen auf den Leinwänden.
Auf dem kleineren Floor im eingangs erwähnten Botanischen Garten, der Estufa Fria, verschwindet Or:la hinter dem großen Bühnentisch. Mit ihrem so gewagten wie gewitzten Electro scheint sie die Crowd ein wenig zu überfordern. Gute Laune kommt auf, als sie im Finale einen virtuosen Edit von Madonnas „Vogue” spielt, der Madonnas Stimme nur für einen Moment einstreut und diese abgehackte Dynamik mit einem Stop-&-Go-Groove aufnimmt. Das funktioniert so gut, dass die Nordirin der Crowd gleich noch ein weiteres Pop-Schmankerl kredenzt, und zwar „Never Leave You” von Lumidee, das vergleichsweise unverfälscht durch die begrünte Halle schalt. Or:la ist aber so freundlich, der Folge-DJ diesen allzu großen Brocken nicht direkt in den Rachen zu werfen. Stattdessen spielt sie einen nonchalanten Disco-Electro-Hybriden, der sich so lange über den Floor schlängelt, bis VTSS sich an den CDJs eingerichtet hat.
VTSS hat es schon wegen ihrer überdurchschnittlichen Körpergröße leichter. Sie trohnt gleichsam hinter der Bühne. Aber auch das Selbtverständnis dieser Musikerinnenpersönlichkeit ist ein anderes. Während Or:la eher bescheiden hinter der Musik zurücktreten möchte, ist VTSS in jedem Moment Performerin. Dabei performt sie überraschender wie genialer Weise weniger ihre DJ-Kunst, sondern den Rave. Ihre metallisch-silberne Hose im traditionellen 501-Schnitt ruft die gloriosen Partys der Neunziger auf, ebenso wie das blond gefärbte, in zwei Zöpfen gezähmte Haar. VTSS inszeniert weder die Übergänge, noch dirigiert sie die Crowd. Eher verkörpert sie die Party als Tänzerin, sie ist pausenlos in Bewegung wie die sprichwörtliche Duracell-Raverin der Neunziger. Die Handbewegungen gebieten nicht, sie verfolgen die psychedelischen Windungen der Tracks nach.
VTSS’ ständiges Lächeln stiftet Vertrauen, sich auf Musik und Party einzulassen. Trotz der elaborierten Inszenierung ist diese alles andere als unwichtig oder uninteressant. Die Pointe ihres Sounds liegt darin, dass sie poppige Eingängigkeit und fordernde Rhythmik nie gegeneinander ausspielt. Zwar gibt es in fast allen Nummern ein Popmoment, oft in Form eines Vocals. Das ist aber so verschroben und eigenwillig, dass es niemals dominiert wie Madonna oder Lumidee eben noch. Ebenso eigenwillig ist das Drumming der Tracks, das mit kleinteiligen, überraschend Hip-Hop-affinen Breakbeats einen ebenso abseitigen wie wirkungsvollen Akzent setzt, etwa mit „OEF feat. Tekna” von Stef de Haan. So erscheint VTSS als gute Fee, die die Raver:innen liebevoll und aufmerksam durch die Nacht führt.
War am ersten Festivaltag noch scheues Beschnuppern angesagt, schöpfen Crowd und Musiker:innen nun aus dem Vollen. Bestens kommt der brasilianische Shootingstar Mochakk an, der bouncenden, großspurigen Tech-House mit angeberischen Dopebeats verbindet. Was wie ein Rezept aus den Neunzigern klingt, hat der 22-Jährige in der Peripherie von São Paulo entwickelt und auf Tiktok verbreitet. Einzig die abrupt eingesetzten Hip-Hop-Phrasen, die den Tech-House-Flow unerwartet für ein paar Takte unterbrechen, zeigen an, welches Medium Kinds der Brasilianer ist.
Angesicht dieses Abrisses haben es die Künstler:innen auf den anderes Floors schwer. Vor Colin Benders und DJ Nigga Fox scharen sich nur lose Gruppen von Tänzer:innen. Einen Künstler, der Mochakk toppen kann, gibt es aber doch.
Nach ihm steht nämlich Folamour auf der Main Stage. Seine zuckersüßen Discoklänge mit poppigem Topping kommen bestens an, der Franzose scheint ebenso begeistert wie die Crowd. Zeit für eine Verschnaufpause, bevor die Headlinerin übernimmt: Peggy Gou.
Auch sie kann auch nach diesem Feuerwerk überraschenderweise reüssieren. Sie spielt nicht den durchlässigen, entgrenzten House-Sound, mit dem sie bekannt geworden ist, sondern monotonen, kommerzigen Tech-House. Aber das schadet hier nicht. Zum einen, weil sie immer wieder die Vocals ihrer Hits einstreut, zum anderen, weil sie wirklich zu genießen scheint, hier und jetzt auf der Bühne zu stehen und bejubelt zu werden. Es geht mehr darum, sie zu feiern, als um ihre Musik. Dieses Selbstbewusstsein wirkt ansteckend.