Wie grundlegend das Werk von Ryuichi Sakamoto für ungefähr alles ist, was in den vergangenen 40 Jahren inner- und außerhalb elektronischer Musik passierte, habe ich im Rahmen dieser Kolumne vergangenen Monat betont. Das eigentlich Unglaubliche ist allerdings, dass der Prozess des Immer-neu, Immer-weiter, Immer-anders-Machens bei ihm nie aufgehört hat. Nicht einmal von lebensbedrohlicher Krankheit eingeschränkt, aber definitiv beeinflusst, hat der in all seiner gut sortierten inneren Ruhe doch immer unruhig-kreative Geist Sakamotos ein neues Soloalbum hervorgebracht, das seiner Musealisierung als Künstler in allfälligen Hommagen (siehe Motherboard des Vormonats) und Reissues entschieden widersprechen mag. Denn das zu seinem 71. Geburtstag erscheinende 12 (Milan Records, 17. Januar) bringt als beinahe pures Ambient-Album die überaus aufgeräumten instrumentalen Soundscapes Sakamotos auf eine Weise zum Schweben, zum Fließen, die man von ihm vorher noch nie so hören durfte.
Experimentelle elektronische Musik, Ambient und die Vertonungen von Serien, Spielfilmen, Games, Hörspielen, Theater und Tanz haben schon immer einiges miteinander zu tun gehabt. So sind zum Beispiel die Karrieren von Hildur Guðnadóttir und Ben Frost erst so richtig durchgestartet, als sie begannen, Soundtracks zu produzieren. Und sogar Ryuichi Sakamotos größter Hit stammt aus einem Filmscore von 1983. Kein Wunder, dass nicht wenige Künstler:innen in dem hier verhandelten Bereich gerne den Umweg über funktionale Auftragsarbeit nehmen, garantieren diese doch immerhin ein solides, wenn auch meist eher übersichtliches Einkommen.
Es geht aber auch anders herum, wie im Fall des dänischen Duos Lueenas. Dieses hat sich mit Soundtracks abseits von Hollywood in den vergangenen fünf Jahren eine eigene, wiedererkennbare Position in der Musikszene Kopenhagens erspielt und setzt seine Stücke zwischen kontrabassiger Neoklassik, saitenkratzender Improvisation und straighten Techno-Pop-Songs sowohl in freie Musik um, wie auf dem selbstbetitelten Quasi-Debüt Lueenas (Barkhausen Recordings, 4. November 2022), aber mindestens genauso brillant (und frei) in gebundener Form wie in der Musik zu Cecilie McNairs IVF-Drama Baby Pyramid (Barkhausen Recordings, 8. Dezember 2022).
Nach dem Club ist vor dem Club. Die Tanz(nicht-doch)musik, die daraus hervorgeht, aber dann doch nicht mehr dieselbe, gemorpht, verdunkelt vermischt und tendenziell verstörend, aber immer noch körperlich und hedonistisch. Eine Idee von Sound, die sich auch auf dem sensationellen A Laugh Will Bury You (Mille Plateaux, bereits erschienen) der Italienerin Simona Zamboli wiederfindet, ihrem zweiten Album für Mille Plateaux. Verdrehter als hier waren Acid und Dreampunk, 303 und 909 selten bis nie zu hören. Zamboli bespielt exakt die (gar nicht so riesige) Lücke zwischen maximal disruptiv-experimentellem Dekonstruktions-Techno und den Aufmerksamkeits-Triggern von Ultra-Mainstream, EDM und Hyperpop.
Selbst wenn die Decon/Post-Anything-Nische von weitem wie von nahem betrachtet winzig erscheinen mag, bietet sie doch jede Menge Platz für Experimente und originelle Ausdrucksformen. Die griechische Künstler:in Evita Manji etwa nutzt die sinnreiche wie zweckfreie Klangcollage als Möglichkeitsraum für die Entdeckung, Erfindung und Neuordnung von Sound aus ebenfalls grob geschreddertem EDM, feingeschleudertem Hyperpop und ätherischem Bedroom-R’n’B. Was sich auf Spandrel? (PAN, 30. Dezember) in eine Reflexion von Klang und Körper, eine polymorph-hybride, maschinentiermenschliche Zukunft ergießt, die klüger und umsichtiger daherkommt als ungefähr jedes 800-seitige Buch über die Zukunft der Menschheit in Zeiten künstlicher Intelligenz. Für das multimediale Projekt von Evangelia Delipetkou Manazi stellt es demnach keinesfalls einen Widerspruch oder eine Spannung dar, sich für Naturschutz zu engagieren. Und Spandrel? ist natürlich einfach tolle Popmusik ohne Scheu vor großen Gesten.
Dass Post-Club einen Ausdruck von fluider Körperlichkeit und (vor allem innerer) Freiheit jenseits von geschlechtlichen Kategorien oder musikalischen Genres darstellt, ist eine Binse, die selbstredend wahr ist. Was das wirklich bedeutet, ist aber vermutlich in Zusammenhängen, die sich außerhalb enger Szenen in ein paar westlichen Metropolen abspielen, erst so richtig tief begreifbar.
In Kuwait etwa, wo der Produzent Van Boom lebt und arbeitet und in der Zeit der Pandemie die ausladende EP Prosthetics (Cease 2 Exist, bereits erschienen) und die nachfolgenden Prosthetics Remixes (Cease 2 Exist, 11. Januar) geschrieben hat, die einen beinahe tanzbaren Sound aus disruptiven Beats, Gabber- und Metal-Abstraktionen und korrosiven Industrial-Drones beschreiben, der einerseits einen als absolut gesetzten Außenseiter-Status in hyperkapitalistischer Umgebung markiert, andererseits aber eben genauso im Rahmen eines globalen Underground spielt. Der sich spielend leicht mit afrikanischen, asiatischen wie hiesigen Produzent:innen verbindet. Folgerichtig ist Van Boom dieses Jahr auf den einschlägigen Festivals zu hören, Ende Januar etwa beim CTM 2023 in Berlin.