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Februar 2023: Die essenziellen Alben (Teil 3)

Hier lang für Teil 1 und Teil 2 der essenziellen Alben aus dem Februar.

Mioclono – Cluster I (Hivern Discs)

Ein Myoclonus bezeichnet ein kurzes muskuläres Zucken bei Epilepsie. Die beiden Musiker hinter Mioclono, Arnau Obiols und Oriol Riverola alias John Talabot, leiden beide unter dieser neurologischen Erkrankung und wählten wegen dieses ungewöhnlichen Zufalls ihren Projektnamen.

Ihre Musik ruft allerdings keine Assoziationen an die Klischeevorstellung epileptischer Anfälle hervor. Sie ist weder ruckartig noch unkontrolliert zuckend, sondern ganz im Gegenteil von einem faszinierenden Flow geprägt, einer trippigen Verbindung von einerseits klar identifizierbarer elektronischer Musik und andererseits sehr „organischen”, „tribalistischen” Percussions. Beide Adjektive in Anführungszeichen, weil das rhythmische Fundament höchstwahrscheinlich ebenso programmiert ist, was letztlich aber keinerlei Rolle spielt, und solche Zuschreibungen grundsätzlich haarig sind. Absolut unverfänglich kann über die Drums auf Cluster I aber gesagt werden, dass sie immer wieder an den späten Jaki Liebezeit erinnern, der wiederum lieber von Trommeln als von Schlagzeugspielen sprach. Über diesen in absolut positivem Sinn trancigen Beats und Synthie-Sequenzen liegen zum Teil spacige Flächen, aber auch noisig-schräge Sounds und Sprachsamples.

Mioclono vermeiden durch diese sehr klug gewählte Abwechslung ein Dominieren der Feel-Good-Seite ihrer Musik und liefern mit Cluster I einen der ersten bedeutenden musikalischen Höhepunkte dieses Jahres. Mathias Schaffhäuser

Samuel Rohrer – Codes of Nature (Arjunamusic)

Wenn man Biografie und Diskografie des umtriebigen Schweizer Jazzdrummers und Elektronikmusikers Samuel Rohrer betrachtet, lohnt sich ein näherer Blick. Schnell fällt sein konstant hoher Output und die beeindruckende Anzahl an Kollaborationen und Projekten mit befreundeten Künstler:innen aus den verschiedensten musikalischen Lagern auf. Rohrers jüngere Projekte, meist auf seinem eigenen Imprint Arjunamusic, verbinden sein musikalisches Profil als ausgebildeter Instrumentalist mit der Welt der Elektronik und Modularsynthese. Alleine in den letzten drei Jahren veröffentlichte er drei Soloalben.

Waren die zwei vorigen LPs rhythmisch eher abstrakt und perkussiv-akustisch angelegte Klangcollagen, ist Codes Of Nature griffiger und arbeitet im Gegensatz zu den vorhergehenden Arbeiten strukturell mit deutlich mehr repetitiven Ansätzen, ohne es an vertrackten Variationen und Improvisation mangeln zu lassen. Ein gutes Beispiel ist der Track „Body of Lies”. Darin begleitet und umspielt ein lässiger Offbeat Groove im gemütlichen Dub-Tempo ein Grundgerüst verschiedenster Sequenzen des Modularsystems und fließt scheinbar ziellos umher, nur um sich Stück für Stück völlig unentbehrlich zu machen. Mit Potenzial zum subtil gesetzten Monstergroove samt suchtfördernder bis abhängig machender Stop-and-Go-Brüche, hinein in die weite Ewigkeit. Richard Zepezauer

The Waves – Motorikherz (Perlon)

Unter ihrem bürgerlichen Namen hat die Producerin Maayan Nidam bereits mehrfach auf Perlon veröffentlicht, nun erscheint hier auch ein Album ihres Projekts The Waves. So wie das Artwork des in Frankfurt gegründeten Imprints im Lauf eines Vierteljahrhunderts einen stetigen Erneuerungsprozess der Selbstähnlichkeit durchlaufen hat, wirkt auch der Kern des Labelprofils in gewisser Weise gleichermaßen fixiert wie fluide.

Im Wesentlichen Minimal House sind auch die Tracks auf Motorikherz, wobei Nidam ihre oft gezupft wirkenden Ping-Pong-Sounds trocken wie alte Pappe abmischt. Immer wieder setzt sie auch ihre Stimme ein. „One And Ollam” klingt tribal und technoid, enthält Spuren von Latin und Funk. „Nonplus” ist ein Acid-Not-Acid-Track ganz eigener Art, in dem modulare New-Age-Synthies dominieren. Electro und Minimal Wave dann in „Perfect Storm” und „Light Train”, einer der besten Nummern des gelungenen Albums. Ihre experimentellere Seite zeigt Nidam in „Light Tower”, ihre melancholischere in „Novemberme”. Ebenfalls in langsamerer Gangart, jetzt aber hypnotisch und Industrial-affin folgt „Somewhere”. Der heimliche Hit bildet den Ausklang: „After Laughter”: Der melismatische Midtempo-Tune wirkt wie ein Instrumental-Update von Codeks „Tam Tam”. Ein trotz aller Facetten sehr kohärenter Longplayer. Harry Schmidt

Hörbeispiele findet ihr in den einschlägigen Stores.

Transllusion – The Opening Of The Cerebral Gate (Tresor) [Reissue]

Der Drexciya-Mythos von James Stinson und Donald Gerald: Darüber wurde in Bezug auf Detroit Techno seit den Neunzigern viel geschrieben und gerätselt. Anlässlich des 20. Todestages von Stinson erschienen in den letzten zwei Jahren auf Tresor mehrere aufwendig und neu gestaltete Reissues seiner ikonischen Technoproduktionen.

