burger
burger
burger

März 2023: Die essenziellen Alben (Teil 3)

Rising Sun – Liquid World (Styrax Electronica)

Liquid World ist ein selbstveröffentlichtes Album von Rising Sun, einem Pseudonym, hinter dem sich seit 2008 der Berliner Produzent Steffen Laschinski verbirgt. Er betreibt mit Kristofferson Kristofferson und styrax electronica auch gleich zwei Label.

Auf der LP dreht er seine Klanglandschaften etwas in Richtung Downbeats und gebrochene Rhythmen, die Landschaften ausmalen. Die Hälfte der Stücke trägt dabei den Namen „Essay”, wobei sie stärker zum tooligen, gerade nicht ausgearbeiteten Track tendieren. Das sind eher Skizzen, die dennoch dichte Atmosphären heraufbeschwören.

Es gibt das perkussiv-pumpende „Essay”, in dem sehnsuchtsvolle Menschenstimmen aufwallen. Dazu ein „Essay” mit stehendem Beat und zarten, asiatischen Saiten; ein Breakbeat-„Essay”, zuletzt wegziehende Nebel bei Beat-Aufschnitt.

Liquid World setzt den individuellen, atmosphärenstarken Weg der Electronica von Rising Sun fort. Die Vielseitigkeit zeigt Laschinski gleich zu Beginn, wenn auf ein süßliches Chor-Intro ein Ambient-Meer folgt, wiederum gefolgt von Downbeat-Skizzen und beschleunigten Breakbeats. So entsteht ein Shoegaze-Vibe, nach innen blickend in seiner Anmutung, Weite suggerierend im Klangbild. Besser als Immersion: Musik wie ein Schaumbad. Christoph Braun

Scotch Rolex and Shackleton – Death By Tickling (Silver Triplet)

Sam Shackleton ist seit einiger Zeit in unterschiedlichen Konstellationen zu erleben, mit Tunes of Negation hat er sogar eine Band ins Leben gerufen. Unerwartet war die Zusammenkunft mit dem Kollegen Scotch Rolex trotzdem. Wenn zwei sehr eigensinnige Produzenten aufeinandertreffen, kann das Ergebnis schon mal weniger interessant ausfallen als das, was die Beteiligten sonst einzeln machen.

Die Sorge erweist sich in diesem Fall als unbegründet. Death By Tickling ist, vor allem für Scotch Rolex alias DJ Scotch Egg alias Shigeru Ishihara und dessen Vorliebe für Gabba-Derivate und andere Hochgeschwindigkeitsexzesse, allenfalls ein bisschen ungewöhnlich. Oder es klingt erst mal danach, als habe Shackleton mehr den Ton angegeben. Was aber Quatsch ist. Denn die beiden vermischen allerhand Einflüsse, Stile und Kontinente auf eine Weise, wie es allein vermutlich keiner von ihnen genauso gemacht hätte. Da ist, klar, eine Dub-Grundierung, doch in die drängen sich Splitter von traditioneller japanischer Musik oder afrikanischer Clubstile, vom tief wummernden Gqom bis zum aufgekratzteren Kuduro. Alles Dinge, mit denen sich Scotch Rolex gern beschäftigt. Dazu gesellt sich Shackletons starke Neigung zu psychedelischen Stimmungen.

Herausgekommen ist eine grandiose Tanzplatte für Apokalyptiker:innen und alle, die neuen Sachen (das Ende der Welt wäre ja auch so was) gegenüber aufgeschlossen sind. Tim Caspar Boehme

Shifted Phases – The Cosmic Memoirs Of The Late Great Rupert J. Rosinthrope (Tresor)

In einer der letzten Reviews schrieb ich bereits über die großartige Wiederveröffentlichungs-Serie, die zum 20. Todestag der Detroit-Techno-Legende James Marcel Stinson nach und nach auf Tresor erscheint. Die Dreifach-LP unter Stinsons Alias Shifted Phases ist die letzte Wiederveröffentlichung der drexciyanisch-afrofuturistischen Sound-Saga aus den Neunzigern und frühen Zweitausendern. Zwei Tracks wurden bisher nur auf CD veröffentlicht („Crossing Of The Sun-Ra Nebula” und „Alien Vessel Distress Call”).

Kommen wir nun zu den unscharfen, kosmischen Erinnerungen des Zeit- und Weltallreisenden Rupert J. Rosinthrope und dessen Phasenverschiebungen: Im postmodernen, zeitgenössischen Tanz wurde dieser Begriff ab den Sechzigern für gleiche, zeitlich verschobene Bewegungsmuster und choreografische Patterns verwendet („Dance Of The Celestial Druids”). Der mittelalterliche Kanon ist in gewisser Form auch eine Phasenverschiebung („White Dwarf”). Dopplereffekte können so erklärt werden („Scattering Pulsars”). In der Elektrotechnik sind es zwei Sinusschwingungen, die sich gegeneinander verschieben. Deren Periodendauer stimmt überein, die Nulldurchgänge nicht („Waveform Cascades”). Lustig waren in den letzten 40 Jahren die Platten, die Phasendreher hatten. Mit manchen konnte man die Tieftöner von Clubanlagen busten („Implosive Regions”). Überlagern sich zwei Schallwellen gleicher Frequenz verstärkt oder löscht sich das Signal aus („The Freak Show”)?