Aus heutiger Sicht klingt das Album aus dem Jahr 2001, das zum ersten Mal als Dreifach-LP erscheint, nach einem Sound-Puzzle zwischen analoger und digitaler Technologie. Damit entließ Stinson den auf historischen Tatsachen basierten und fiktiv erweiterten drexciyanischen Unterwasser-Afrofuturismus in die totale Titel-Abstraktion.

Während Drexciya noch diese Nachfahren imaginiert, die wiederum via Mississippi nach Detroit schwimmen, um dort eine Techno-Krieger-Kaste zu gründen. führt Stinson unter seinem Transllusion-Alias die „Aquabahn” über „Unordinary Realities” zum inneren Sound-Exil und spirituell-psychedelischen Eskapismus der „Transmission Of Life” und zur „Cerebral Cortex Malfunction”. Das kann beim „Negative Flash” enden. Egal! „Do You Wanna Get Down?”

„Dimensional Glide” ist seither ein Meisterwerk. Ich translluziere oder illusioniere: Geht mit der TR-808-Snare ab Sekunde 25 das Stereospektrum des Synths auf und verteilt sich eingefiltert, dreidimensional-wandernd quer im Raum? Weshalb klingt das elektronische Brummen wie meine voll aufgerissene SH-101? Oder ist das ab 4:45 ein aus Versehen offen gelassener Digital-Delay aus den Neunzigern? Weshalb ist das softe Störgeräusch ab 5:25 wieder weg? Endlich! Das Gate ist wieder offen. Mirko Hecktor

Vladislav Delay – Whistleblower (Keplar) [Reissue]

Alte Tracks neu auflegen, die Presswerke bemühen, unter Umständen noch ein frisches Mastering draufpacken oder bei dieser Gelegenheit gleich auch Mixe unveröffentlichter Versionen anfertigen? Selbst im Lichte gegenwärtiger Reissue-Hypes sehen Labels bei der Wellnessbehandlung für Material, das lange vergriffen war, von solchen Bemühungen meist ab. Oft genug ein zweischneidiges Schwert – einerseits erspart das den wenigen Vinylmanufakturen des Planeten unnötige Kapazitätseinbußen, andererseits gehen vielleicht irrwitzige Hörerfahrungen dadurch flöten. Die Frage, ob sich der Aufwand lohnt, wird von vielen Musikschaffenden und Labels aber gar nicht erst gestellt, wenn nicht akute Geldnot das Pferd aus dem Stall jagt.

Mit Reissues zu Alben á la Multila und Anima machen die Berliner von Keplar seit 2020 vor, wie es eben auch geht: All in gehen, um einem wie Sasu Ripatti die Möglichkeit zu geben, zeitloses Material seines Alter Egos Vladislav Delay im hohen Bogen vom Gestern ins Heute zu katapultieren. Nicht nur kitzelt der Mann aus ohnehin bahnbrechender Musik jedes produktionstechnische Detail heraus, das in seine außerirdischen Arrangements aus Dub, Glitch und Ambient eingraviert ist. Nö: auch die Tracks insgesamt versieht er ein ums andere Mal mit neuen Ebenen, deren Struktur sich hinterm Auge gestaffelt ausdehnt. Nach einer gewissen Zeit wird bei Delay eben alles größer, weiter, entrückter – als würden seine Produktionen über die Jahre und Jahrzehnte im Äther still weiterwachsen, den Gezeiten von Trends trotzend wie Korallenriffe im Ozean. Dass er nun endlich das über jeden Zweifel erhabene Whistleblower einer Jungzellenkur unterzieht, kann nur als irdischer Segen begriffen werden.

Erstmals 2007 über sein eigenes Label Huume erschienen, fühlt sich diese rund einstündige Einladung zur Introspektion nämlich an, als habe Delay hier nicht bloß einen persönlich schwierigen Abschnitt seines eigenen Lebens in Sound geschrieben. Vielmehr scheinen in diesen auditiven Skulpturengängen für jede und jeden Optionen gegeben, eigene Erinnerungen wiederzufinden, neu zu entwerfen, mit der Musik zu verschränken. Melancholie und Hoffnung, Angst und Aufbruch, Reue und Reinkarnation sind seelische Vorgänge, die hier hörbar hineingeflossen sind. Wohl auch, weil Whistleblower entstand, als Delay die Vergangenheit kritisch reflektierte und seine Gedankenwelt ganz seiner damals noch ungeborenen Tochter gehörte. Gleichzeitig markierte es das letzte Album, das er für viele Jahre primär mit analogem Equipment realisieren sollte.

Der Umbruch bahnte sich deutlich an: Waren Multila (2000) und Anima (2001) noch auf hochkomplexe viszerale Texturen fokussiert, mit denen Delay auf Chain Reaction europaweit Eindruck schindete, werden diese hier durch ein gesondertes Gespür für schräg synkopierte Rhythmik aufgebrochen. Wie bei „Stop Talking” oder dem außergewöhnlichen „Recovery Idea” entstehen so innere Szenerien, an deren gleichzeitig körperlichen wie geistigen Qualitäten alle Worte scheitern müssen.

Der Umzug vom Großstadtmoloch Berlin auf die winzige Insel Hailuoto im Norden Finnlands war nach dieser Katharsis beinahe obligatorisch und läutete zugleich Delays kommenden Fokus auf eklektische, elektroakustische Jazzkapaden ein. Rückblickend erreichte seine frühe Schaffensphase mit Whistleblower also ihren stärksten Ausdruck – und 2023 nun ihre ultimative Reife. Nils Schlechtriemen

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