Es ist wohl genau diese brillante und detailgenaue Rotzigkeit im Umgang mit Klängen, physikalischen Phänomenen und der Elektroakustik, die die Perfektion des klassischen Detroit Techno ausmacht. Farewell auf deiner „Lonely Journey Of The Comet Bopp”, Rupert. Alles ist im „Flux”. Mirko Hecktor

Surgeon – Crash Recoil (Tresor)  

„Ich kann darin Coil, King Tubby, Detroit Techno und The Cure hören”, sagt Anthony Child über sein neues Album. Es ist das Erste seit fünf langen Jahren. Einer Periode, in der er sich selbst nicht mehr sicher war, was es für ihn überhaupt noch zu erforschen gebe. Die Musik von Surgeon ist eine qualmende Lokomotive, die schwer atmend über die Gleise rattert, die Waggons voll beladen mit feinstem Klang-Porzellan, das mit sphärischem Hintergrundwabern und Rohbau-Polyrhythmen handbemalt wird, statt mit aufdringlicher Technoekstase vorlieb zu nehmen.

Das Album ändert nichts, aber auch wirklich gar nichts an diesem Schema, verdickt den Sound eher noch, ist das Epoxidharz im Gehörgang. „Tiefer statt weiter” ist die offensichtliche Schlussfolgerung.

Was außerdem hängen bleibt: Surgeon nimmt sich Zeit, lässt im ersten Stück „Oak Bank” beispielsweise knappe vier Minuten lang keine führende Kick scheppern, zelebriert die Hinführung zum kompletten Remmi-Demmi. Ein Sinnbild für das Album, ist es doch ein gekonntes Spiel mit der Erwartungshaltung der Hörer:innen. Die Sounds wabern im Raum, suchend, bis sie sich konsequenterweise zusammenfügen und eins ergeben. Momente der Perfektion. Andreas Cevatli

Vril – Animist (Delsin)

Als finaler Teil einer konzeptionell verbundenen Reihe sei das Album zu begreifen, als kreatives Amalgam der letzten zehn Jahre – so weit ließ sich Vril kürzlich darauf ein, die Bedeutung von Animist zu erklären. Und in der Tat: So ziemlich alle Stilkniffe in seiner Signatur kommen während dieser rund 72 Minuten vollmundig zur Geltung. Vorbereitet vom 2017 als Tape und 2018 als LP veröffentlichten Anima Mundi sowie der EP Alte Seele von vor zwei Jahren, sucht Animist nach der Integration unterschiedlicher Schaffensphasen des obskuren Produzenten aus Hannover – vom Feeling für Sucht erzeugende Loops der frühen EPs über die schiere Kraft von „Portal” bis zum entgrenzten Sounddesign jüngster Veröffentlichungen und Mixe.

Schon der Opener steckt mit satt rauschenden Synth-Wellen die Szenerien ab, durch die sich das Album fortan mal schneller, mal bedachtsamer bewegt – das Pathos ist dabei Teil des Deals. So turteln im „Love Rollout” jugendliche Euphorie und mechanisches Kick-Pochen miteinander, teilen die Stimmung zwischen trompetierter Melodie und körperlichen Bassakkorden entzwei. Ein altbewährtes Element in den Produktionen ist gleich erkennbar: Der Kontrast zwischen stark gestauchten, verzerrten, schimmernden Höhen und Harmonien im tieferen Hertzbereich, die sich oft wie tektonische Platten zur treibenden Kraft unter den Tracks entwickeln. Dementsprechend beschwören auch „Katharsis” oder das übermächtige „Boom To The Moon” einen Mahlstrom brodelnder Modulation, in dessen Loops sich Geist und Körper stundenlang verlieren können.

Drehung nach Drehung nach Drehung kreiselt der Sound durchs Gehör, den Bauch, die Beine und schwört auf eine nie kommende Klimax ein – kein plakativer Drop drängt in irgendeinem der zwölf Tracks nach vorn, deren sorgsame Sequenzierung tonangebend für den gesamten Trip ist. NASA-Techno at its finest? „Unwelt” und „Kuru” zelebrieren das Gefühl out there zu sein mit ebenjenen sublim groovenden Beatrotationen und einem gewissen Understatement, wenn es darum geht, wie viel Repetition zur Atmosphäre beiträgt – und wann Schluss ist.

Egal, wie er Dub-Tiefen, Ambient-Flächen oder außerirdische Techno-Ästhetik miteinander verschweißt: wieder updatet dieser Typ das Genre um so manches Level. Nils Schlechtriemen

In diesem Text

Weiterlesen

Reviews

Lunchmeat 2024: Der Mehrwert liegt im Imperfekten

Auch in diesem Jahr zelebrierte das Lunchmeat die Symbiose aus Musik und Visuals bis zum Exzess. Wir waren in Prag mit dabei.

Motherboard: Oktober 2024

Unser Autor würde sich gern in Kammerpop legen – in der aktuellen Avantgarde-Rundschau hat er das sogar getan.

Waking Life 2024: Der Schlüssel zum erholsamen Durchdrehen

Das Waking Life ist eine Anomalie in der Festival-Landschaft, was programmatischen Anspruch und Kommerzialität anbetrifft. Wir waren dabei.

Motherboard: September 2024

Von der Klubnacht bis ins Tanztheater schleppt uns das Motherboard im September. Dazwischen dürfen wir auch Pop hören.